Entscheidungsdatum
20.08.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L519 1425985-3/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 5.8.2019, Zl. 820307710-190375588, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 AVG 1991 idgF, §§ 10 Abs. 1 Z 3, 57, 15 b Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG idgF sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 55 Abs. 1a und 53 Abs. 1 und 2 Z. 1 FPG 2005 idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes von 3 auf 1 Jahr herabgesetzt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als "BF" bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, stellte am 14.3.2012 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.
Als Begründung für das Verlassen des Herkunftsstaates brachte der BF zusammengefasst vor, dass er als Kurde in der Türkei verfolgt werde. Er wolle keinen Militärdienst leisten, da er nicht gegen Kurden kämpfen wolle. In der Türkei habe er an Demonstrationen und Newrozfeiern teilgenommen, weiter unterstütze er die DTP. Weil der mittlerweile in Österreich lebende Onkel des BF bei der PKK gewesen sei, sei die ganze Familie des BF unter Druck gestanden. Außerdem habe der BF bei der Jugendorganisation der KCK mitgewirkt.
I.2. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.3.2012 gemäß § 3 Absatz 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Absatz 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 Asylgesetz wurde der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Fluchtgrund des BF nicht glaubhaft bzw. nicht asylrelevant sei.
Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4.6.2012, E5 425.985-1, als unbegründet abgewiesen. Dieses Erkenntnis erwuchs am 12.6.2012 in Rechtskraft.
Mit Beschluss des VfGH vom 26.9.2012, U 1341/12-3, wurde die Behandlung der vom BF dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerde abgelehnt.
I.3. Am 11.4.2019 brachte der BF den verfahrensgegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz ein, nachdem er am 12.9.2013 in Frankreich ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte.
Im Rahmen der Erstbefragung gab der BF an, dass er nicht in die Türkei zurückkönne, da er aus einer politischen Familie komme. Seine Familie würde wegen seines nunmehr in Österreich lebenden Onkels XXXX , der unter anderem die PKK unterstützt habe, verfolgt. Der BF befürchte im Fall einer Rückkehr seine Festnahme, um danach zum Militär rekrutiert zu werden.
Beim BFA gab der BF zusammengefasst an, er sei nach Österreich gekommen, weil seine Brüder hier sind. Er habe auch in Frankreich einen negativen Bescheid erhalten. Dann sei er illegal in die Türkei zurück, da ihm dort der Wehrdienst droht. Deswegen werde in der Türkei auch nach ihm gesucht, sonst habe er keine Probleme mit Behörden oder Polizei. 2012 habe er den Einberufungsbefehl erhalten. Er sei auch niemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei gewesen, lediglich sein Onkel Mustafa sei früher bei der PKK gewesen. Deswegen stünde auch die Familie des BF unter Beobachtung. Seit 2004 bestehe aber keine Verbindung mehr zur PKK. Der Vater und der Großvater des BF hätten die kurdische Partei unterstützt. Alle Leute, die die Partei unterstützen, würden festgenommen.
I.4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z .3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG erlassen. Es wurde zudem gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Absatz 1a FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt. Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z.1 FPG wurde über den BF ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt hervorgekommen sei, zumal der BF sich auf jene Gründe stütze, die er im bereits rechtskräftig entschiedenen vorangegangenen Verfahren vorbrachte. Diesen Fluchtgründen kam schon damals keine Glaubhaftigkeit bzw. Asylrelevanz zu. Zudem brachte der BF vor, zwischenzeitig in die Türkei zurückgekehrt sein, ehe er erneut fliehen habe müssen, da er in der Türkei bedroht und verfolgt würde.
Die Schilderung des Vorbringens sei äußerst rudimentär, detail- und inhaltslos erfolgt. So habe der BF auch nach mehrmaligem Rückfragen und der Aufforderung des Leiters der Amtshandlung, sein Vorbringen ausführlicher zu schildern, keine konkreten Vorfälle oder Bedrohungen angeben können. Er führte lediglich aus, dass sein Problem noch immer bestehen würde. Er sei deshalb illegal in die Türkei zurückgekehrt und habe dort in der Anonymität für 1,5 Jahre bei Freunden gelebt und nicht arbeiten können. Es habe in dieser Zeit keinen Behördenkontakt oder Kontrollen durch die Polizei gegeben, da der BF kaum in die Öffentlichkeit gegangen sei.
Der BF sei 2017 (genaues Datum nicht bekannt) in der Fahrerkabine eines LKW in die Türkei zurückgekehrt. Nach neuerlichem Verlassen der Türkei habe sich der BF erneut versteckt in der Fahrerkabine eines LKW illegal nach Österreich begeben. Die Rückkehr nach Österreich sei am Donnerstag, 11.4.2019, ca. 22.00 Uhr erfolgt. Befragt danach, wie es dann sein könne, dass der BF bereits am selben Tag um 16.15 Uhr in XXXX in einen Verkehrsunfall verwickelt sein konnte, gab der BF an, dass es dann doch der 10.4.2019 gewesen sei, an dem er angekommen ist. Es sei jedoch seine Absicht gewesen, einen Asylantrag zu stellen. Befragt dazu, weshalb er dann nach dem Verkehrsunfall zunächst Fahrerflucht begangen hat, antwortete der BF lediglich ausweichend und begründete dies mit Angst und Stress.
Der BF gab an, als Beweis für seine Rückkehr in die Türkei ein Kinoticket vorlegen zu können, da er in XXXX mit seinem Cousin/Freund in einem Horrorfilm gewesen sei. Gleichzeitig konnte der BF weder den Filmtitel noch die Handlung des Films wiedergeben. Trotz Zusicherung ist auch das Kinoticket vom BF nicht vorgelegt worden.
Als Beweis für die Rückkehr in die Türkei legte der BF letztlich am 26.6.2019 einen abfotografierten angeblichen ärztlichen Befund des XXXX Krankenhauses in XXXX vor, dem zu entnehmen sein soll, dass der BF am 18.2.2019 dort in Behandlung gewesen sei. Der BF konnte über Befragen jedoch nicht einmal den Namen des Krankenhauses angeben, obwohl dieser auf dem vom BF vorgelegten Foto angeführt ist. Auch den Namen des behandelnden Arztes konnte der BF nicht nennen. Er gab lediglich an, dass es sich um einen Augenarzt gehandelt habe. Eine Überprüfung der Angaben des BF im Internet ergab zwar, dass es ein Krankenhaus mit diesem Namen tatsächlich gibt und auch der angeführte Arzt dort ordiniert. Jedoch habe der BF diesen nicht erkennen können, als ihm dessen Lichtbild vorgelegt wurde. Auch verstrickte sich der BF (wie schon bei seinen Angaben zum Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Österreich) in Widersprüche betreffend den Behandlungszeitpunkt. Dies ging sogar soweit, dass der BF mehrfach zwischen 18.2.2017, 18.2.2018 und 18.2.2019 wechselte bzw. als Rechtfertigung dafür sogar behauptete, dass der Arzt diesbezüglich einen Fehler gemacht habe und dies angeblich korrigiert hätte. Glaubwürdige Gründe dafür habe der BF nicht angegeben. Eine Überprüfung des vorgelegten Beweismittels sei, da es sich um eine Kopie handelt, nicht möglich. Den vorgelegten Ausdrucken kommt daher deshalb und auch aufgrund obiger Erwägungen keine Beweiskraft zu.
Zu den vorgelegten Lichtbildern, die ein Haus mit Gewehreinschusslöchern und gefesselte, am Boden liegende Personen zeigen, sei auszuführen, dass der BF auch hier keine glaubwürdigen, überprüfbaren konkreten Angaben zum Entstehungszeitpunkt und -ort machen konnte oder wollte. Auch konnte er nicht glaubhaft darlegen, in welchem Zusammenhang diese Lichtbilder mit seinem Asylverfahren stehen. Diesen Lichtbildern komme daher keine Relevanz bzw. Beweiskraft zu.
Auch die schlepperunterstützte Rückkehr in die Türkei sei nicht glaubhaft, hätte der BF doch behörden- oder NGO-unterstützt zurückkehren können, wozu er auch mehrfach aufgefordert wurde. Auch Rückkehrhilfe wäre dem BF zugänglich gewesen. Eine Rückkehr wäre schon allein aufgrund des vorhandenen Nüfus mit einer türkischen Fluglinie jederzeit möglich gewesen. Statt diese Unterstützungsleistungen anzunehmen, führte der BF äußerst rudimentär eine mehrtägige schlepperunterstützte Reise über unbekannte Länder in die Türkei an. An Kosten für diese Reise habe der Vater des BF 8.000,- Euro bezahlt.
Zudem waren dem BF seine Probleme bereits vor der Rechtskraft des ersten Asylverfahrens (5.4.2012) bekannt und habe er diese dort auch bereits vorgebracht. Nicht vorgelegt hat der BF trotz Zusage Beweismittel für sein Vorbringen, z.B. den Einberufungsbefehl aus 2012. Damit habe der BF seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren verletzt, über die er auch nachweislich informiert worden war.
Eine Anfrage an die Staatendokumentation habe zudem ergeben, dass es keine Hinweise dafür gibt, dass kurdisch-stämmige Rekruten in der türkischen Armee aufgrund ihrer Abstammung anders behandelt würden und auch nicht dafür, dass diese gezielt gegen die PKK eingesetzt würden. Die Erhebungsergebnisse der Staatendokumentation und die Kurzinformation vom 27.6.2019 betreffend Wehrdienstverkürzung von 12 auf 6 Monate, wobei es zusätzlich eine Möglichkeit gibt, sich von weiteren 5 Monaten freizukaufen, womit sich der Wehrdienst auf eine einmonatige militärische Ausbildung verkürzt, wurden dem BF zur Kenntnis gebracht. Trotz Gewährung einer Frist zur Stellungnahme dazu, sei eine solche nicht erfolgt.
Das BFA konnte auch keine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung des BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei erkennen. Auch habe sich die allgemeine maßgebliche Lage in der Türkei seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung im ersten Asylverfahren nicht geändert.
Zu Art 8 EMRK wurde ausgeführt, dass sich in Österreich ein Bruder und 3 Onkel des BF mit ihren Familien befinden. Ein weiterer Bruder befinde sich im Asylverfahren. Ein gemeinsamer Wohnsitz mit einem dieser Verwandten bestehe nicht. Der BF sei nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF habe keine anderweitigen besonderen sozialen Bindungen in Österreich. In einer Gesamtabwägung würden daher jedenfalls die öffentlichen Interessen an einer Rückkehrentscheidung überwiegen.
Der BF sei untergetaucht und habe sich beharrlich geweigert, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen, was eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle.
Dieser Bescheid des BFA wurde dem BF rechtswirksam am 8.8.2019 durch Hinterlegung zugestellt.
I.5. Mit Schriftsatz vom 13.8.2019 wurde fristgerecht Beschwerde gegen diesen Bescheid erhoben. Neben Wiederholungen, allgemeinen Ausführungen und Auszügen aus diversen Länderberichten wurde zusammengefasst vorgebracht, dass Ermittlungsverfahren und Beweiswürdigung mangelhaft seien. Außerdem sei die rechtliche Beurteilung unrichtig. Es liege eine maßgebliche Änderung des Sachverhaltes vor. Der BF sei zwischenzeitig in die Türkei zurückgekehrt, habe sich aber wegen des drohenden Wehrdienstes versteckt halten müssen. Zudem würden in der Herkunftsregion des BF Unterstützer der Kurden regelmäßig misshandelt, festgenommen und gefoltert.
Kurdische Rekruten würden in den Konfliktzonen der SO-Türkei eingesetzt, wo sie Gefahr laufen, auf kurdische Deserteure zu stoßen, die sich der PKK angeschlossen haben. Überdies hätten kurdische Rekruten ein hohes Risiko, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden. 90 % der Selbstmorde beim Militär seien Kurden. Wehrdienstverweigerer würden als PKK-Sympathisanten angesehen.
Die belangte Behörde sei nicht auf das individuelle Vorbringen des BF eingegangen. Mangels näherem Hinterfragen habe sie auch ihre Ermittlungspflichten verletzt.
Dem BF sei allenfalls lediglich der illegale Aufenthalt als Fehlverhalten anzulasten. Er sei bei seinem Bruder wohnhaft und stelle keine Belastung einer Gebietskörperschaft dar. Das Einreiseverbot in der festgesetzten Dauer sei daher nicht gerechtfertigt.
I.6. Hinsichtlich des Verfahrensinhalts im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Der Beschwerdeführer:
Beim BF handelt es sich um einen gesunden, ledigen, kinderlosen, türkischen Staatsangehörigen, der zur Volksgruppe der Kurden gehört und sich zum Islam bekennt. Neben Kurdisch spricht der BF auch Türkisch.
Die Identität des BF steht aufgrund der vorgelegten Dokumente ( Nüfus, türk. Führerschein) fest.
Der BF wurde in XXXX geboren, wo er auch 8 Jahre die Schule besucht hat. Zuletzt hat er in XXXX im Bezirk XXXX , Provinz XXXX im landwirtschaftlichen Anwesen seiner Eltern gelebt und als Fahrer in der Landwirtschaft gearbeitet. Die Eltern des BF und 2 seiner insgesamt 4 Schwestern leben nach wie vor auf dieser Landwirtschaft. Eine Schwester ist verheiratet und lebt in XXXX . Eine Schwester lebt in Frankreich.
Der BF reiste am 26.2.2012 erstmals illegal in das Bundesgebiet ein.
Der 1. Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BAA vom 22.3.2012 gemäß § 3 Absatz 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Absatz 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen. Gem. § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4.6.2012, E5 425.985-1, als unbegründet abgewiesen. Die Behandlung der Beschwerde gegen dieses Erkenntnis hat der VfGH mit Beschluss vom 26.9.2012, U 1341/12-3, abgelehnt.
Am 12.9.2013 hat der BF in Frankreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Am 4.6.2015 wurde dem BF vom türkischen Konsulat in Paris ein Nüfus ausgestellt.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der BF geht in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und hat auch keine Bemühungen in diese Richtung unternommen. In Österreich leben 3 Onkel des BF, von denen 2 österreichische Staatsbürger sind sowie 2 Brüder, von denen 1 ebenfalls österreichischer Staatsbürger ist. Der 2. Bruder befindet sich im Asylverfahren 1. Instanz. Seit 26.6.2019 ist der BF bei einem seiner Onkel polizeilich gemeldet. Wechselseitige Pflege- oder Abhängigkeitsverhältnisse waren nicht feststellbar.
Es besteht auch kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis zu in Österreich lebenden Personen. Der BF hat bislang kein Sprachdiplom vorgelegt und hat keine sozialen Bindungen zu Österreichern. Er ist nicht Mitglied in einem österreichischen Verein oder einer österreichischen Organisation.
Im gegenständlichen Fall ergab sich seit Rechtskraft des 1. Asylverfahrens weder eine maßgebliche Änderung bzw. Verschlechterung in Bezug auf die den BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat, noch in sonstigen in der Person des BF gelegenen wesentlichen Umständen.
Ebenso ergab sich keine sonstige aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation des BF.
Eine relevante Änderung der Rechtslage konnte ebenfalls nicht festgestellt werden.
In Bezug auf die individuelle Lage des BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei konnte keine im Hinblick auf den Zeitpunkt, an dem letztmalig über den Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich entschieden wurde, maßgeblich geänderte oder gar verschlechterte Situation festgestellt werden.
Es gibt keine Hinweise dafür, dass kurdisch-stämmige Rekruten in der türkischen Armee aufgrund ihrer Abstammung anders behandelt würden als türkisch-stämmige Rekruten. Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass kurdisch-stämmige Rekruten gezielt im Kampf gegen die PKK eingesetzt würden. Am 25.6.2019 trat in der Türkei ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wurde von 12 auf 6 Monate verkürzt. Türkische männliche Staatsbürger im Alter von 20 bis 41 Jahren müssen eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen 5 Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000,- Lira freikaufen.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF eine aktuelle sowie unmittelbare persönliche und konkrete Gefährdung oder Verfolgung in seinem Herkunftsstaat Türkei droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wäre.
Weiter konnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" liegen nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Die Abschiebung des BF in die Türkei ist zulässig und möglich.
Mit Strafverfügung der BH XXXX vom 4.7.2019, XXXX wurde über den BF wegen Verletzung des § 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 5 StVO eine Geldstrafe von insgesamt 250,- Euro verhängt.
Weitere Ausreisegründe und/oder Rückkehrhindernisse kamen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht hervor.
II.1.2. Zur asyl- und abschieberelevanten Lage in der Türkei:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz
Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 ?) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen.
Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Sirnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).
Quellen:
* DS - Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 27.6.2019
* HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent, Zugriff 27.6.2019
* IPA News (26.6.2019): Parliament brings major changes for Turkey's military service law, https://ipa.news/2019/06/26/parliament-brings-major-changes-for-turkeys-military-service-law/, Zugriff 27.6.2019
KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019).
Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019).
Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).
Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).
Quellen:
* Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul's mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 24.6.2019
* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 24.6.2019
* Der Standard (1.4.2019): Erdogans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 24.6.2019
* Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 24.6.2019
* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 24.9.2019
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).
Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.
Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.
Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)
Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).
Quellen:
* EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen, Zugriff 14.3.2019
* EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019
* TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;
die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.
In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018
* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018
* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018
* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018
* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018
* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018
* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018
* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018
* ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018
2. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018
* BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018
* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018
* MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018
* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017
1.
2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).
Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).
Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).
Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).
Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).
Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).
Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).
Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).
Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Pe