TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/18 I415 2156846-1

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Veröffentlicht am 18.06.2020
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Entscheidungsdatum

18.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §52
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I415 2156846-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes Lässer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch: Rechtsanwälte Dr. Peter Lechenauer, Dr. Margrit Swozil, Hubert-Sattler-Gasse 10, 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol vom 13.04.2017, Zl. XXXX ,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.06.2020, zu Recht erkannt:

A)


I. Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß § 54 Abs 1 Z 1, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 25.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu wurde er am 27.01.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe machte er im Wesentlichen geltend, in Nigeria der Gefahr der Verfolgung durch Mitglieder einer Kultgruppe und Todesdrohungen derselben ausgesetzt zu sein, da er nicht die Stelle seines verstorbenen Vaters als Anführer dieser Kultgruppe übernehmen habe wollen.

2.       Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) am 14.02.2017 wiederholte der BF sein bisheriges Fluchtvorbringen und präzisierte es unter anderem dahingehend, dass sein Vater im September 2014 verstorben sei und am Tag des Begräbnisses etwa 20 in Rot gekleidete Männer einer Kultgruppe das Begräbnis gestoppt, den Sarg genommen und diesen zu Grabe getragen hätten. Der Vater des BF sei der Anführer dieser Kultgruppe gewesen. Der BF sei eine Woche später von den Gruppenmitgliedern darüber aufgeklärt worden, dass er als dessen erstgeborener Sohn aufgrund einer Vereinbarung die Position des Vaters übernehmen müsse. Der BF habe aufgrund seines christlichen Glaubens abgelehnt. Nach einer weiteren Woche seien noch einmal drei Personen zu ihm gekommen und hätten ihm erklärt, er müsse die Position übernehmen, sollte er ablehnen würde er getötet werden. Schließlich sei er noch ein weiteres Mal bedroht worden, dabei sei der BF aber nicht persönlich anwesend gewesen, sondern habe ihm seine Schwester erzählt, dass Leute zu ihm nach Hause gekommen seien und nach ihm gesucht hätten.

2.       Mit dem Bescheid vom 13.04.2017, Zl. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

3.       Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde vom 08.05.2017, bei der belangten Behörde eingelangt am selben Tag, mit welcher inhaltliche Rechtswidrigkeit und die Verletzung von Verfahrensvorschriften wegen wesentlicher Ermittlungsmängel geltend gemacht wurden.

4.       Mit Schriftsatz vom 08.05.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 12.05.2017, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

5.        Am 04.06.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des BF, seines Rechtsvertreters, eines Vertreters der belangten Behörde und einer Dolmetscherin für englische Sprache abgehalten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige BF ist ledig, kinderlos, gesund, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der Ibibio an. Seine Identität steht nicht fest.

Er stammt aus XXXX , Akwa Ibom State, wo er bis zu seiner Ausreise lebte.

Der BF reiste Ende November 2014 per Fernlaster aus Nigeria nach Libyen aus und fuhr mittels Schlauchboot über das Mittelmeer nach Europa, wo er schließlich einen Zug bestieg und dann per Zug Österreich erreichte. Seit (mindestens) 25. Januar 2015 hält er sich dauerhaft in Österreich auf.

Der BF besuchte 6 Jahre lang die Grundschule in Nigeria und arbeitete anschließend auf der Hühnerzuchtfarm des Vaters, einen anderen Beruf hat der BF in Nigeria nicht erlernt.

Zu Verwandten, Freunden oder sonstigen Personen in Nigeria hat der BF keinen Kontakt. In Österreich verfügt der BF über keine Verwandten bzw. Familienangehörige, hat jedoch seit 2018 eine Freundin nigerianischer Staatsangehörigkeit, mit der er nicht zusammenlebt.

Der BF hat sich in all den Jahren seines Aufenthaltes sowohl in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht in Österreich integriert.

Der BF besuchte mehrere Deutschkurse, wobei er zuletzt das Niveau B1 positiv abschloss. Danach besuchte er einen weiteren Deutschkurs in XXXX , diesen konnte er allerdings aufgrund seiner Arbeitszeiten als Lehrling nicht abschließen. Erhebliche Teile der mündlichen Verhandlung konnten daher problemlos auf Deutsch ohne Dolmetscher durchgeführt werden.

Zunächst arbeitete der BF gemeinnützig in XXXX in der Mülltrennung, ab Oktober 2015 war er dann im Ausmaß von 20 Wochenstunden gemeinnützig in der Abwasserreinigungsanlage des Abwasserverbandes XXXX und Umgebung beschäftigt. Seit Anfang Februar 2018 absolviert der BF seine Lehre zum Koch im XXXX , wobei er auch die dritte Fachklasse der Tiroler Fachberufsschule für Tourismus in XXXX mit Mai 2020 positiv abgeschlossen hat. Im Zuge der Verhandlung brachte der BF zudem eine Einstellungszusage in Vollzeit im Anschluss an seine Lehrlingszeit bei seiner aktuellen Lehrherrin in Vorlage.

Weiters absolvierte der BF einen Erste-Hilfe-Kurs in der Dauer von 16 Stunden beim Österreichischen Roten Kreuz. Seit nunmehr Juni 2019 ist der BF auch Mitglied des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB).

Der BF war auch kirchengemeinschaftlich sehr aktiv. Sowohl im christlichen Hauskreis/Bibelkreis XXXX war der BF ein gut integriertes Gruppenmitglied, weiters auch in der Jugendgruppe XXXX , wo er auch Teil des Musikteams wurde. Mittlerweile besucht der BF regelmäßig auch die Freikirche XXXX .

Aufgrund seines dargestellten jahrelangen Aufenthaltes im Bundesgebiet verfügt der BF über einen dementsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis.

Der BF bezieht seit Anfang März 2020 keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist selbsterhaltungsfähig.

Die lange Verfahrensdauer ist dem BF nicht anzulasten. Er hat sich dem Verfahren nicht entzogen oder seine Mitwirkungspflicht verletzt.

Der BF ist in Österreich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:

Das Fluchtvorbringen des BF, wonach er von einer Kultgruppe, dessen Anführer sein Vater gewesen sei, verfolgt worden sei und welche ihn bei Nicht-Übernahme der Position des Vaters töten werde, konnte nicht festgestellt werden.

Es kann des Weiteren nicht festgestellt werden, dass der BF in Nigeria aufgrund anderer Umstände, nämlich aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden würde.

Der BF wird im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria:

Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

1.3.1 Politische Lage

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; GIZ 3.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020).

Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA 24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten – zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte – und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen die von ihnen gemachte Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete des Landes, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 1.2019).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 3.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 3.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes (GIZ 3.2020a). Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar fechtet das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering (GIZ 3.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).

Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 3.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).

1.3.2 Sicherheitslage

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).

Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).

In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).

1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law“ oder „Customary Law“) durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte“ neben „Common Law“- und „Customary Courts“ geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).

Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).

1.3.4 Scharia

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 16.1.2020). Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 21.6.2019). Bei den Scharia-Gerichten kommt die Bedingung hinzu, dass beide Parteien Muslime sein müssen (ÖB 10.2019). Mindestens ein Bundesstaat, Zamfara, schreibt vor, dass Zivilverfahren, bei denen alle Prozessparteien Muslime sind, vor Scharia-Gerichten verhandelt werden, wobei die Möglichkeit besteht, gegen jede Entscheidung beim Zivilgericht Berufung einzulegen (USDOS 11.3.2020). Nicht-Muslime haben die Möglichkeit, ihre Fälle vor den Scharia-Gerichten verhandeln zu lassen, wenn sie dies wünschen (USDOS 21.6.2019). Nicht-Muslime haben aber jedenfalls das Recht auf ein Verfahren vor einem säkularen Gericht (BS 2020).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, sodass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Dabei erregten Ermittlungen und Anklagen wegen sogenannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 16.1.2020).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020). Im Jahr 2019 gab es keine Berichte über ausgeführte Prügelstrafen (USDOS 11.3.2020). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 16.1.2020). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 11.3.2020). Es gibt Hisbah-Verbände zur Durchsetzung der Scharia, die sich stark zwischen den Staaten unterscheiden (USCIRF 12.2019).

1.3.5 Sicherheitsbehörden

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei (National Police Force - NPF), die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 16.1.2020). Obwohl in absoluten Zahlen eine der größten Polizeitruppen der Welt, liegt die Rate von Polizeibeamten zur Bevölkerungszahl unter der von der UN empfohlenen Zahl (UKHO 3.2019). Die nigerianische Polizei ist zusammen mit anderen Bundesorganisationen die wichtigste Strafverfolgungsbehörde. Das Department of State Service (DSS), das via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt ist, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Die nigerianischen Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die äußere Sicherheit zuständig, haben aber auch einige Zuständigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit (USDOS 11.3.2020). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 16.1.2020). Alle Sicherheitsorgane (Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten, die so genannten Rapid Response Squads) werden neben der Polizei auch im Innern eingesetzt (AA 16.1.2020). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig (ÖB 10.2019).

Der NDLEA wird im Vergleich zu anderen Behörden mit polizeilichen Befugnissen eine gewisse Professionalität attestiert. In den Zuständigkeitsbereich dieser Behörde fällt Dekret 33, welches ein zusätzliches Verfahren für im Ausland bereits wegen Drogendelikten verurteilte nigerianische Staatsbürger vorsieht. Dagegen zeichnen sich die NPF und die Mobile Police (MOPOL) durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2019). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität umfassend zu kontrollieren bzw. einzudämmen. Zudem sind die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 16.1.2020). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 11.3.2020).

Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Es gab allerdings kleinere Erfolge im Bereich der Reorganisation von Teilen des Militärs und der Polizei (BS 2020). Der Regierung fehlen wirksame Mechanismen und ausreichender politischer Wille, um die meisten Fälle von Missbrauch durch Sicherheitskräfte sowie Korruption in den Sicherheitskräften zu untersuchen und zu bestrafen (USDOS 11.3.2020).

1.3.6   Vigilantengruppen, Bürgerwehren, Hisbah

In verschiedenen Regionen des Landes haben sich bewaffnete Organisationen in Form von ethnischen Vigilantengruppen gebildet, z.B. der Odua People’s Congress (OPC) im Südwesten oder die Bakassi Boys im Südosten. Bei diesen Gruppen kann man sich gegen Zahlung eines Schutzgeldes „Sicherheit“ erkaufen. Die Behörden reagieren unterschiedlich auf diese Gruppen: Im Bundesstaat Lagos ging die Polizei gegen den OPC vor, im Osten des Landes wurde die Existenz dieser Gruppen dagegen von einigen Gouverneuren begrüßt. Die Polizei arbeitet zum Teil mit ihnen zusammen. Generell scheint die Bedeutung von Vigilantengruppen in Städten etwas abzunehmen, in einigen ländlichen Regionen haben sie aber weiterhin eine dominante Machtposition. Im Kampf gegen Boko Haram hat sich unter Federführung der Armee im Nordosten eine interethnische Vigilantengruppe – die Civilian Joint Task Force (CJTF) – herausgebildet (AA 16.1.2020). Berichten zufolge koordiniert sich das Militär vor Ort eng mit der CJTF, und diese erhält von der Regierung begrenzte Mittel (USDOS 11.3.2020).

Vigilantengruppen wie etwa die CJTF verhaften Personen bei Massenverhaftungen, oftmals ohne Beweismaterial (USDOS 11.3.2020). Diese Gruppen verletzen regelmäßig persönliche Freiheiten der Bürger (BS 2020). Im September 2017 unterzeichneten die UN und die CJTF einen Aktionsplan zur Unterbindung der Rekrutierung und Verwendung von Kindern, seitdem kommt es nicht mehr zur Rekrutierung von Kindern. Ehemalige Kindersoldaten werden reintegriert (USDOS 11.3.2020).

In verschiedenen Bundesstaaten überwacht die Hisbah-Polizei die Einhaltung der religiösen Vorschriften (AA 16.1.2020). Vier Staaten mit erweitertem Scharia-Geltungsbereich (Zamfara, Niger, Kaduna, Kano) haben private Gruppen, wie die Hisbah, zur Rechtsdurchsetzung ermächtigt und gewähren hierfür staatliche Zuschüsse. In bestimmten Fällen sind diese Gruppen ermächtigt, Verhaftungen vorzunehmen. Bislang beschränkt sich ihre Zuständigkeit in erster Linie auf Verkehrsdelikte und die Marktaufsicht (ÖB 10.2019). Die Hisbah verhaftet weiterhin Straßenbettler und Prostituierte, und sie beschlagnahmt und vernichtet Alkohol (USDOS 21.6.2019). In Kano wird die Hisbah direkt vom Bundesstaat betrieben, während sie in anderen Bundesstaaten ähnlich den nichtstaatlichen Bürgerwehren organisiert ist. Die Hisbah wurde vom Obersten Gericht zwar als verfassungswidrig bezeichnet, da polizeiliche Aufgaben ausschließlich in die Zuständigkeit des Bundes fallen, sie hat ihre Tätigkeit jedoch bisher nicht eingestellt, sondern wurde lediglich umorganisiert. Laut dem Gouverneur von Kano nimmt die Hisbah keine polizeilichen, sondern lediglich gesellschaftlich-moralische Aufgaben und Befugnisse wahr (AA 16.1.2020).

1.3.7 Folter und unmenschliche Behandlung

Durch Verfassung und Gesetze sind Folter und andere unmenschliche Behandlungen verboten. Seit Dezember 2017 sind gemäß Anti-Folter-Gesetz Strafen vorgesehen. Gesetzlich ist die Verwendung von unter Folter erlangten Geständnissen in Prozessen nicht erlaubt. Die Behörden respektieren diese Regelung jedoch nicht immer. Der Administration of Criminal Justice Act (ACJA) aus dem Jahr 2015 verbietet Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Häftlingen; er schreibt jedoch keine Strafen für Verstöße vor. Zudem muss jeder Bundesstaat ACJA-konforme Gesetze auch einzeln verabschieden, was bis Mitte 2019 erst in Akwa Ibom, Anambra, Cross River, Delta, Ekiti, Enugu, Kaduna, Lagos, Ogun, Ondo, Oyo und Rivers geschehen ist (USDOS 11.3.2020).

Die nigerianischen Sicherheitskräfte sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen: Allen glaubwürdigen Hinweisen zufolge gehören Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; BS 2020). Darunter haben insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden (AA 16.1.2020). Neben der Polizei wird auch dem Militär vorgeworfen, extralegale Tötungen, Folter und andere Misshandlungen anzuwenden, unter anderem bei Operationen gegen Aufständische im Nordosten und gegen separatistische Bewegungen im Südosten (FH 1.2019). Stockschläge werden als Strafe eingesetzt. Im Kampf gegen Boko Haram und ISIS-WA im Nordosten des Landes kommt es im Rahmen von Anti-Terror-Operationen durch Sicherheitskräfte zu Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter, außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020) und Verschwindenlassen. Betroffen sind davon zum Teil auch Untersuchungshäftlinge, Schiiten, Biafra-Aktivisten und mutmaßliche Bandenkriminelle. Berichten zufolge begehen Angehörige des Militärs außerdem schwere Menschenrechtsverletzungen in IDP-Camps. Die Regierung bestreitet dies (AA 16.1.2020).

Im März 2016 wurde eine Menschenrechtsstelle in der Abteilung für Zivil-Militärische Angelegenheiten beim Stab des Heeres eingerichtet. Regierung und Militär haben im Jahr 2019 mehrere Versuche unternommen, einige Vorfälle zu untersuchen. Die Menschenrechts¬kommission wurde außerdem beauftragt, Spezialeinheiten der Polizei zu untersuchen, die sich weitreichender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben sollen. Bisher blieben aber alle Untersuchungen ohne rechtliche Konsequenzen (AA 16.1.2020).

Die Sicherheitskräfte bleiben bei Vergehen weitgehend ungestraft (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020). Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist durch immer wieder gemeldete Fälle von widerrechtlichen Tötungen, Folter und unmenschlicher Behandlung in Polizeihaft unterentwickelt (ÖB 10.2019). Selbst die staatliche Menschenrechtskommission schätzt die Zahl extra-legaler Tötungen auf jährlich ca. 5.000 (AA 16.1.2020).

Das Militär wird wiederholt von Menschenrechtsorganisationen wegen außergerichtlicher Tötungen, Folter und anderer Missbräuche kritisiert, unter anderem im Rahmen der Aufstandsbekämpfung im Nordosten und bei Operationen gegen separatistische Bewegungen im Südosten des Landes (FH 1.2019).

Die Special Anti-Robbery Squad (SARS) geht brutal gegen Verdächtige vor. Häufig kommt es zu Folter oder erzwungenen Geständnissen (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 3.2020), oder auch Tötungen unter dem Vorwand, dass die Häftlinge haben fliehen wollen (AA 16.1.2020). Die nationale Menschenrechtskommission untersucht derzeit diese Polizeieinheit. Sie wurde bereits einer Umstrukturierung unterzogen, deren Auswirkungen noch nicht eingeschätzt werden können. Dabei handeln die Täter in der Gewissheit weitgehender Straflosigkeit, da es nur in den seltensten Fällen zu unabhängigen Untersuchungen, geschweige denn zu disziplinar- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen kommt. Wenn Polizisten beschuldigt werden, an extralegalen Tötungen beteiligt zu sein, werden sie durch ihre Vorgesetzten gedeckt und oft bewusst in andere Regionen versetzt, um eine Klärung der Vorwürfe zu verhindern. Hauptbetroffene sind in der Regel Personen, die eines Gewaltverbrechens verdächtig sind; diese werden nach dem Ablegen eines (häufig durch Folter erlangten) Geständnisses oft noch im Polizeigewahrsam „exekutiert“. Immer wieder kommt es auch vor, dass Sicherheitskräfte an von ihnen errichteten Straßensperren unvermittelt das Feuer eröffnen, etwa wenn sich jemand weigert, ein gefordertes Schmiergeld zu zahlen (AA 16.1.2020).

Gesicherte Erkenntnisse über systematisches Verschwindenlassen unliebsamer Personen durch staatliche Organe liegen nicht vor. Nigerianische Menschenrechtsgruppen werfen regelmäßig insbesondere der Polizei das Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen und anderen in Polizeigewahrsam befindlichen Personen vor (AA 16.1.2020). Einer anderen Quelle zufolge verhaften etwa Polizisten und der Inlandsgeheimdienst willkürlich Menschen und halten Personen ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam (AI 8.4.2020). Der Vorwurf des Verschwindenlassens wird auch gegen die im Norden Nigerias agierenden Sicherheitskräfte der Joint Task Force erhoben. Polizei und Militär gehen bei Großeinsätzen, wie der Bekämpfung der islamistischen Gruppe Boko Haram, häufig mit unverhältnismäßiger Härte vor (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020).

Folter ist in Polizei- oder Militärgewahrsam z.B. im Nordosten Nigerias und im Nigerdelta weiterhin weitverbreitet (AA 16.1.2020).

Zudem verweigern Gefängnisbeamte, Polizisten und anderes Personal der Sicherheitskräfte Häftlingen oft Nahrung und medizinische Behandlung, um sie zu bestrafen oder Geld zu erpressen (USDOS 11.3.2020).

Es kommt also trotz Folterverbots in der Verfassung oft zu teilweise schweren Misshandlungen von (willkürlich) Inhaftierten, Untersuchungshäftlingen, Gefängnisinsassen und anderen Personen im Gewahrsam der Sicherheitsorgane. Die Gründe für dieses Verhalten liegen zum einen in der nur schwach ausgeprägten Menschenrechtskultur der Sicherheitskräfte, zum anderen in der mangelhaften Ausrüstung, Ausbildung und Ausstattung insbesondere der Polizei, was sie in vielen Fällen zu dem illegalen Mittel der gewaltsamen Erpressung von Geständnissen als einzigem erfolgversprechenden Weg der „Beweisführung“ greifen lässt. Die große Zahl glaubhafter und übereinstimmender Berichte über die Anwendung von Folter in Gefängnissen und Polizeistationen im ganzen Land, die von forensischen Befunden gestützt und von der Polizei teilweise zugegeben werden, bestätigen den Eindruck, die Anwendung von Folter sei ein integraler Bestandteil der Arbeit der Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020).

Verfassung und Gesetze verbieten willkürliche Verhaftungen, dennoch praktizieren Polizei und Sicherheitskräfte diese Praktiken. Beim Kampf gegen Boko Haram wurden im Nordosten Nigerias seit 2013 tausende Personen willkürlich inhaftiert. Sie befinden sich in nicht überwachten militärischen Haftanstalten (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden – ohne Anklageschrift oder Verurteilung – inhaftiert (AA 16.1.2020). Die Armee inhaftierte Hunderte von Frauen rechtswidrig und ohne Anklage, u. a. weil man annahm, sie seien mit Mitgliedern von Boko Haram verwandt. Unter den Inhaftierten befinden sich auch Frauen und Mädchen, die angaben, Opfer von Boko Haram geworden zu sein (AI 22.2.2018; vgl. HRW 10.9.2019; USDOS 11.3.2020).

Die Regierung des nordöstlichen Bundesstaats Borno schätzt die Zahl der von Boko Haram entführten Frauen und Mädchen auf insgesamt 3.000. Im Oktober 2016 und Mai 2017 sind über hundert der 2014 aus Chibok entführten Mädchen freigelassen worden. Im März 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule in Dapchi entführt, die meisten kamen kurz darauf wieder frei. Boko Haram setzt außerdem Kinder gezielt als Lastenträger, in Kampfhandlungen und insbesondere Mädchen für Selbstmordattentate ein. Mädchen werden zudem häufig sexuell missbraucht und an Mitglieder der Boko Haram zwangsverheiratet (AA 16.1.2020).

1.3.8 Korruption

Das Gesetz sieht Strafen für Korruption vor (USDOS 11.3.2020). Trotzdem bleibt Korruption weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 1.2019; GIZ 3.2020) und damit ein wichtiges Entwicklungshindernis Nigerias (GIZ 3.2020) – vor allem im Öl- und Sicherheitssektor (FH 1.2019). Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2019, liegt Nigeria mit einer Bewertung von 26 (von 100) Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf Platz 146 von 180 untersuchten Ländern (TI 23.1.2020).

Die Regierung setzt die Gesetze gegen Korruption nicht effektiv um, und Beamte bleiben oft ungestraft. Die massive, weitverbreitete und tiefgreifende Korruption betrifft alle Ebenen in den Behörden und bei den Sicherheitskräften (USDOS 11.3.2020); sie ist bei der Polizei weit verbreitet; Gelderpressungen an Straßensperren sind an der Tagesordnung (AA 16.1.2020). Korruption herrscht auch in der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020). Es gibt die weitverbreitete Auffassung, dass Richter leicht zu bestechen sind und Prozessparteien sich daher nicht auf Gerichte verlassen sollten, um ein unparteiisches Urteil zu erhalten. Bürger müssen sich auf lange Verzögerungen einstellen und berichten davon, dass Justizangestellte für eine Verfahrensbeschleunigung oder genehme Urteile Schmiergeld fordern (USDOS 11.3.2020).

Bei der Korruptionsbekämpfung sind seit 1999 nur wenige Erfolge zu verzeichnen (GIZ 3.2020). Allerdings hat die Regierung diese zum Teil ihrer Wirtschaftspolitik erklärt (AA 24.5.2019). Die Independent Corrupt Practices and Other Related Offenses Commission (ICPC) hält ein breites Mandat bezüglich der Verfolgung fast aller Formen von Korruption, während die Economic and Financial Crimes Commission (EFCC) auf Finanzdelikte beschränkt ist. Obwohl die Bemühungen der EFCC und der ICPC sich auf Regierungsbeamte mit niedrigem und mittlerem Rang konzentrieren, haben beide Organisationen mit Ermittlungen und Anklagen gegen verschiedene hochrangige Regierungsbeamte begonnen (USDOS 11.3.2020). Die beiden Kommissionen eröffneten im Jahr 2018 neue Untersuchungen gegen hochrangige und ehemalige Beamte (FH 1.2019).

1.3.9 Allgemeine Menschenrechtslage

Die am 29.5.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei“ ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 16.1.2020).

Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 24.5.2019a; vgl. GIZ 3.2020), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 3.2020). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden. Die Gleichstellung von Angehörigen sexueller Minderheiten wird gesetzlich verweigert, homosexuelle Handlungen sind mit schweren Strafen belegt (AA 24.5.2019a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Angehörige der nigerianischen Polizei und Armee sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 3.2020). Zu den wichtigen Menschenrechtsproblemen gehören zudem u.a. rechtswidrige und willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Inhaftierung sowie substanzielle Eingriffe in die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit (USDOS 11.3.2020).

Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten führten zu Amputations- und Steinigungsurteilen. Die wenigen Steinigungsurteile wurden jedoch jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben; auch Amputationsstrafen wurden in den letzten Jahren nicht vollstreckt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 13.3.2019). Menschenrechtsorganisationen mahnen allerdings an, dass die Dunkelziffer gegebenenfalls höher liegen kann (AA 16.1.2020).

Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, und diese sind auch in der Verfassung als einklagbar verankert. Dessen ungeachtet bleiben viele Probleme ungelöst, wie etwa Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, die Scharia-Rechtspraxis, Entführungen und Geiselnahmen sowie das Problem des Frauen- und Kinderhandels. Daneben ist der Schutz von Leib und Leben der Bürger gegen Willkürhandlungen durch Vertreter der Staatsmacht keineswegs verlässlich gesichert und besteht weitgehend Straflosigkeit bei Verstößen der Sicherheitskräfte und bei Verhaftungen von Angehörigen militanter Organisationen. Das hohe Maß an Korruption auch im Sicherheitsapparat und der Justiz wirkt sich negativ auf die Wahrung der Menschenrechte aus (ÖB 10.2019).

Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 3.2020a).

1.3.10 Todesstrafe

An der Todesstrafe hält Nigeria weiter fest (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Sie kann durch ordentliche Gerichte und erstinstanzliche Scharia-Gerichte für bestimmte Tatbestände (Mord, Hochverrat, Verrat, Quälerei mit Todesfolge, schwerer Raub) verhängt werden. Gegenwärtig ist in einigen südlichen Bundesstaaten der Trend zu beobachten, den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf weitere Straftatbestände (v.a. Entführung) auszuweiten (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Der Bundesstaat Rivers verabschiedete im März 2019 das novellierte Gesetz Nr. 6 von 2019 über das Verbot geheimer Kulte und ähnlicher Aktivitäten sowie das Gesetz Nr. 7 von 2019 über das Verbot von Entführungen in der Neufassung Nr. 2; beide Gesetze schreiben die Todesstrafe nun bei Entführungen und Sektiererei vor (AI 8.4.2020). Der 2012 überarbeitete Terrorism (Prevention) Act 2011 sieht die Todesstrafe für terroristische Verbrechen vor (AA 16.1.2020).

Ein seit 2006 faktisches Vollstreckungsmoratorium, das zuletzt im Februar 2009 durch den Außenminister gegenüber dem UN-Menschenrechtsrat bestätigt worden war, wurde vom Bundesstaat Edo im Juni 2013 mit vier und im Dezember 2016 mit drei Hinrichtungen durchbrochen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). 2019 gab es keine Berichte über Hinrichtungen, doch mussten immer noch mehr als 2.000 Menschen mit einer Vollstreckung ihres Todesurteils rechnen (AI 8.4.2020), darunter Täter, die zum Tatzeitpunkt noch Jugendliche waren. Viele wurden nach unfairen Prozessen verurteilt oder nachdem sie mehr als zehn Jahre im Gefängnis auf ihren Prozess gewartet hatten (ÖB 10.2019). Auch im Jahr 2018 hat es keine Exekutionen gegeben, allerdings wurden mindestens 46 Todesurteile verhängt (AI 10.4.2019).

1.3.11 Religionsfreiheit

Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit (GIZ 3.2020b; vgl. ÖB 10.2019; AA 16.1.2020) und Freiheit der Religionsausübung (ÖB 10.2019). Laut Verfassung darf die Regierung keine Staatsreligion beschließen, ist religiöse Diskriminierung verboten und hat jeder die Freiheit, seine Religion zu wählen, auszuüben, zu propagieren und zu ändern (USDOS 21.6.2019; vgl. USDOS 4.2020). Im Vielvölkerstaat Nigeria ist die Religionsfreiheit ein Grundpfeiler des Staatswesens. Die Bundesregierung achtet auf die Gleichbehandlung von Christen und Muslimen, z.B. bei der Finanzierung von Gotteshäusern und Wallfahrten. Sie unterstützt den Nigerian Inter-Religious-Council, der paritätisch besetzt ist und die Regierung in Religionsangelegenheiten berät. Ähnliche Einrichtungen wurden auch in mehreren Bundesstaaten erfolgreich eingeführt (AA 16.1.2020).

Die Regierung achtet Religionsfreiheit in der Praxis, obwohl von lokalen politischen Akteuren geschürte Gewalt in der Regel straflos bleibt. Die Verfassung verbietet es, ethnischen oder religiösen Gruppen Vorrechte einzuräumen. In der Praxis bevorzugen Bundesstaaten jedoch die jeweils durch die lokale Mehrheitsbevölkerung ausgeübte Religion (ÖB 10.2019). Manche Gesetze von Landes- und Lokalregierungen diskriminieren Mitglieder religiöser Minderheiten (USDOS 21.6.2019). Außerdem gestaltet sich die Umsetzung der verfassungsmäßig gesicherten Religionsfreiheit in der Praxis aufgrund religiöser Spannungen schwierig (GIZ 3.2020b).

Die Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften und religiösen Gruppen ist auf lokaler Ebene und in der Bevölkerung teilweise nur unzureichend ausgeprägt. Eine Ausnahme sind die Yoruba im Südwesten Nigerias, unter denen seit Generationen auch Mischehen zwischen Moslems und Christen verbreitet sind. In einigen Bundesstaaten ist die Lage der jeweiligen christlichen bzw. muslimischen Minderheit dagegen problematisch, insbesondere im Middle-Belt, wo der Kampf um Land und Lebensraum zunehmend religiös aufgeladen wird (AA 16.1.2020). Es gibt Berichte über Gewalt bis hin zu Tötungen bei Konflikten zwischen religiösen Gruppen, namentlich zwischen christlichen Bauern und muslimischen Nomaden und vorwiegend im Middle-Belt (USDOS 21.6.2019).

Auch die Lage zwischen den Moslems der sunnitischen Mehrheit und der schiitischen Minderheit ist teilweise stark angespannt. Versammlungen und Märsche der schiitischen Minderheit gelten als Provokation. Diesbezüglich kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen. Nach gewaltsamen Protesten des IMN (Islamic Movement of Nigeria) in Abuja im Juli 2019 wurde die Gruppierung durch die Regierung im ganzen Land zu einer illegalen Organisation erklärt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 21.6.2019). Die islamistisch-terroristischen Organisationen Boko Haram und Islamischer Staat in Westafrika sind weiterhin aktiv und führen zahlreiche Angriffe auf Bevölkerungszentren oder religiöse Ziele durch [Anm. Siehe Abschnitt 3. Sicherheitslage] (USDOS 21.6.2019).

Generell können jene Personen, die sich vor Problemen hinsichtlich der Religionsfreiheit oder vor Boko Haram fürchten, entweder staatlichen Schutz oder aber eine innere Relokationsmöglichkeit in Anspruch nehmen (UKHO 8.2016b).

1.3.12 Religiöse Gruppen

Nigeria ist von drei unterschiedlichen Religionen geprägt: dem Islam, dem Christentum, und den indigenen Religionen (GIZ 3.2020b). 53,5 Prozent sind Moslems, 10,6 Prozent sind Katholiken und 35,3 Prozent gehören anderen christlichen Glaubensrichtungen an. Der Rest gehört anderen Religionen an (CIA 17.3.2020). Nach anderen Angaben besteht die Bevölkerung aus 49,3 Prozent Christen und 48,8 Prozent Muslimen, während die verbleibenden zwei Prozent anderen oder keinen Religionen angehören. Viele Menschen verbinden indigene Überzeugungen und Praktiken mit dem Islam oder dem Christentum (USDOS 21.6.2019).

Der Norden ist überwiegend muslimisch, der Süden überwiegend christlich (AA 16.11.2020; vgl. GIZ 3.2020b; USDOS 21.6.2019). Allerdings gibt es im Norden, wo die muslimischen Hausa-Fulani überwiegen, auch signifikante christliche Bevölkerungsteile. In Zentralnigeria, Abuja und den südwestlichen Yoruba-Bundesstaaten halten sich die Anteile an Muslimen und Christen die Waage (USDOS 21.6.2019; vgl. GIZ 3.2020b).

2010 gaben 38 Prozent der Muslime an, Sunniten zu sein, 12 Prozent Schiiten; der Rest sah sich als „etwas anderes“ oder einfach als „Muslime“. Unter den Sunniten finden sich mehrere Sufi-Strömungen (USDOS 21.6.2020), im Norden des Landes v.a. die Bruderschaften der Qadiriyya und der Tijaniyya. Beide sind Varianten des sunnitischen Islam. Seit der nigerianischen Unabhängigkeit sind viele islamische Gemeinschaften entstanden, d.h. wie bei den Christen auch, passte sich der Islam den afrikanischen Traditionen u.a. mit der Entstehung neuer islamischer Sekten an (GIZ 3.2020b).

Das Christentum unterteilt sich in Katholiken, Protestanten und synkretistische afrikanische Kirchengemeinschaften. Bei letzteren handelt es sich um eine Vermischung von traditionellen Religionen mit Freievangelisten – meist Mitglieder evangelikaler und pentekostaler Kirchen. Es gibt im Land bereits über tausend dieser – meist stark profitorientierten – neuen afrikanischen Kirchengemeinden mit mehreren Millionen Mitgliedern, Tendenz steigend (GIZ 3.2020b).

1.3.13 Kulte und Geheimgesellschaften

Der Begriff „Kult“ ist in Nigeria sehr weitgreifend und kann für jede organisierte Gruppe von Menschen verwendet werden, um welche sich Geheimnisse ranken. Der Begriff umfasst auch eine religiöse Dimension, die generell auf die Verwendung von Juju abzielt. Die Bandbreite reicht von den Ogboni über ethnische Vigilantengruppen bis zu Bruderschaften an Universitäten (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017; EASO 11.2018b). „Kulte“ und Geheimgesellschaften sind vor allem im Süden von Nigeria verbreitet, nur in geringem Maße im Norden (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017). Studentenkulte sind hauptsächlich in den südlichen Bundesstaaten Nigerias aktiv, insbesondere in den Bundesstaaten Rivers, Bayelsa, Delta und Edo (EASO 2.2019; vgl. ACCORD 25.4.2019). Geheime Bruderschaften operieren bis hinauf in die gesellschaftliche Elite des Landes (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017). Vor allem junge Männer sind angehalten, sich zu ihrem eigenen Schutz Kulten anzuschließen, beziehungsweise werden sie durch Gruppenzwang dazu gebracht, dies zu tun. Viele Menschen treten „Kulten“ bei, da diese mit Macht, Reichtum und Ansehen in der Gesellschaft verbunden werden (DFAT 9.3.2018).

Kulte, die auf den Straßen Nigerias oder in den höheren Schulen präsent sind, zeichnen sich durch Handlungsweisen aus, die eher jenen von kriminellen Banden als jenen von religiösen Gruppen ähneln (DFAT 9.3.2018; vgl. EASO 2.2019). Einige der bekanntesten Kulte sind „Black Axe“ und „Eiye“. Studentenkulte sind von gewalttätigen Initiationsriten (EASO 2.2019; vgl. DFAT 9.3.2018) und illegalen Aktivitäten wie Tötungen, Menschenhandel, Drogenhandel, Schmuggel, Erpressung, Entführung und Zwangsrekrutierung geprägt. Zwischen 2006 und 2014 gab es in Zusammenhang mit Studentenkulten 1.863 Todesfälle. Im Jahr 2017 gab es in diesem Zusammenhang 442 Todesopfer und 290 Opfer von Entführungen. Politische Parteien rekrutieren häufig Kultmitglieder und benutzen diese, um politische Gegner zu töten oder anzugreifen oder um sie bei Wahlen Gewalt ausüben zu lassen (EASO 2.2019; vgl. ACCORD 25.4.2019).

Mafiöse „Kulte“ prägen – trotz Verboten – das Leben auf den Universitäts-Campussen. So kommt es etwa zu Morden und Vergewaltigungen in Studentenheimen (ÖB 10.2019). Die mafiöse Strukturen aufweisenden „Kulte“ pflegen gewaltsame Initiationsriten und sind oft in illegale Aktivitäten verwickelt. Nach anderen Angaben sind „Kulte“ eher als Jugendbanden zu bezeichnen (EASO 11.2018b). Die Bandenmitglieder bleiben anonym und sind durch einen Schwur gebunden. Heute sind „Kulte“ eines der am meisten gefürchteten Elemente der Gesellschaft (FFP 10.12.2012; vgl. EASO 6.2017). „Kulte“ schrecken auch vor Menschenopfern nicht zurück, was zu häufigen Meldungen über den Fund von Körperteilen bei ‚Ritualists‘ führt (ÖB 10.2019). Die Bundesregierung hat die Rektoren angewiesen, gegen die von „Kulten“ ausgehende Gewalt an den Universitäten Maßnahmen zu setzen, darunter z.B. Aufklärungskampagnen sowie Sanktionen gegen „Kult“-Mitglieder (IRB 3.12.2012; vgl. EASO 6.2017). Das Secret Cult and Similar Activities Prohibition Gesetz aus dem Jahr 2004 verbietet ca. 100 „Kulte“, darunter kriminelle Banden sowie: spirituell und politisch motivierte Gruppen auf der Suche nach Macht und Kontrolle (UKHO 1.2013; vgl. EASO 6.2017; EASO 11.2018b).

Die Aktivitäten der Studentenkulte sind üblicherweise auf die betroffene Universität beschränkt, manche unterhalten aber Zweigstellen an mehreren Universitäten (VA1 16.11.2015). Eine Mitgliedschaft bei einer (studentischen) Bruderschaft zurückzulegen ist schwierig (EASO 11.2018b ; vgl. FFP 10.12.2012; EASO 6.2017). Es wurden auch schon Mitglieder getötet, die dies versucht hatten (FFP 10.12.2012; vgl. EASO 6.2017). Nach anderen Angaben ist der Einfluss der „Kulte“ nicht mehr so groß wie früher. Es ist ein Fall bekannt, wo ein Konflikt mit einem solchen „Kult“ ohne Konsequenzen gelöst werden konnte (EASO 11.2018b). Nach ex-Mitgliedern wird selten gesucht und wenn doch, dann wird eine erfolglose Suche nach zwei oder drei Monaten abgebrochen (VA1 16.11.2015). Auch religiösen Kulten kann man sich durch Flucht entziehen, sie sind nicht in der Lage, eine Person in ganz Nigeria zu verfolgen (VA2 16.11.2015). „Kulte“ greifen generell niemanden an, der nicht selbst in Kult-Aktivitäten involviert ist (VA1 16.11.2015). Personen, die sich vor derartigen Gruppierungen fürchten, können entweder Schutz erhalten oder aber eine innerstaatliche Relokationsmöglichkeit in Anspruch nehmen, um der befürchteten Misshandlung zu entgehen (UKHO 12.2013).

1.3.14 Bewegungsfreiheit

Die Verfassung sowie weitere gesetzliche Bestimmungen gewährleisten Bewegungsfreiheit im gesamten Land sowie Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung. Allerdings schränken Sicherheitsbeamte die Bewegungsfreiheit durch Ausgangssperren ein, vor allem in Gebieten, in denen es Terroranschläge oder ethnisch motivierte Gewalt gibt. Dies betrifft aufgrund der Operationen gegen Boko Haram und ISIS-WA v.a. die Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe. Auch in anderen Bundesstaaten kommt es in Reaktion auf gewaltsame Auseinandersetzungen in ländlichen Regionen mitunter zu Ausgangssperren. Bei Operationen von Sicherheitskräften in Städten und an Hauptverkehrsstraßen werden gelegentlich Checkpoints eingerichtet. Zahlreiche von Militär und Polizei betriebene Checkpoints bleiben aufrecht (USDOS 11.3.2020).

Bürger dürfen sich in jedem Teil des Landes niederlassen (USDOS 11.3.2020). Grundsätzlich besteht in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen (AA 16.1.2020). Prinzipiell sollte es einer Person, die von nicht-staatlichen Akteuren verfolgt wird oder die sich vor diesen fürchtet, in einem großen Land wie Nigeria möglich sein, eine interne Relokation in Anspruch zu nehmen. Natürlich müssen die jeweiligen persönlichen Umstände beachtet werden (UKHO 3.2019).

In den vergangenen Jahrzehnten hat durch Wanderungsbewegungen und interethnische Ehen eine fortgesetzte Durchmischung der Wohnbevölkerung auch der „Kern“-Staaten der drei Hauptethnien (Hausa-Fulani, Yoruba, Igbo) stattgefunden. So ist insbesondere eine starke Nord-Süd-Wanderung feststellbar, wodurch Metropolen wie Lagos heute weitgehend durchmischt sind. Es bestehen daher innerstaatliche Fluchtalternativen (ÖB 10.2019). Ein innerstaatlicher Umzug kann allerdings mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem keine Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen. Für alleinstehende Frauen besteht zudem die Gefahr, bei einem Umzug in die Großstadt von der eigenen Großfamilie keine wirtschaftliche Unterstützung mehr zu erhalten (AA 16.1.2020).

Bundesstaats- und Lokalregierungen diskriminieren regelmäßig ethnische Gruppen, die in ihrem Gebiet nicht einheimisch sind. Dies nötigt gelegentlich Personen dazu, in jene Regionen zurückzukehren, aus denen ihre ethnische Gruppe abstammt, obwohl sie dort über keine familiäre Bindung mehr verfügen (USDOS 11.3.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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