TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/15 G314 2227732-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.05.2020
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Entscheidungsdatum

15.05.2020

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76

Spruch

G314 2227732-5/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER im Verfahren zur Überprüfung der Anhaltung des algerischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , in Schubhaft zu Recht:

A)       Es wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht verhältnismäßig ist.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

XXXX (im Folgenden als Beschwerdeführer, kurz BF, bezeichnet) wird seit XXXX 09.2019 im XXXX in Schubhaft angehalten.

Am XXXX 05.2020 langte bei Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein E-Mail des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit folgendem Inhalt ein: „Sehr geehrte Damen und Herren, anbei wird die 5. Vorlage zur Verlängerung der Schubhaft gemäß § 76 Abs 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs 4 BFA-VG übermittelt. Anmerkung: Physischer Akt (DEF u. SIM) befinden sich bereits beim BVwG. Zeitraum: XXXX 05.2020 – XXXX 05.2020. Mit freundlichen Grüßen …“. Das BFA legte die Gründe, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig sei, nicht dar und legte keine Bestandteile von Verwaltungsakten vor.

Beim BVwG wurden den BF betreffende Auszüge aus der Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung des Bundesministeriums für Inneres, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und dem Strafregister erstellt und die Rechtssache der zuständigen Gerichtsabteilung G314 zugewiesen.

Feststellungen:

Der BF, der in Österreich auch unter anderen Identitäten als der im Kopf dieser Entscheidung angegebenen (z.B. XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Algerien) auftrat, beherrscht die arabische Sprache. Er ist volljährig; Einschränkungen seiner Haftfähigkeit sind nicht erkennbar.

Der am XXXX 06.2015 beim BFA eingebrachte Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde gemäß § 5 AsylG zurückgewiesen, weil Österreich dafür nicht zuständig sei; diese Entscheidung ist seit XXXX 12.2015 rechtskräftig.

Mit dem seit XXXX rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , wurde der BF wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung (§§ 15, 87 Abs 1 StGB), versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt (§ 269 Abs 1 dritter und vierter Fall StGB) sowie Diebstahls (§ 127 StGB) zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er (unter Berücksichtigung der Vorhaft) ab XXXX 05.2018 in der Justizanstalt XXXX und von XXXX 03.2019 bis zu seiner bedingten Entlassung am XXXX 09.2019 in der Justizanstalt XXXX verbüßte. Seither wird er im XXXX in Schubhaft angehalten.

Ein weiterer Antrag des BF auf internationalen Schutz, der am XXXX 08.2019 beim BFA eingebracht wurde, wurde mit einer seit XXXX 10.2019 rechtskräftigen Entscheidung sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass ihm kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG erteilt werde, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung festgestellt und gemäß § 53 Abs 3 Z 1 FPG ein zehnjähriges Einreiseverbot erlassen.

Am 30.10.2019 leitete das BFA ein Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikats für den BF ein. Der Stand dieses Verfahrens ist unbekannt. Es kann nicht festgestellt werden, ob mittlerweile ein (Ersatz-)Reisedokument für den BF vorliegt, ob die Ausstellung eines Heimreisezertifikats zu erwarten ist und wenn ja, bis wann. Es ist nicht bekannt, welche Aktivitäten das BFA entfaltet hat, damit für den BF ein Heimreisezertifikat ausgestellt wird.

Es kann nicht festgestellt werden, ob der BF bereit ist, auszureisen und ob, gegebenenfalls welche, familiären oder sonstigen sozialen Bindungen er im Bundesgebiet hat.

Im Rahmen der amtswegigen Überprüfung der Anhaltung des BF in Schubhaft wurde zuletzt mit dem Erkenntnis des BVwG vom XXXX 04.2020 (ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung) festgestellt, dass im Entscheidungszeitpunkt die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlagen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig war.

Zur Eindämmung der aktuellen Corona-Pandemie (COVID-19) wurde der reguläre Flugbetrieb zwischen Algerien und Europa am 17.03.2020 eingestellt und soll voraussichtlich Ende Mai 2020 wieder aufgenommen werden. Mit der Wiederaufnahme des Flugbetriebs nach Wien ist frühestens Anfang Juli zu rechnen. In Algerien wurde ein bis vorerst 31.05.2020 befristetes Ausgangs- und Versammlungsverbot für die Zeit zwischen 17 Uhr und 7 Uhr morgens erlassen. Reisen nach Algerien werden vom Bundesministerium für Europäische und internationale Angelegenheiten als hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 4) eingestuft; von nicht unbedingt notwendigen Reisen in das Land wird abgeraten (vgl. https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-situation-in algerien.html#heading_Einreise_und_Reisebestimmungen und https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/algerien/; Zugriff jeweils am 14.05.2020).

Der Einreisestopp an den EU-Außengrenzen soll noch mindestens bis 15.06.2020 verlängert werden. Auch der internationale Flugverkehr unterliegt weiterhin starken Einschränkungen - viele Fluglinien haben ihren Betrieb bis 31.05.2020 fast komplett eingeschränkt, Austrian Airlines bis 08.06.2020 (siehe https://www.oeamtc.at/thema/reiseplanung/coronavirus-reiseinfos-36904404, Zugriff am 14.05.2020).

Beweiswürdigung:

Die Anhaltung des BF in Schubhaft ab XXXX 09.2019 ergibt sich aus der Anhaltedatei und lässt sich auch aus seiner Hauptwohnsitzmeldung im Anhaltezentrum Vordernberg laut ZMR ableiten.

Die vom BF verwendeten Identitäten gehen aus der Anhaltedatei und dem Strafregister hervor. Seine Sprachkenntnisse sind in der Anhaltedatei dokumentiert und angesichts seiner Herkunft plausibel. Aus keiner der im IZR gespeicherten Informationen ergibt sich, dass der BF allenfalls minderjährig sein könnte. Informationen über seine Haftfähigkeit oder über gesundheitliche Probleme sind nicht aktenkundig. Da aus der Anhaltedatei regelmäßige ärztliche Kontrollen hervorgehen (zuletzt am 09.05.2020), ohne dass der BF enthaftet worden wäre, ist davon auszugehen, dass er nach wie vor haftfähig ist.

Die Feststellungen zu den beiden Anträgen des BF auf internationalen Schutz und zum Ausgang der Asylverfahren werden anhand der entsprechenden Eintragungen im IZR getroffen.

Die strafgerichtliche Verurteilung des BF wird anhand des Strafregisterauszugs festgestellt, aus dem sich auch seine bedingte Entlassung ergibt. Die Feststellungen zum Vollzug der Freiheitsstrafe basieren auf der Wohnsitzmeldung des BF in den Justizanstalten XXXX laut ZMR.

Die Einleitung eines Verfahrens zur Erlangung eines Heimreisezertifikats für den BF ergibt sich aus dem IZR. Es liegen keine Informationen zum Stand dieses Verfahrens oder zu den vom BFA in diesem Zusammenhang entfalteten Aktivitäten vor, ebensowenig zur Ausreisebereitschaft des BF. Gegen eine maßgebliche soziale Verankerung des BF in Österreich spricht, dass gegen ihn erst vor kurzem eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot erlassen wurde; weitere Informationen dazu liegen nicht vor.

Der Ausgang der letzten amtswegigen Schubhaftprüfung durch das BVwG ist im IZR dokumentiert.

Die Feststellungen zu den aktuellen Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Corona-Pandemie basieren auf übereinstimmenden Medienberichten und den dazu erlassenen Vorschriften. Beispielhaft wird in diesem Zusammenhang auf die angegebenen Websites verlässlicher Stellen verwiesen.

Rechtliche Beurteilung

Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist gemäß § 22a Abs 4 BFA-VG die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom BVwG zu überprüfen. Das BFA hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem BVwG eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das BFA hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das BVwG hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist.

Für die Rechtmäßigkeit die Schubhaft ist es notwendig, dass die Aussicht besteht, dass innerhalb der zulässigen Schubhafthöchstdauer ein Heimreisezertifikat für den BF erlangt werden kann (siehe VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0348).

Das BFA ist hier den in § 22a Abs 4 Satz 2 und Satz 4 BFA-VG normierten Vorgaben nicht nachgekommen. Verwaltungsakten, die dem BVwG eine fundierte Überprüfung der Aufrechterhaltung der Schubhaft innerhalb der dafür vorgegebenen Wochenfrist ermöglicht hätten, wurden nicht vorgelegt, obwohl die Behörde gemäß § 22a Abs 4 Satz 2 BFA-VG iVm § 14 Abs 2 VwGVG verpflichtet gewesen wäre, dem BVwG die entscheidungswesentlichen Akten des Verwaltungsverfahrens vollständig vorzulegen (und nicht bloß auf frühere vorgelegte Akten zu verweisen). Außerdem hat das BFA entgegen § 22a Abs 4 Satz 4 BFA-VG nicht dargelegt, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft weiterhin notwendig und verhältnismäßig ist. Insbesondere wurde nicht erläutert, ob und aus welchen Gründen davon auszugehen ist, dass für den BF in absehbarer Zeit ein Ersatzreisedokument ausgestellt und seine Abschiebung dann (insbesondere auch vor dem Hintergrund der weltweiten Reisebeschränkungen angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie) tatsächlich durchgeführt werden kann. Das lapidare E-Mail vom 14.05.2020 kann die in § 22a Abs 4 Satz 4 BFA-VG verlangte Stellungnahme des BFA nicht ersetzen, zumal dem BVwG eine aktuelle Entscheidungsgrundlage für die Schubhaftüberprüfung fehlt.

Die über den BF verhängte Schubhaft war bis zur Entscheidung des BVwG vom XXXX 04.2020 rechtmäßig und verhältnismäßig. Die Entwicklung seither ist unbekannt. Weder kann eingeschätzt werden, ob beim BF nach wie vor Fluchtgefahr besteht, noch, ob begründete Aussicht auf die Ausstellung eines Heimreisezertifikats besteht und die Abschiebung danach zeitnah bewerkstelligt werden kann. Es kann auch nicht beurteilt werden, ob der Zweck der Schubhaft nunmehr allenfalls durch ein gelinderes Mittel erreicht werden kann. Da das Interesse des BF am Schutz seiner persönlichen Freiheit umso schwerer wiegt, je länger die Schubhaft andauert, und er derzeit bereits deutlich länger als sechs Monate in Schubhaft angehalten wird, ist ohne zusätzliche Informationen davon auszugehen, dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft jetzt nicht mehr verhältnismäßig ist und die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, obwohl wegen der Straffälligkeit des BF das Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besonders groß ist, zumal nicht absehbar ist, ob bzw. bis wann seine Abschiebung tatsächlich durchgeführt werden kann.

Eine Verhandlung unterbleibt gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG iVm § 24 Abs 4 VwGVG, weil der für die Schubhaftprüfung relevante Sachverhalt aus der Aktenlage geklärt werden konnte. Da das BFA bei der Einleitung des Verfahrens zur Schubhaftprüfung weder Verwaltungsakten vorlegte noch eine begründete Stellungnahme zur Fortsetzung der Schubhaft erstattete, ist das BVwG nicht gehalten, eine Verhandlung durchzuführen, damit dies nachgeholt werden kann. Anhand der vorhandenen Informationen ist nicht davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit mit der Ausstellung eines Heimreisezertifikats für den BF zu rechnen ist und er tatsächlich abgeschoben werden kann.

Die Revision ist zuzulassen, weil (soweit überblickbar) keine Rechtsprechung des VwGH zu der Frage vorliegt, welche Konsequenzen eine Verletzung der in § 22a Abs 4 Satz 2 und 4 BFA-VG festgelegten Vorgaben an das BFA im Zusammenhang mit der Einleitung des Verfahrens zur amtswegigen Schubhaftprüfung (Vorlage der Verwaltungsakten an das BVwG, Darlegung der Gründe, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist) hat.

Schlagworte

gelinderes Mittel Interessenabwägung Pandemie Schubhaft Schubhaftbeschwerde unverhältnismäßige Verlängerung Voraussetzungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2227732.5.00

Im RIS seit

21.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

21.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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