TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/21 Ra 2020/18/0157

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Veröffentlicht am 21.08.2020
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 1997 §7
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §68 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des B Ö, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März 2020, L526 2219751-4/2E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger der kurdischen Volksgruppe, stellte am 29. Oktober 2018 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz, in dem er geltend machte, als Mitglied der HDP von türkischen Sicherheitsbehörden verfolgt zu werden.

2        Mit Bescheid vom 5. März 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

3        Am 14. Jänner 2020 stellte der Revisionswerber einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung verwies er auf sein bisheriges Fluchtvorbringen und ergänzte, er verfüge nun über Beweismittel, die zum einen die alten Fluchtgründe untermauerten und zum anderen neue Verfolgungshandlungen dokumentierten. So habe er etwa eine Kopie eines Schreibens der HDP erhalten, in dem bestätigt werde, dass die Polizei noch immer regelmäßig nach ihm suche. Zur Familie in der Türkei habe der Revisionswerber seit einem Monat keinen Kontakt mehr. Auch bei ihr würde nach dem Revisionswerber gesucht und ihr Telefon werde abgehört. Freunde des Revisionswerbers, mit denen er HDP-Veranstaltungen besucht habe, seien von der Polizei mitgenommen worden. Seit vier oder fünf Monaten höre man gar nichts mehr von ihnen. Der Bürgermeister seiner Heimatstadt (ebenfalls HDP-Mitglied) sei zwischenzeitlich nach Deutschland geflüchtet.

4        Mit Bescheid vom 6. Februar 2020 wies das BFA den Folgeantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei, erließ ein Einreiseverbot in der Dauer von zwei Jahren und stellte fest, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe.

5        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, das neue Vorbringen im Folgeantrag sei aus näher dargestellten Gründen als nicht glaubhaft zu werten. Insgesamt könne keine relevante wesentliche Änderung des Sachverhalts seit der rechtskräftigen Entscheidung über den ersten Asylantrag erkannt werden und liege in Bezug auf das Vorbringen zu den neu hinzugekommenen Sachverhaltselementen auch kein „glaubhafter Kern“ vor, dem für die Entscheidung Relevanz zukomme und an den eine positive Entscheidungsprognose anknüpfen könnte. Dies gelte sowohl für den Status des Asylberechtigten als auch für den subsidiären Schutz. Sofern der Revisionswerber darauf verweise, dass die menschenrechtsrelevante Situation für die Kurden in der Türkei schlechter geworden sei und nach den Wahlen mehrere Bürgermeister abgesetzt worden seien, sei nicht ersichtlich, wie der Revisionswerber davon konkret betroffen wäre. Er habe nicht verdeutlichen können, dass er durch die genannten Vorfälle als gefährdet zu betrachten sei. Seit dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens sei keine Änderung der allgemeinen Situation in der Türkei eingetreten, welche die Annahme einer extremen Gefährdungslage für den Revisionswerber gerechtfertigt erscheinen ließe. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK vor und gelangte zu dem näher begründeten Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet sein persönliches Interesse am Verbleib überwiege. Das vom BFA verhängte Einreiseverbot sei rechtens, weil der Revisionswerber seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei, sondern die rechtsstaatlich getroffene Entscheidung nicht akzeptiert und einen Folgeantrag gestellt habe. Daraus resultiere eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Der Revisionswerber lege kein Verhalten an den Tag, das eine positive Zukunftsprognose zulassen würde.

7        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit unter anderem geltend gemacht wird, der Revisionswerber habe im Zuge der Befragung zu seinem Folgeantrag vorgebracht, die Lage der Kurden in seinem Herkunftsort habe sich weiter verschlechtert und es sei zu einer großen Zahl an politisch motivierten Verhaftungen von HDP-Mitgliedern gekommen. Auf Grund der sich verschärfenden Schikanen habe sich der Revisionswerber gezwungen gesehen, den Kontakt zu seiner Familie in der Türkei abzubrechen. Die Asylbehörde habe es unterlassen, konkrete Ermittlungen zur Situation in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers vorzunehmen bzw. den Revisionswerber näher zu den Verhaftungen von HDP-Mitgliedern bzw. zu den Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber seiner Familie zu befragen. Nicht zuletzt hätte der Bürgermeister der Heimatstadt des Revisionswerbers, der in Deutschland um internationalen Schutz angesucht habe, im Rahmen der Amtshilfe Auskunft über die veränderte Situation geben können. Der Revisionswerber hätte bei ordnungsgemäßer Führung des Ermittlungsverfahrens die Gründe, die ihn zu einer erneuten Antragstellung bewogen hatten, glaubwürdig schildern können. Hinzu komme, dass das BVwG keine eigenständigen Länderfeststellungen, insbesondere zur Lage von Mitgliedern der HDP, zur Situation in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers sowie zur Vorgehensweise der türkischen Sicherheitsbehörden getroffen habe. Auch die den Bescheiden (gemeint offenbar: den Bescheiden des BFA im ersten Asylverfahren und im gegenständlichen Folgeantragsverfahren) zugrunde liegenden Länderfeststellungen würden im angefochtenen Erkenntnis nicht wiedergegeben. Aus diesen ergebe sich beispielsweise ein ansteigender Druck auf Mitglieder und Funktionäre der HDP in Folge der Kommunalwahlen und eine damit verbundene „systematische Kampagne der Verleumdung und des Hasses“. Eine nachprüfende Kontrolle des Erkenntnisses sei vor diesem Hintergrund nicht möglich.

8        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision ist zulässig und begründet.

11       „Sache“ des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens war (vorrangig) die Frage, ob das BFA den Folgeantrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zu Recht wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hatte.

12       Das BVwG hatte dementsprechend zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist.

13       Die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat - von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen - im Beschwerdeverfahren anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen. Dabei entspricht es im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhalts die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung berechtigten und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukommt; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrags darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen (vgl. etwa VwGH 15.4.2020, Ra 2019/18/0234, mwN), an den eine positive Entscheidungsprognose im obigen Sinne anknüpfen kann. Die Behörde hat sich insoweit bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit des (neuerlichen) Asylantrags mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers (und gegebenenfalls mit der Beweiskraft von Urkunden) auseinander zu setzen. Ergeben die Ermittlungen der Behörde, dass eine Sachverhaltsänderung, die eine andere Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei in Wahrheit nicht eingetreten ist, so ist der Asylantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen (vgl. dazu etwa grundlegend VwGH 4.11.2004, 2002/20/0391, mwN).

14       Im vorliegenden Fall führte das BVwG aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers zum Folgeantrag fuße auf seiner im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgeschichte. Selbst wenn man ihm zugestehen wolle, dass es sich um ein neues Sachverhaltselement handle, so sei auch dieses neue Vorbringen als nicht glaubhaft zu werten. In diesem Zusammenhang nahm das BVwG eine umfassende Beweiswürdigung vor, in der es den Beweiswert des vorgelegten Schreibens der HDP und die behauptete Suche der türkischen Sicherheitsbehörden nach dem Revisionswerber bei seiner in der Türkei verbliebenen Familie in Zweifel zog. Verfolgungshandlungen gegenüber Freunden in der Türkei und dem Bürgermeister der Heimatstadt seien bereits im Erstverfahren angegeben worden. Eine wesentliche Änderung des Vorbringens im Vergleich zum ersten Asylverfahren sei darin nicht zu erblicken. Zur aktuellen Lage in der Türkei schließe sich das BVwG den Ausführungen des BFA (die in der angefochtenen Entscheidung nicht wiedergegeben werden) an. Wenn der Revisionswerber darauf verweise, dass die menschenrechtsrelevante Situation für die Kurden in der Türkei schlechter geworden sei, sei nicht ersichtlich, wie er davon konkret betroffen wäre. Insgesamt könne keine relevante wesentliche Änderung des Sachverhalts seit der rechtskräftigen Entscheidung über den ersten Asylantrag erkannt werden und es liege in Bezug auf das Vorbringen zu den neu hinzugekommenen Sachverhaltselementen auch kein „glaubhafter Kern“ vor.

15       Die Revision macht zu Recht geltend, dass sich diese Beurteilung auf der Grundlage der Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis einer nachprüfenden Kontrolle entzieht.

16       Vorauszuschicken ist, dass ein Folgeantrag zwar wegen entschiedener Sache zurückzuweisen wäre, wenn der Asylwerber an seinem (rechtskräftig) nicht geglaubten Fluchtvorbringen unverändert festhielte und sich auch in der notorischen Lage im Herkunftsstaat keine - für den internationalen Schutz relevante - Änderung ergeben hätte. Werden aber beispielsweise neue (für den internationalen Schutz relevante) Geschehnisse geltend gemacht, die sich nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens ereignet haben sollen, ist es nicht rechtens, die Prüfung dieses geänderten Vorbringens bloß unter Hinweis darauf abzulehnen, dass es auf dem nicht geglaubten Fluchtvorbringen des ersten Asylverfahrens fuße. Das neue Vorbringen muss vielmehr daraufhin geprüft werden, ob es einen „glaubhaften Kern“ im Sinne der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung aufweist. Könnten die behaupteten neuen Tatsachen zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, bedarf es einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubhaftigkeit (vgl. etwa VwGH 22.11.2005, 2005/01/0626; VwGH 22.12.2005, 2005/20/0556; VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025; VwGH 5.6.2019, Ra 2018/18/0507; VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0487).

17       Im gegenständlichen Folgeantrag hat der Revisionswerber neue Verfolgungshandlungen gegen seine Person und eine massive Verschlechterung der Lage für HDP-Mitglieder in seiner Herkunftsprovinz behauptet; Sachverhaltselemente, die sich nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens ereignet haben sollen.

18       Das BVwG hat den vorgebrachten (fortgesetzten) Verfolgungshandlungen gegen den Revisionswerber keinen Glauben geschenkt. Auf die dazu angestellten beweiswürdigenden Überlegungen braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Entscheidend ist nämlich, dass das BVwG, wie die Revision im Ergebnis richtig ausführt, keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat, um die mangelnde Zulässigkeit des Folgeantrags beurteilen zu können: So bleibt unklar, ob das BVwG die behauptete HDP-Mitgliedschaft des Revisionswerbers in Zweifel zieht oder nicht. Sollte dem Revisionswerber aber geglaubt werden, HDP-Mitglied zu sein, wäre sein neues Vorbringen, die Lage für HDP-Mitglieder in seiner Heimatprovinz habe sich in der jüngeren Vergangenheit massiv verschlechtert, vor dem Hintergrund aktueller Länderberichte zu überprüfen. Erst auf dieser Grundlage ließe sich beurteilen, ob sich der maßgebliche Sachverhalt nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens wesentlich geändert hat und eine inhaltliche Prüfung des Folgeantrags erfordert. Die Revision bringt zu Recht vor, dass das BVwG im angefochtenen Erkenntnis keine Länderfeststellungen getroffen hat, die diese Beurteilung zuließen.

19       Das angefochtene Erkenntnis war daher schon wegen dieses Begründungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20       Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

21       Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. August 2020

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle Wahrheit Zurückweisung wegen entschiedener Sache

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180157.L00

Im RIS seit

28.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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