TE Vfgh Erkenntnis 2020/7/14 E4666/2019

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Veröffentlicht am 14.07.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen aus Afghanistan; mangelnde Auseinandersetzung mit einem Bericht des EASO

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und Schiit, wurde am 9. Oktober 1998 in Afghanistan geboren und floh im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise in das Bundesgebiet im Jahr 2015 lebte. Er stellte am 7. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 20. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt V.).

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 25. Juli 2019 – mit der Maßgabe, dass Spruchpunkt V. zu lauten habe: "Es wird gemäß §52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß §46 nach Afghanistan zulässig ist. Gemäß §55 Absatz 1 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung." – als unbegründet ab.

Begründend wird in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zum subsidiären Schutz im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Nach den aktuellen Länderberichten sei alleinstehenden, erwachsenen Männern wie dem Beschwerdeführer grundsätzlich eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zumutbar. Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig und verfüge über eine sechsjährige Schulbildung und über eine vierjährige Berufserfahrung als Schneider. Er habe sein bisheriges Leben in seinem afghanischen Familienverband verbracht, sei mit den kulturellen Gepflogenheiten Afghanistans vertraut und könne sich in einer der dortigen Landessprachen verständigen. Der Beschwerdeführer gehöre der Volksgruppe der Hazara an, deren Gesellschaft traditionell strukturiert sei und deren soziales Netz auf der Familie bzw dem Clan basiere. Der Beschwerdeführer könne im Falle der Rückkehr nach Afghanistan von seiner im Iran lebenden Familie bzw seinem ehemaligen iranischen Arbeitgeber finanziell unterstützt werden; eine räumliche Trennung stehe dem nicht entgegen. Überdies könne der Beschwerdeführer Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Es sei dem Beschwerdeführer daher auf Grund seiner persönlichen Verhältnisse möglich und zumutbar in Afghanistan Wohnraum zu finden und ein für seinen Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

3. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

4. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

5. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

5.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif möglich sei, und stützt sich dabei auch auf die "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2018. Diese gehe davon aus, dass alleinstehenden Männern eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zumutbar sei, auch wenn die Betroffenen dort über kein Unterstützungsnetzwerk verfügen würden.

5.2. Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass die von ihm herangezogenen EASO-Leitlinien aus Juni 2018 (die aktuellere Fassung aus Juni 2019 enthält keine hier relevanten Neuerungen) eine spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Beschwerdeführers, der seit seinem sechsten Lebensjahr im Iran gelebt hat und aufgewachsen ist, enthalten (s S 139 der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2019):

Aus dem Bericht des EASO geht hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht ohne weiteres in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

5.3. Damit hat sich das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf den diesem Personenkreis angehörenden Beschwerdeführer, der nach den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses seit seinem sechsten Lebensjahr bis zur Ausreise ins Bundesgebiet im Iran lebte und in Afghanistan keine Familie hat, die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen. Das Bundesverwaltungsgericht trifft lediglich Ausführungen in Bezug auf die familiären Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers im Iran, setzt sich jedoch in keiner Weise damit auseinander, ob der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr im Herkunftsstaat ein Unterstützungsnetzwerk vorfinden würde. Es hat die "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO seiner Entscheidung zugrunde gelegt, aber ohne nähere Begründung eine von deren Inhalt abweichende Schlussfolgerung gezogen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher unter Außerachtlassung des konkreten Sachverhaltes erfolgt (vgl VfGH 12.12.2019, E236/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 12.12.2019, E3350/2019; 12.12.2019, E3369/2019; 8.6.2020, E1044/2020).

5.4. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich somit schon aus diesen Gründen im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK als verfassungswidrig. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

5.5. Mit Blick auf die dargestellte Berichtslage und die wiedergegebene Recht-sprechung bedarf es daher im fortgesetzten Verfahren einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer, der seit seinem sechsten Lebensjahr bis zur Ausreise ins Bundesgebiet im Iran lebte, dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art3 EMRK, weder der Folter, noch erniedrigender oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wird (vgl auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160).

6. Im Übrigen (hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtig-ten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E4666.2019

Zuletzt aktualisiert am

18.09.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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