TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/2 W191 2204906-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.06.2020
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Entscheidungsdatum

02.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §15b
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W191 2204906-1/34E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.08.2018, Zahl 1123117508-161006392, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.05.2020 zu Recht (Teilerkenntnis):

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis V. und VIII. bis IX. wird gemäß §§ 3, 8, 10, 13, 15b und 57 Asylgesetz 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird insoweit stattgegeben, als die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 2 und 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 13 Wochen beträgt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der (damals minderjährige) Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit zwei Landsleuten irregulär und schlepperunterstützt nach Österreich ein und wurde am 19.07.2016 bei einer fremdenrechtlichen Kontrolle in 2424 Zurndorf (Burgenland) aufgegriffen und mangels eines Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 04.07.2016 anlässlich der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.2. In seiner Erstbefragung am 19.07.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu gab der BF im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus Kabul, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er sei schlepperorganisiert vor ca. zwei Monaten ausgereist und über Iran, Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gelangt. Die Reise habe sein Onkel organisiert und finanziert, die Kosten hätten 8.000 US-Dollar betragen, sein Zielland sei Deutschland gewesen. Seine Mutter und drei jüngere Geschwister (zwei Brüder, eine Schwester) würden noch zuhause leben.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass bei ihnen Krieg herrsche und er keine Ausbildung machen könne; außerdem sei sein Vater verstorben und er hätte seine Familie ernähren müssen.

Als Geburtsdatum wurde nach den Angaben des BF der XXXX festgehalten.

1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte aufgrund des EURODAC-Treffers und der Reiseangaben des BF Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen betreffend die Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF mit dem Mitgliedstaat Ungarn, die negativ verliefen.

1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter und veranlasste eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung.

Dem Gutachten vom 15.10.2016 nach Untersuchung am 04.10.2016 zufolge ergab sich aus dem festgestellten Mindestalter ein "fiktives" Geburtsdatum XXXX und wurde die angegebene Minderjährigkeit des BF zum Zeitpunkt der Antragstellung bestätigt.

Das BFA erließ am 15.11.2016 eine Verfahrensanordnung (ohne nachweisliche Ausfolgung an den BF), in der festgestellt wurde, dass der BF "spätestens am XXXX geboren" worden sei und u.a. ausgeführt wurde:

"[...] Die Angaben zu Ihrem Geburtsdatum, nämlich dass Sie am XXXX geboren worden wären, können dem gerichtsmedizinischem Gutachten der AG-Linz zur Folge nicht belegt werden. Sie sind dem Gutachten nach spätestens am XXXX geboren. [...]"

Entgegen diesen - wenn auch kaum nachvollziehbaren - Ausführungen wurde dem weiteren Verwaltungsverfahren das Geburtsdatum XXXX zugrunde gelegt.

1.5. Laut Mitteilung des Landes Burgenland vom 26.01.2016 wurde der BF wegen Verletzung von Verhaltensregeln in der Grundversorgungsunterkunft ("massive Störung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit in der Unterkunft durch ang. provokatives Verhalten gegenüber den Betreuungspersonen, Nichteinhalten der Hausordnungsregeln generell") letztmalig verwarnt.

1.6. Mit Verfahrensordnung vom 28.03.2018 teilte das BFA dem BF mit, dass er wegen Straffälligkeit (§ 2 Abs. 3 AsylG) [Anmerkung: Suchtmitteldelikt] sein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verloren habe.

1.7. Mit Verfahrensordnung vom 28.03.2018 wurde dem BF mitgeteilt, dass er ab sofort in seinem namentlich angeführten Quartier durchgehend Unterkunft zu nehmen und jedenfalls zu den Nachtstunden von 22 bis 06 Uhr anwesend zu sein habe.

Über beide Verfahrensanordnungen werde das Bundesamt im verfahrensabschließenden Bescheid absprechen.

1.8. Der BF wurde am 28.03.2018 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, niederschriftlich einvernommen.

Er bestätigte seine Angaben zu seiner Person, stamme jedoch aus der Provinz Baghlan und sei erst im Alter von zwölf Jahren mit seiner Familie nach Kabul gezogen. In Österreich habe er anfangs psychische Probleme mit Schlafstörungen gehabt, sei drei Monate lang in Behandlung gewesen und habe Medikamente bekommen. Jetzt gehe es ihm wieder gut. In Afghanistan sei er am rechten Fußgelenk operiert worden. In Afghanistan habe er Haschisch geraucht, aber jetzt nicht mehr. Seine Tazkira [Anmerkung: afghanisches Personaldokument] sei ihm in Bulgarien abgenommen worden. Seine Reise habe sein Stiefonkel XXXX , der Halbbruder seines verstorbenen Vaters, der in Jalalabad lebe, organisiert. Dieser besitze eine große Landwirtschaft in Kabul und Baghlan und in Jalalabad ein Haus.

Sein Onkel väterlicherseits XXXX habe seine Familie (Mutter und Geschwister) aus dem Haus in Kabul geworfen, sie lebe jetzt beim Bruder seiner Mutter.

Der BF gab an, er sei praktizierender Moslem, bete fünf Mal am Tag, esse kein Schweinefleisch und faste, trinke aber Alkohol.

Dem BF wurden einige Fragen zu seiner Integration in Österreich gestellt, auf die er teils irritierende Antworten gab (Frauen dürften nicht wählen, Österreich sei eine Diktatur).

Zu seinen Fluchtgründen befragt erzählte der BF zunächst ausführlich über den Tod seines Vaters, der bei der Grenzpolizei tätig gewesen sei und von den Taliban bei einem Anschlag durch eine Bombe auf der Straße getötet worden sei. In der Folge gab er an, dass sich der Bruder des Vaters nach dessen Tod zunächst gut benommen, dann aber begonnen hätte, die Familie zu terrorisieren, zu bedrohen und zu schlagen, damit ihm das Erbe (Grundstücke und das Haus in Kabul) überschrieben werde. Der BF als Erbe seines Vaters habe auf Zwang - zwei bewaffnete Männer seien in der Nacht bei ihnen eingedrungen, der Mullah und die Polizei hätte ihnen nicht geholfen - die Abtretung unterschrieben und sei auf Bitte seiner Mutter ins Ausland geflohen.

Auf Vorhalt seiner disziplinären und strafrechtlichen Verstöße gab der BF vor, dass er nichts Unrechtes getan hätte.

Auf eine Ausfolgung der "Feststellungen des Bundesamtes" zur Lage in seiner Heimat zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme verzichtete der BF.

Der BF legte Belege in Kopie vor. Der amtlich veranlassten Übersetzung zufolge handelt es sich dabei um Schriftstücke betreffend seinen Vater (Beruf, Bedrohung, Kaufverträge, Testament und den Tod seines Vaters).

Belege zu seiner Gesundheit aus dem Jahr 2016 reichte der BF über Aufforderung nach.

1.9. Mit Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 07.03.2018, 11 Hv 7/17b, wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a Suchtmittelgesetz (SMG) und § 19 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, die unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.10. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 01.08.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.07.2016 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

In Spruchpunkt VII. wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 17 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. In Spruchpunkt VIII. wurde dem BF gemäß § 15b Abs. 1 AsylG aufgetragen, ab 28.03.2018 in einem genannten Quartier Unterkunft zu nehmen. In Spruchpunkt IX. wurde ausgesprochen, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 07.03.2018 verloren habe.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen bewertete das BFA aufgrund von vagen, unplausiblen und widersprüchlichen Angaben als unglaubhaft, zumal die vorgebrachte Verfolgung durch Familienangehörige (Private) auch nicht asylrelevant wäre.

Der BF sei ein gesunder junger Mann und könne "an jeden beliebigen Ort in Afghanistan", etwa nach Kabul, zurückkehren.

Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde begründete das BFA - ohne nähere Ausführung dazu - damit, dass schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen würden, dass der BF eine Gefahr für die öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstelle (§ 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG).

Die aufgetragene Unterkunftnahme (Spruchpunkt VIII.) gründete das BFA darauf, dass der BF aufgrund seines bisherigen Verhaltens die öffentlichen Interessen sowie die öffentliche Ordnung gefährde. Er sei in der Vergangenheit mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten und habe gezeigt, dass er nicht gewillt sei, sich an bestehende Regeln und Gesetze zu halten.

In diesem Spruchpunkt wie auch im Spruchpunkt IX. (Verlust des Aufenthaltsrechts) wurde den gesetzlichen Regelungen zufolge in dem das Verfahren abschließenden Bescheid entsprechend den im Verfahren erlassenen Verfahrensanordnungen abschließend abgesprochen.

1.11. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 28.08.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Die Beschwerde wendet sich zwar gegen den Bescheid in seiner Gänze, in der Beschwerdebegründung wurden in concreto jedoch nur die Bescheidpunkte I. bis VII. kritisiert. Die Behörde habe es unterlassen, den Sachverhalt im Hinblick auf das Fluchtvorbringen Ehrverletzung, Blutrache bzw. Blutfehde - Asylgewährung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - hinreichend zu ermitteln bzw. zu würdigen. Dazu wurde aus Berichten und Judikaten zitiert. Der BF würde zudem bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Situation geraten, sodass ihm jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren wäre.

Es wurde unter anderem beantragt, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

1.12. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.13. Mit Teilerkenntnis vom 10.09.2018, W157 2204906-1/3Z, wurde Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben und der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das BVwG die in § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG normierte Voraussetzung, dass "schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt", angesichts der festgestellten einmaligen Delinquenz des BF im Suchtgiftbereich nicht als verwirklicht ansehe. Er habe ein Vergehen - kein Verbrechen - begangen und sei zum Tatzeitpunkt unter 21 Lebensjahren und somit strafrechtlich ein "junger Erwachsener" gewesen. Es sei somit davon auszugehen, dass die verhängte Strafe auf ihn größere spezialpräventive Auswirkungen habe als auf einen erwachsenen Straftäter. Er habe ein reumütiges Geständnis abgelegt. Aus dem [erst-] behördlichen Akt könne vor dem Hintergrund der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des BF und der diesbezüglichen möglichen Auswirkungen auf seine persönliche Situation eine Verletzung von Art. 2, 3 und 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bei einer Rückführung des BF in seinen Herkunftsstaat nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden.

1.14. Laut Mitteilung der Landespolizeidirektion Wien vom 19.10.2018 wurde der BF am 12.10.2018 bei der Staatsanwaltschaft wegen [des Verdachts der Begehung von] § 125 StGB (Strafgesetzbuch; Sachbeschädigung) angezeigt.

Laut Verdächtigenvernehmung vom 07.01.2019 hatte ein Landsmann des BF in dessen Beisein am 23.09.2018 am Westbahnhof in Wien mit einer zerschlagenen Bierflasche nach einem Streit mit einem Autofahrer dessen Seitenspiegel zerschlagen.

Laut "Abschluss - Bericht" der Landespolizeidirektion Wien vom 09.02.2019 wurde der BF nicht bei der Staatsanwaltschaft angezeigt.

1.15. Laut Schreiben der zuständigen Abteilung des Amtes der Burgenländischen Landesregierung vom 08.02.2019 wurde der BF wegen: "Verletzungen der Hausordnung lt. UKG, Massive Störung der Ruhe, Ordnung u. Sicherheit in der Unterkunft, Sachbeschädigung, Sonstiges Verhalten: ang. massive Drohungen gegenüber dem Unterkunftgeber" verwarnt und in ein anderes Quartier verlegt.

1.16. Laut Mitteilung der zuständigen Abteilung des Amtes der Burgenländischen Landesregierung hatte der BF die Unterkunft ohne Angabe von Gründen verlassen und wurde die Grundversorgung mit 16.03.2019 eingestellt und mit 26.03.2019 wieder aktiviert.

1.17. Wegen eines Vorfalls am 30.10.2018, als der BF den Eingangsbereich des Bahnhofs Praterstern in 1020 Wien trotz Aufforderung nicht freimachte, sondern dort absichtlich verharrte, sodass andere Passanten den Eingang nicht benutzen konnten, wurde über den BF mit Strafverfügung vom 31.10.2018, GZ VStV/918301601619/2018, gemäß § 81 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) eine Geldstrafe von 100 Euro verhängt.

1.18. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 18.11.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der vormals zuständigen Richterin abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung - hier eingelangt am 02.12.2019 - neu zugewiesen.

1.19. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.01.2020, 163 Hv 86, wurde der BF wegen des (teils) versuchten Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften am 07.12.2019 (Verkauf von Ecstasy im Bereich der Fußgängerbrücke bei der U-Bahnstation Spittelau in Wien) nach den §§ 27 Abs. 2a SMG und 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wovon ein Teil von fünf Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.20. Das BVwG führte am 04.05.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner gewillkürten Vertreterin erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an einer Beschwerdeverhandlung.

Auf richterliche Befragung bestätigte der BF im Wesentlichen sein Vorbringen aus der Einvernahme vor dem BFA bezüglich seiner persönlichen Verhältnisse, wenngleich er nunmehr angab, er sei nicht mit zwölf, sondern mit neun oder zehn Jahren nach Kabul gekommen und habe dort die Schule besucht. Bezüglich seiner Integration in Österreich machte der BF kein neues Vorbringen und legte keine Belege vor. Das erkennende Gericht stellte auch Fragen bezüglich der Wertehaltung und Einstellung des BF zur Gesellschaft. Die Antworten des BF ergaben keinen anderen Eindruck als schon bei seiner Einvernahme vor dem BFA (siehe dazu unten Beweiswürdigung Punkt 4.2.).

Bezüglich seines Fluchtvorbringens gab der BF an, dass der Onkel, dessentwegen er Afghanistan verlassen habe, vor ca. fünf Monaten seinen Bruder bei einem Streit mit einer Pistole erschossen hätte, als seine Familie (Mutter und Geschwister) wieder in ihr Haus in Kabul hätten ziehen wollen. Die Familie lebe nun wieder dort, der Onkel sei weggelaufen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei der BF nach den Regeln des Paschtunwali verpflichtet, den Tod seines Bruders zu rächen, weshalb ihm wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie asylrelevante Verfolgung drohe.

Auch bezüglich seines neuen - gesteigerten - Fluchtvorbringens legte der BF keine Beweismittel vor.

Der BF gab an, er telefoniere ca. einmal wöchentlich mit seiner Mutter.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Die Vertreterin des BF bezog sich in ihren Ausführungen im Wesentlichen auf die derzeitige Lage in Afghanistan betreffend die Bedrohungslage durch das Covid 19-Virus und brachte zusammengefasst vor, dass der BF bei einer Rückkehr in ein Land gelangen würde, dessen Gesundheitssystem diese Probleme nicht bewältigen könne und er daher in eine existenzgefährdende Lage geraten würde.

Auf ihre Frage an den BF, ob er in Herat oder Mazar-e Sharif leben könnte, sagte der BF: "Ich könnte überall leben, aber mein Onkel ist ein Familienangehöriger - er könnte mich überall in Afganistan ausfindig machen und töten. Zumal könnte ich nicht in Kabul leben, weil mein Bruder dort vor kurzem von meinem Onkel getötet worden ist. [...] Ich habe meinen Onkel bereits bei der Polizei angezeigt, aber es brachte mir nichts. Nach dem Tod meines Bruders hat ihn meine Mutter auch angezeigt, und die Polizei konnte nichts machen. Seit dem Tod meines Bruders sind fünf Monate vergangen. Bislang hat die Polizei nichts gemacht."

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.21. Nach Schluss der Verhandlung brachten beide Parteien (BF insbesondere hinsichtlich der Covid 19-Pandemie) noch ergänzende Stellungnahmen ein.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 19.07.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 28.03.2018, die Akteninhalte betreffend die Gesundheit und das strafrechtlich relevante Verhalten des BF und die Beschwerde vom 28.08.2018

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 398 bis 488)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 04.05.2020

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und über die medizinische Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)

o eine gutachterliche Stellungnahme von Mag. Zerka Malyar zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan sowie eine Schnellrecherche der SFH (Schweizerischen Flüchtlingshilfe) vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari, ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF stammt aus einem Dorf in der Provinz Baghlan. Er zog mit seiner Familie (Eltern und Geschwister) im Alter von zwölf Jahren (Angabe bei der Einvernahme vor dem BFA) bzw. neun oder zehn Jahren (Angabe vor dem BVwG) nach Kabul, wo er mehrere Jahre lang die Schule besuchte. Die Familie lebte dort in einem Haus, das in ihrem Eigentum stand.

3.1.2. Der BF verließ einige Jahre nach dem Tod seines Vaters aus angegebenen Gründen seinen Herkunftsstaat und reiste schlepperunterstützt bis nach Österreich, wo er am 19.07.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Der BF ist jung, gesund und im erwerbsfähigen Alter. Er hat einen großen Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht und ist mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut.

3.1.4. Der BF wurde in Österreich zweimal strafgerichtlich verurteilt und verbrachte zwei Monate in Strafhaft.

Mit Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 07.03.2018 wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 2a SMG und § 19 Abs. 1 JGG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, die unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 08.01.2020 wurde der BF wegen des (teils) versuchten Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften am 07.12.2019 nach den §§ 27 Abs. 2a SMG und 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, wovon ein Teil von fünf Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der BF wurde wiederholt wegen Verstößen gegen hausrechtliche Vorschriften in Grundversorgungseinrichtungen verwarnt, und wurde ihm mit Verfahrenanordnung vom 28.03.2018 die Unterkunftnahme in einem bestimmten Quartier aufgetragen.

Wegen verwaltungsstrafbaren Verhaltens im Eingangsbereich des Bahnhofs Praterstern in 1020 Wien am 30.10.2018 wurde gegen den BF mit Strafverfügung vom 31.10.2018 gemäß § 81 Abs. 1 SPG eine Geldstrafe von 100 Euro verhängt.

3.1.5. Der BF besuchte, solange er noch minderjährig war, Deutschkurse und versuchte - erfolglos - die Deutsch A1-Prüfung abzulegen. Seitdem zeigte er keine relevanten Integrationsbemühungen mehr.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat sein Vorbringen, dass er Afghanistan aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch seinen Onkel väterlicherseits wegen der Gefahr von Ehrverletzung/Blutrache/Blutfehde verlassen hätte (Vorbringen im erstbehördlichen Verfahren) sowie wegen des gesteigerten Vorbringens, dass diese Gefahr wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nun noch größer geworden sei, nachdem sein Onkel vor ca. fünf Monaten seinen Bruder erschossen hätte (Vorbringen vor dem BVwG), nicht glaubhaft gemacht.

Er hat sohin nicht glaubhaft gemacht, dass er im Herkunftsstaat begründete Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Gründen habe.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, insbesondere nach Kabul, wo er zuletzt gewohnt hat und wo sich nun auch seine Familie wieder aufhält, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF ist jung, im erwerbsfähigen Alter und männlich. Dass sein allgemeiner Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigt wäre, hat er im Verfahren weder behauptet noch belegt.

Es ist daher anzunehmen, dass der BF im Herkunftsstaat in der Lage sein wird, sich notfalls mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Auskommen zu sichern und daher nicht in eine hoffnungslose Lage zu kommen, zumal er über einige Jahre Schulbildung verfügt. Zudem leben mehrere - teils wohlhabende - Verwandte von ihm in Afghanistan, die ihn beim Aufbau einer Existenz finanziell unterstützen können.

Der BF kann von Österreich aus die Stadt Kabul sicher mit dem Flugzeug erreichen.

3.3.2. Die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 18.05.2020 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) - Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LW 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).

Berichten zufolge besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.02.20

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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