Entscheidungsdatum
26.03.2020Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W139 2173410-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Migrantinnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird als unzulässig zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 13.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 13.10.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, er habe in Afghanistan als Assistent bei Gericht gearbeitet und sei von den Taliban aufgefordert worden, Gefangene freizulassen. Nachdem er dies verweigert habe, sei er von den Taliban bedroht worden, und er befürchte nun von den Taliban getötet zu werden.
3. Am 21.11.2016 legte der Beschwerdeführer Unterlagen über seine Integrationsbemühungen bei der belangten Behörde vor.
4. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 18.01.2017 wiederholte der Beschwerdeführer die im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte ergänzend im Wesentlichen aus, er habe in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und danach vier Jahre die Universität, wo er Sharia-Recht studiert habe. Zuletzt habe der Beschwerdeführer drei Jahre lang in XXXX , in XXXX im Gericht in der Verwaltung als Verwaltungsdirektor gearbeitet. Er habe dort die Ermittlungsergebnisse der Polizei und Staatsanwaltschaft mit Paragraphen und Gesetzestexten versehen, anhand derer die Richter zu einem Urteil kommen konnten. Dort habe es einen Akt eines Talibankämpfers gegeben, der zum Tod durch Erhängen verurteilt worden war. Der Beschwerdeführer habe einen Anruf von den Taliban erhalten, die ihn aufforderten, sie zu unterstützen, indem er die Todesstrafe auf eine Haftstrafe umändern solle. An einem Freitag sei der Beschwerdeführer dann von zwei Dorfältesten und dem Dorfvorsteher aufgesucht worden, da er der Bearbeiter des Aktes des Talibankämpfers namens XXXX , Sohn von XXXX , sei. Sie sagten dem Beschwerdeführer, sie seien vom ehemaligen Mullah (Mullah XXXX ) zu ihm geschickt worden. Der Beschwerdeführer habe die Männer daraufhin gefragt, ob sie mit jener Person, die den Beschwerdeführer am Montag angerufen habe, in Verbindung stehen. Dies sei von den Männern verneint worden. Diese Männer haben von dem Beschwerdeführer verlangt, mit den Richtern zu sprechen, damit das Urteil geändert werde. Sie haben ihm auch Geld dafür angeboten. Der Beschwerdeführer habe aber die Forderung abgelehnt, da der verurteilte Taliban ein Verbrechen begangen habe, und das Urteil bereits rechtskräftig gewesen sei. Der verurteilte Taliban habe nämlich gestanden, etwas mit dem Attentat auf die Leiterin des Präsidiums für Frauenangelegenheiten in XXXX zu tun gehabt zu haben, sowie den Sicherheitsleiter des Distrikts XXXX durch eine Bombe auf der Straße getötet zu haben. Nach dem Besuch dieser drei Männer sei der Beschwerdeführer zur örtlichen Polizei gegangen und habe dort von dem Anruf und dem Besuch der Männer, sowie von der Forderung, die ihm gestellt worden sei, erzählt. Ein Polizist habe dem Beschwerdeführer seine Nummer gegeben, sodass er ihn jederzeit anrufen könne.
Eines Nachts, gegen ein Uhr, habe es dann an dem Tor des Beschwerdeführers geklopft. Er sei zur Tür gegangen und habe gefragt wer es sei, als Antwort jedoch lediglich die Aufforderung bekommen, die Türe zu öffnen. Daraufhin habe der Beschwerdeführer die Polizei angerufen und im Garten geschrien, Diebe würden ihn überfallen. Seine Nachbarn seien aus ihren Häusern in ihre Gärten gekommen und haben gefragt was los sei. Währenddessen haben die Taliban versucht, das Tor aufzubrechen und plötzlich habe der Beschwerdeführer Schüsse gehört. Am Gefecht seien die örtliche Polizei, unter der Führung ihres Kommandanten, und die Männer, die in das Haus des Beschwerdeführers eindringen wollten, beteiligt gewesen. Das Gefecht vor seiner Haustür habe ca. zehn Minuten gedauert. Danach habe er erneut den Polizisten angerufen und gefragt, wer die Leute seien. Der antwortete, es seien bewaffnete Männer gewesen, vermutlich die Taliban, sie haben Paschtu gesprochen. Der Kommandant habe dem Beschwerdeführer daraufhin gesagt, die Täter seien geflüchtet und er solle nicht schlafen gehen, sondern die Polizei anrufen, wenn die Männer noch einmal kämen. Der Beschwerdeführer sei dann nicht schlafen gegangen. In der Früh seien die Cousins seines Vaters zu ihm gekommen, und auch sein Onkel mütterlicherseits habe von dem Vorfall erfahren und sei gekommen. Ca. einhundert bis zweihundert Meter von seinem Haustor entfernt sei eine Blutspur zu sehen gewesen. Der Beschwerdeführer habe den Kommandanten gefragt, ob jemand von ihnen verletzt worden sei. Dieser habe verneint. Im Laufe des Vormittags habe der Dorfvorsteher die Nachricht bekommen, dass ein Mann der Taliban verstorben wäre. Nach kurzer Zeit habe sich diese Nachricht im ganzen Dorf verbreitet. Auch der Onkel des Beschwerdeführers habe es erfahren. Die Mutter des Beschwerdeführers habe ihn daraufhin aufgefordert, nach Kabul zu flüchten, weil er im Heimatdorf nicht mehr sicher sei. In Kabul habe er drei Nächte im Haus eines ehemaligen Schulkollegen verbracht. Dann habe er einen Anruf vom Sohn seines Onkels mütterlicherseits erhalten. Dieser habe dem Beschwerdeführer erzählt, bewaffnete Männer hätten seinen Vater, also den Onkel des Beschwerdeführers entführt, als dieser von der Moschee nach Hause gehen wollte. Der Onkel des Beschwerdeführers sei von den Taliban entführt worden, da der Beschwerdeführer ein sehr gutes Verhältnis zu ihm habe - zumal er gleichzeitig auch sein Schwiegervater sei - und die Taliban über den Onkel an den Beschwerdeführer herankommen wollten. Der Beschwerdeführer habe Angst gehabt, und sich daher am darauffolgenden Dienstag zwischen zehn und elf Uhr vormittags auf den Weg nach Pakistan gemacht. Der Beschwerdeführer sei zum ersten Mal in Pakistan gewesen, die Verwandten seines Schulkollegen XXXX , haben ihn unterstützt, ein Hotel zu finden in dem der Beschwerdeführer ca. drei Monate gelebt habe. Der Beschwerdeführer habe seinen Cousin angerufen, der ihm gesagt habe, dass dessen Vater nach ca. 20-25 Tagen von den Taliban freigelassen worden wäre. Dann habe der Beschwerdeführer auch mit seinem Onkel gesprochen. Der Onkel habe erzählt, man habe ihn in die Berge gebracht, und in einem Kellerraum eingesperrt. Der Beschwerdeführer habe vermutet, dieser Ort läge im Distrikt XXXX , da es dort gebirgig sei. Der Onkel habe gesagt, dass die Taliban gedroht hätten, den Beschwerdeführer sofort zu töten, wenn sie ihn fassen würden, und für den Fall, dass sie ihn zu Hause finden, würden sie das Haus des Beschwerdeführers niederbrennen. Sie haben den Onkel des Beschwerdeführers aufgefordert, den Beschwerdeführer zu finden. Aus diesem Grund habe der Onkel ihm gesagt, dass er nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren könne. Wenn der Beschwerdeführer in Afghanistan bei Verwandten oder Freunden gefunden werden sollte, dann würden die Taliban seinen Onkel dafür bestrafen. Die Ältesten und der Dorfvorsteher hätten mit den Taliban verhandelt und gebeten, den Onkel freizulassen, weil er alt, nur ein Bauer, und unschuldig sei, der Beschwerdeführer, der Schwiegersohn jedoch sei schuldig. In Pakistan habe der Beschwerdeführer dann eine Bleibe finden wollen und seine Familie nachholen, er sei aber mehrmals von der Polizei wegen seines illegalen Aufenthaltes festgenommen worden und habe nur gegen Geld freikommen können. Es sei für ihn nicht möglich gewesen, ein Leben in Pakistan aufzubauen, daher habe der Beschwerdeführer von zu Hause Geld begehrt und sei nach Europa geflüchtet.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom XXXX , der dem Beschwerdeführer am 26.09.2017 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
6. Mit Verfahrensanordnung vom 20.09.2017 wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
7. Am 10.10.2017 brachte der Beschwerdeführer - fristgerecht - Beschwerde gegen den genannten Bescheid ein. Er beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Aufhebung des angefochtenen Bescheides und die Zurückverweisung, die Gewährung der aufschiebenden Wirkung, einen Sachverständigen zur Lage in Afghanistan zu bestellen,die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in eventu die Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, in eventu die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, sowie in eventu die Feststellung, dass die Abschiebung unzulässig ist.
8. Mit am 17.07.2018, 05.11.2018 und 14.03.2019 eingelangten Schreiben legte der Beschwerdeführer Unterlagen über seine Integrationsbemühungen vor.
9. Mit am 02.05.2019 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer einen Drohbrief in Kopie sowie eine beglaubigte Übersetzung des Briefes vor. Am 18.06.2019 langte der Drohbrief im Original ein.
10. Am 11.09.2019 langte ein Unterstützungsschreiben, am 18.09.2019 eine Arbeitsbewilligung und am 07.10.2019 das Ersuchen um Durchführung einer mündlichen Verhandlung ein.
11. Am 25.02.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern. Drei Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers waren bei der Verhandlung anwesend. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Arbeitsbestätigung, Bestätigungen über diverse ehrenamtliche Mitarbeit, diverse Unterstützungsschreiben, eine Einstellungszusage, diverse Kursbestätigungen).
Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer u.a. ausführlich zu seiner Identität und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Leben in Afghanistan und Pakistan, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und seinem Leben in Österreich befragt.
12. Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Stand 13.11.2019; Anfragebeantwortung der Staatendokumentationen zu Drohbriefen der Taliban vom 27.06.2018, ACCORD-Anfragebeantwortung vom 13.08.2018 und eine Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Drohbriefen der Taliban vom 14.11.2016, Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017) und verwies auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern Dezember 2016 und auf das Dossier der Staatendokumentation "Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur".
13. Mit Schreiben vom 05.03.2020 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan ein.
14. Mit Schreiben vom 05.03.2020 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme ein, und legte einen Ausbildungs-Plan für einen Kurs zum Rettungssanitäter, für den der Beschwerdeführer angemeldet ist, vor.
15. Nach Ersuchen des Bundesverwaltungsgerichtes übermittelte die belangte Behörde mit Schreiben vom 04.03.2020 diverse, dem Akt der belangten Behörde nicht beiliegende Beweismittel inkl. Übersetzungen, die am 06.03.2020 beim Bundesverwaltungsgericht einlangten (Tazkira, Notenspiegel des Studiums der Islamischen Rechtswissenschaften, Afghanischer Führerschein, Dienstausweis / Zutrittskarte, diverse Schreiben über die Aufnahme des Beschwerdeführers in ein Dienstverhältnis beim Gericht).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:
Aufgrund des Asylantrags vom 13.10.2015, der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 13.10.2015 und durch die belangte Behörde am 18.01.2017, der Beschwerde vom 10.10.2017 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom XXXX , der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, er beherrscht außerdem die Sprache Dari in Wort und Schrift und kann sich auf Deutsch verständigen. Er ist verheiratet, und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX im Bezirk XXXX , in der Provinz XXXX , wo er mit seiner Familie gelebt hat. Der Vater des Beschwerdeführers verstarb als der Beschwerdeführer ca. 13 Jahre alt war. Der Beschwerdeführer hat neben seiner Schwester, noch zwei ältere Brüder, zu denen er keinen Kontakt hat. Einer lebt in Pakistan, der andere in Amerika. Er lebte zuletzt gemeinsam mit seiner Ehefrau, seiner Mutter und seiner Schwester in einem Haus in seinem Heimatdorf. Als der Beschwerdeführer Afghanistan verließ, zogen seine Ehefrau, seine Mutter und seine Schwester zu seinem Onkel mütterlicherseits, der gleichzeitig auch sein Schwiegervater ist, und der im selben Dorf gelebt hat. Seine Familie lebt von der Landwirtschaft.
Der Beschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang die Schule in der Provinz XXXX . Nachdem er etwa zweieinhalb Jahre gearbeitet hatte, wurde er im Zeitraum vom 21.03.2007 bis 19.03.2008 (1386 nach dem afghanischen Hijri Shamsi-Sonnenkalender) an der Universität in XXXX aufgenommen, wo er vier Jahre lang Islamische Rechtswissenschaften studierte, und das Studium abschloss. Nachdem er im Jahr 2011 ein Praktikum im Afghanischen Parlament absolviert hatte, arbeitete er drei Jahre lang am Gericht in der Stadt XXXX , in der Provinz XXXX .
Der Beschwerdeführer war als Schriftführer und juristischer Berater am Gericht für drei Richter tätig. Er wurde in allen Verfahren, bei denen er mitgearbeitet hat, namentlich erwähnt. Rund zwei Wochen vor der Flucht des Beschwerdeführers wurde vom Gericht ein Urteil über einen Führer der Taliban, XXXX , Sohn des XXXX , gefällt, welches diesen zum Tode verurteilte. Das Urteil wurde aufgrund verschiedener getätigter Angriffe, wie dem Mord an XXXX - Vorsitzende der Frauenkommission der Provinz XXXX - durch den Verurteilten, gefällt.
An einem Montag, nachdem das Urteil gefällt worden war, erhielt der Beschwerdeführer einen Anruf von einer Person, die angab, von den Islamischen Emiraten zu sein. Der Anrufer forderte vom Beschwerdeführer, das Urteil über den bezeichneten Talibanführer rückgängig zu machen bzw abzuändern. Der Beschwerdeführer antwortete, dass der Verurteilte ein Verbrechen begangen und die Taten gestanden habe und eine Abänderung des rechtskräftigen Urteils nicht möglich sei, woraufhin der Beschwerdeführer am Telefon beschimpft und als ungläubig bezeichnet wurde.
Am darauffolgenden Freitag wurde der Beschwerdeführer vom Dorfvorsteher und zwei - dem Beschwerdeführer unbekannten Männern - zu Hause aufgesucht. Sie gaben an, dass sie von den Taliban, konkret von Mullah XXXX , dem Mullah des Dorfes, geschickt worden seien, damit der Beschwerdeführer dafür sorge, das Urteil über den Taliban Führer rückgängig zu machen oder die Todesstrafe in eine andere Strafart umzuwandeln. Hierfür wurde dem Beschwerdeführer auch Geld angeboten. Neuerlich lehnte der Beschwerdeführer eine Kooperation mit den Taliban ab und begründete dies damit, dass das nicht möglich sei, das Urteil in Rechtskraft erwachsen sei und der Verurteilte Verbrechen begangen habe und sich somit gegen die Regierung, die Gesetze und Recht und Ordnung widersetzt habe und daher nach den Gesetzen bestraft werden müsse. Einen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Telefonanruf verneinten die Männer.
Durch das Aufsuchen der Männer verängstigt wandte sich der Beschwerdeführer an die lokale Polizei bzw örtliche Miliz, die "Arbaki" (siehe hierzu ACCORD (22.06.2017): Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Arbaki-Milizen). In derselben Nacht wurde durch die Taliban versucht, in das Haus des Beschwerdeführers gewaltsam einzudringen, der Beschwerdeführer wurde bedroht und beschimpft. Der Beschwerdeführer kontaktierte erneut die örtliche Polizei und nahm im Keller seines Nachbarn, dem Cousin des Vaters des Beschwerdeführers, Unterschlupf. Die Arbaki und die Angreifer (die Taliban) leiferten sich sodann vor dem Haus des Beschwerdeführers ein Gefecht, es kam zu einem Schusswechsel. Nach etwa 20 Minuten folgte ein weiteres Telefongespräch mit der lokalen Polizei, bei dem abgeklärt wurde, ob es dem Beschwerdeführer und seiner Familie gut gehe.
Am nächsten Morgen wurde in der Nähe des Hauses des Beschwerdeführers eine Blutspur entdeckt, woraufhin sich der Beschwerdeführer erneut mit dem Kommandanten der örtlichen Polizei in Verbindung setzte und sich danach erkundigte, ob jemand von der Polizei verletzt worden sei. Dieser verneinte und gab an, dass wohl einer der Talibankämpfer verletzt wurde, und dass dies für das Leben des Beschwerdeführers und auch für die Polizei eine große Bedrohung darstellen würde. Der Dorfvorsteher bestätigte, dass ein Mann der Taliban beim Gefecht verstorben war. Im Laufe des Vormittags war das gesamte Dorf über den Vorfall informiert. Der Onkel mütterlicherseits riet dem Beschwerdeführer darauf hin, das Dorf zu verlassen, was der Beschwerdeführer noch am selben Tag tat.
In Kabul verbrachte der Beschwerdeführer drei Tage bei einem ehemaligen Schulkammeraden namens XXXX . Dort erfuhr er von seinem Cousin, dass sein Onkel mütterlicherseits von den Taliban mitgenommen wurde. Der Beschwerdeführer verließ sodann Afghanistan und ging nach Pakistan. In Pakistan nahm er erneut Kontakt mit seinem Cousin mütterlicherseits auf. Von ihm erfuhr er, dass sein Onkel von den Taliban nach etwa 20 Tagen freigelassen worden sei, allerdings nur, weil der Dorfvorsteher darum gebeten habe, und weil der Onkel von den Taliban aufgefordert worden sei, den Beschwerdeführer zu finden. Die Taliban drohten den Beschwerdeführer zu töten, wenn sie ihn fassen sollten und den Onkel zu bestrafen, wenn er dem Beschwerdeführer Unterschlupf bieten würde.
Der Beschwerdeführer ist nunmehr seit Oktober 2015 in Österreich aufhältig. Am 13.10.2015 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Frühjahr 2019 übermittelte der genannte Freund des Beschwerdeführers, XXXX , bzw dessen Bruder dem Beschwerdeführer einen gegen den Beschwerdeführer gerichteten Drohbrief der Taliban, welcher dem Vater des Schulkollegen, einem der Dorfältesten im Heimatdorf des Beschwerdeführers, in dessen Funktion als Dorfältester zur Kenntnis gelangt sei. In diesem Drohbrief wird ausgeführt, dass der Beschwerdführer aufgrund seiner Tätigkeit beim Gericht verfolgt werde. Weiters werden die Dorfältesten aufgefordert, bei der Festnahme des Beschwerdeführers mitzuwirken, damit seine Taten bestraft würden und dies Anderen als abschreckendes Beispiel diene. Ob dieser Drohbrief in der Moschee des Heimatdorfes des Beschwerdeführers verlesen wurde, konnte der Beschwerdeführer nicht mit Sicherheit angeben.
Nach der Flucht des Beschwerdeführers aus Afghanistan wurden sein Onkel und seine Brüder mehrmals von den Taliban bedroht, und es wurde nach dem Beschwerdeführer gefragt. Aus diesem Grund zog die Familie des Beschwerdeführers in ein anderes Dorf, in der Provinz XXXX , und seine Brüder verließen Afghanistan.
Der Beschwerdeführer befürchtet, im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan - aufgrund der Drohungen der Taliban gegen ihn, und der Präsenz der Taliban in seinem Heimatdorf sowie im restlichen Afghanistan, verfolgt zu werden.
Es muss davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für das Gericht in XXXX eine politische Gesinnung gegen die Zielsetzungen der Taliban zugeschrieben wird, zumal er den Aufforderungen der Taliban, mit ihnen zu kooperieren, nicht nachgekommen ist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt zu sein. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in seinem Heimatland hinreichend vor diesen Bedrohungen durch die Taliban zu schützen.
Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
a. Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019
b. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018
c. ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018
d. Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Afghanistan: Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen auf Mitarbeitende der Regierung, ausländischer Firmen und internationaler Streitkräfte; Drohbriefe; Rekrutierung; psychische Erkrankungen, vom 14.11.2016
e. Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne", vom 23.08.2017
a. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019:
1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
Bild kann nicht dargestellt werden
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)