RS Vfgh 2020/6/26 E902/2020

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 26.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Kamerun; mangelnde Begründung der mündlich verkündeten Entscheidung, keine ausreichende Auseinandersetzung mit UNHCR-Richtlinien zur Homosexualität sowie mangelhafte Beweiswürdigung und -erhebung

Rechtssatz

Ein mündlich verkündetes Erkenntnis, dessen wesentliche Begründung nicht aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung hervorgeht, ist mangels Gelegenheit zur nachprüfenden Kontrolle durch den VfGH schon aus diesem Grund mit Willkür belastet; dies trotz Vorliegens der schriftlichen Ausfertigung dann, wenn das mündlich verkündete Erkenntnis - wie hier - überhaupt nicht begründet ist.

Bei der Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz ist den Berichten des UNHCR und des EASO besondere Beachtung zu schenken. Dies gilt auch für die vom UNHCR herausgegebenen "Guidelines on International Protection No. 9: Claims to Refugee Status based on Sexual Orientation and/or Gender Identity within the context of Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or its 1967 Protocol relating to the Status of Refugees" vom 23.10.2012 (SOGI-Richtlinien). Aus diesen Richtlinien geht hervor, dass die Tatsache, leibliche Kinder zu haben und eine heterosexuelle Beziehung zu führen, für sich genommen noch nicht gegen die behauptete Homosexualität eines Antragstellers spricht, weil dies durch Schuld- und Schamgefühle und den sozialen Druck, nur anerkannte Beziehungsformen zu leben, motiviert sein kann und dass diese Schamgefühle dazu führen, dass Antragsteller nur schwer Auskunft über ihre Sexualität und damit ihren Fluchtgrund geben können.

Mit diesen Faktoren hat sich das Bundesverwaltungsgericht (BVWG) nicht ausreichend auseinandergesetzt. In diesem Lichte erweist sich die Beweiswürdigung des BVwG als nicht nachvollziehbar. Schon gemäß dessen eigener Rsp schließen etwa das Führen einer Beziehung mit gegengeschlechtlichen Personen oder das Vorhandensein leiblicher Kinder eine behauptete Homosexualität nicht aus.

Überdies hat das BVwG es unterlassen, sich mit den vorgelegten Beweismitteln auseinanderzusetzen, so insbesondere, aber nicht nur, mit dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Haftentlassungsschein des Zentralgefängnisses von Yaoundé. Aus diesem geht hervor, dass der Beschwerdeführer wegen "homosexueller Praktiken und Störungen der öffentlichen Ordnung" angehalten worden war. In der Beweiswürdigung fehlt ein Eingehen auf dieses Beweismittel. Für den VfGH ist nicht nachvollziehbar, warum das BVwG diese Urkunde trotz des Vorbringens des Beschwerdeführers, ihres eindeutigen Inhalts und ihrer Erörterung in der mündlichen Verhandlung nicht für erheblich gehalten hat.

Unschlüssig ist das angefochtene Erkenntnis, wenn das BVwG zwar feststellt, dass sich der Knochenumbau der Füße des Beschwerdeführers gemäß ärztlichem Gutachten gut mit den von ihm vorgebrachten Folterhandlungen vereinbaren lasse, in der Beweiswürdigung dies allerdings mit keinem Wort erwähnt und die Erzählung von der Folter durch die Polizei für unglaubwürdig hält.

Völlig verkennt das BVwG seine Ermittlungspflicht, wenn es dem Beschwerdeführer vorhält, dass er eine bestimmte Person als Zeugen zum Beweis seiner Homosexualität nicht angeboten habe, anstatt diese Person selbst als Zeugen zu laden und einzuvernehmen, wenn das BVwG deren Aussage für entscheidungserheblich hält.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E902.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.06.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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