Entscheidungsdatum
22.04.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W279 2180445-1/15E
W279 2180450-1/15E
W279 2180415-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX .1987, 2.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX .1991, 3.) XXXX , geb. XXXX 2011, gesetzlich vertreten durch ihre Kindesmutter XXXX alias XXXX , alle StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .11.2017, Zl. ( XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX .01.2020 zu Recht:
A) I. Die Beschwerden werden hinsichtlich Spruchpunkt I der angefochtenen Bescheide als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden wird hinsichtlich Spruchpunkt II der angefochtenen Bescheide stattgegeben und den BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 werden den BF befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 21.04.2021 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer (Im Folgenden: 1.BF) und die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: 2.BF) sind Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: 3.BF) und stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 14.11.2015 für sich und ihr minderjähriges Kind gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016BF.
2. Bei der durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung des 1.BF am selben Tag führte dieser zu seinem Fluchtgrund befragt zusammenfassend aus, dass er ohne Ausweis und Aufenthaltstitel nicht mehr im Iran leben habe können. Die Ausweise seiner gesamten Familie seien aufgrund der unerlaubten Reise seines Vaters nach Afghanistan annulliert worden. Die 2.BF gab an, dass ihr Ehemann im Iran keinen Ausweis und keinen Aufenthaltstitel mehr erhalten habe und ihre Tochter keine Schule besuchen habe können. Bei einer Rückkehr würde ihr Ehemann nach Afghanistan abgeschoben werden.
Zu seinen persönlichen Daten befragt, gab der 1.BF an, dass er im Iran geboren sei und der Religionszugehörigkeit der Schiiten und der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Im Iran habe er von 1994 bis 2002 die Grundschule besucht.
3. Am 05.10.2017 wurde der 1.BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: "BFA" genannt), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er zusammenfassend aus, dass er psychisch und physisch in der Lage sei, Angaben zu seinem Asylverfahren zu machen und sich nicht in ärztlicher Behandlung befinde. Er sei im Iran geboren worden und könne keine Identitätsdokumente in Vorlage bringen. Der 1.BF wisse nicht, ob er tatsächlich Tadschike sei, er sei aber jedenfalls schiitischer Moslem. Er sei verheiratet und Vater einer Tochter. Seine Eltern seien nach wie vor im Iran wohnhaft, in Afghanistan habe der 1.BF lediglich familiäre Anknüpfungspunkte in Form zweier Onkeln und zweier Tanten, zu denen er jedoch keinen Kontakt habe. Auf Nachfrage, wieso sein Vater Afghanistan verlassen habe, entgegnete der 1.BF, dass das zu Kriegszeiten wegen der Sowjets gewesen sei. Zudem sei dieser Paschtune und Sunnit gewesen und seine Mutter Schiitin, weshalb sein Vater zum schiitischen Glauben gewechselt habe und deshalb Probleme mit seinem Bruder bekommen habe. Die Frage, ob er im Iran im afghanischen Familienverband mit afghanischen Bräuchen aufgewachsen sei, wurde vom 1.BF verneint. Er sei hauptberuflich als Schneider tätig gewesen, habe jedoch auch andere Tätigkeiten als Goldschmied oder als Maler verrichtet. Den Iran habe der 1.BF am 17.10.2015 endgültig verlassen.
Die Fragen, ob er im Iran Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt habe, gegen ihn ein Gerichtsverfahren anhängig sei, wurde vom 1.BF verneint. Er sei zwar nie in Haft gewesen, sei jedoch wegen seines illegalen Aufenthalts im Iran einmal angehalten worden. Er sei auch kein Parteimitglied gewesen und habe auch keine Probleme mit dem afghanischen Staat gehabt. Sein Vater habe jedoch aufgrund von Konflikten mit seiner Familie Angst um seine Kinder gehabt. Auf Nachfrage, wieso dieser Angst um seine Familie gehabt habe, entgegnete der 1.BF, dass sich sein Vater beabsichtigt habe, ein Geschäft in Afghanistan zu verkaufen und im Zuge dessen von seiner Familie getötet worden sei. Befragt, wieso er davon ausgehe, dass er von seiner Familie umgebracht worden sei, erklärte der 1.BF, dass ein Freund seines Vaters seinem Bruder geraten habe, dass es besser sei, auf das Geschäft zu verzichten. Die Frage, ob sein Vater öfter nach Afghanistan gereist sei, wurde vom 1.BF verneint.
Zum Fluchtgrund befragt, führte der 1.BF aus, dass er sich illegal im Iran aufgehalten habe und seine Tochter keine Möglichkeit gehabt hätte, zur Schule zu gehen. Ein Jahr vor seiner endgültigen Ausreise hätten ihn iranische Behörden in Untersuchungshaft genommen und am nächsten Tag nach Afghanistan abgeschoben. Im Iran habe er ein Spielwarengeschäft gehabt und zuvor sei er als Schneider tätig gewesen. Ansonsten habe der 1.BF keine weiteren Fluchtgründe. Zur Frage, ob er im Iran je einen Aufenthaltstitel gehabt habe, entgegnete der 1.BF, dass er eine Aufenthaltskarte gehabt habe, bevor sein Vater nach Afghanistan gereist sei. Da sein Vater jedoch im Herkunftsstaat verstorben sei, seien die Aufenthaltstitel seiner gesamten Familie für ungültig erklärt worden. Befragt, wie es seiner Familie im Iran in weiterer Folge ergangen sei, erwiderte der 1.BF, dass es seinem Bruder durch eine Heirat gelungen sei, eine weitere Verlängerung seines Aufenthaltstitels zu bekommen. Er selbst habe jedoch eine Bescheinigung erhalten, das Land innerhalb von drei Monaten verlassen zu müssen. Neben seinem illegalen Aufenthalt seien auch Krankenhaus oder Arztbesuche sowie die zeitgerechte Ausbezahlung des Lohns problematisch gewesen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte der 1.BF, ein ähnliches Schicksal wie sein Vater zu erleiden. Überdies würden seiner Frau in Afghanistan überhaupt keine Rechte zukommen.
Zu seinen Lebensumständen in Österreich brachte der 1.BF vor, dass er Leistungen aus der Grundversorgung beziehe und im Bundesgebiet keiner Beschäftigung nachgehe. Zudem habe er mehrere Deutschkurse besucht, sei Mitglied beim Roten Kreuz und bei einem Abendgymnasium für einen Lehrgang angemeldet.
Die 2.BF erklärte im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme, dass sie im Iran acht Jahre die Schule besucht habe und ihr anschließend von ihrem Vater weitere Bildung verwehrt worden sei. Nach ihrer Heirat habe sie jedoch eine Abendschule besucht und diese nach zwei Jahren abgeschlossen. In weiterer Folge habe sie eine Ausbildung als Fitnesstrainerin absolviert, aufgrund ihrer afghanischen Herkunft jedoch kein Zeugnis darüber erhalten. Von ihrem Ehegatten habe sie Kenntnisse als Schneiderin erlernt und ihr Vater habe ihr seine Tätigkeit als Goldschmied nähergebracht, die 2.BF habe jedoch nie ein eigenes Einkommen gehabt, da sie im Iran keine Arbeitserlaubnis gehabt habe. Bezüglich ihrer Ausbildung zur Fitnesstrainerin habe sie auch kein Zertifikat erhalten. Befragt, wie groß ihre Familie sei, gab die 2.BF zu Protokoll, dass ihre Mutter, ihr Bruder und ihre Schwester nach wie vor im Iran wohnhaft seien. In Afghanistan habe sie lediglich einen Onkel, mit dem sie aufgrund einer bereits geplanten Eheschließung mit ihrem Cousin jedoch Probleme habe. Da die 2.BF sowohl eine Zwangsheirat und eine Rückkehr nach Afghanistan ausgeschlossen habe, sei sie von ihrem Vater beschimpft und geschlagen worden. In weiterer Folge habe ihr der Onkel mit dem Tod gedroht, falls sie eines Tages nach Afghanistan zurückkehre, da sie den Ruf ihrer Familie beschädigt habe. Auf Nachfrage, ob es im selben Jahr noch weitere Vorfälle mit ihrem Onkel gegeben habe, entgegnete die 2.BF, dass ihr Onkel bei einem Telefonat mit ihrem Vater Todesdrohungen geäußert habe, falls sie mit ihrer Familie nach Afghanistan komme. Ihr Onkel lebe mit seiner Familie in der afghanischen Provinz Kandarhar.
Zur Frage, welche Ausbildung sie absolviert habe, entgegnete die 2.BF, dass sie acht Jahre lang eine iranische Schule besucht habe und in zwei weiteren Jahren den Schulabschluss nachgeholt habe. Die Fragen, ob sie im Iran Probleme mit der Polizei oder staatlichen Stellen gehabt habe, in Afghanistan Probleme mit dem Staat oder staatlichen Stellen gehabt habe oder gegen sie ein Gerichtsverfahren anhängig sei, wurden von der 2.BF verneint. Sie sei auch nicht inhaftiert worden, sei kein Mitglied einer Partei gewesen und habe auch in keinen anderen Staaten um Asyl angesucht.
Zum Fluchtgrund befragt, erklärte die 2.BF, dass ihr Ehemann im Iran keinen gültigen Aufenthaltsstatus gehabt habe und bereits einmal nach Afghanistan abgeschoben worden sei, weswegen auch ihre Tochter keinen Aufenthaltstitel erhalten habe und keinen Zugang zur Schulbildung gehabt habe. Sie beziehe sich jedenfalls auf die Fluchtgründe ihres Mannes, für ihre Tochter würden dieselben Fluchtgründe gelten. Bei einer Rückkehr fürchte sie ihren Onkel sowie negative Zukunftsperspektiven für ihre Tochter. Befragt, ob sie sich mit den afghanischen Traditionen verbunden fühle, replizierte die 2.BF, dass sie ihrer Tochter nie vorschreiben würde, ein Kopftuch tragen zu müssen. Ihr Ehegatte gewähre ihr jedenfalls Entscheidungsfreiheit.
Zu ihren Lebensumständen in Österreich befragt, führte die 2.BF an, dass sie Leistungen aus der Grundversorgung beziehe und keine familiären Beziehungen in Österreich habe. Sie habe sowohl österreichische als auch iranische und afghanische Freunde im Bundesgebiet. Sie sei gelegentlich ehrenamtlich für Nachbarn tätig und habe bereits Deutschkurse besucht. Zudem habe sie sich mit ihrem Ehegatten für einen Lehrgang angemeldet und sei Mitglied beim Roten Kreuz, im Zuge dessen sie bei der Tafel XXXX aushelfe.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden vom 1.BF Kopien einer Bestätigung über die Teilnahme an den Treffen "Deutsch lernen" von Jänner bis Juni 2016, einer Bestätigung der Caritas vom 01.06.2016 über die Teilnahme an einer außerordentlichen Spracherwerbsmaßnahme für AsylwerberInnen in Grundversorgung im Ausmaß von 24 Unterrichtseinheiten, einer Bestätigung vom 21.12.2016 über die Teilnahme am Projekt "Deutschkurs für Asylwerber", einer Bestätigung der Caritas vom 12.01.2017 über die Teilnahme an einer außerordentlichen Spracherwerbsmaßnahme für AsylwerberInnen in Grundversorgung im Ausmaß von 18 von 24 Unterrichtseinheiten, einer Bestätigung vom 13.02.2017 über den Besuch eines Deutschkurses A1.3 vom 03.10.2016-13.02.2017, einer Bestätigung vom 27.06.2017 über den Besuch eines Deutschkurses A2.1 vom 27.02.2017-27.06.2017, einer Bestätigung vom 29.06.2017 über den Besuch eines Deutschkurses A2.1 vom 27.02.2017-29.06.2017, einer Bestätigung vom 02.10.2017 über den Besuch eines Deutschkurses A2.2 vom 25.09.2017-15.02.2018, einer Bestätigung des Abendgymnasiums XXXX vom 04.10.2017 über die Voranmeldung am Lehrgang für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch, einer Bestätigung eines Sportclubs über die Teilnahme an sportlichen Aktivitäten, einer Bescheinigung einer Freien Waldorfschule vom 02.05.2016 über die Mithilfe des 1.BF bei Geländearbeiten, einer Teilnahmebestätigung über die Teilnahme an einem Werte-und Orientierungskurs am 21.07.2017, einer Bestätigung des österreichischen Roten Kreuzes vom 22.03.2017 über die erfolgreiche Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Grundkurs vom 21.03.2017 bis zum 22.03.2017, eines Dienstausweises des Roten Kreuzes und ein Empfehlungsschreiben vom 25.07.2017 in Vorlage gebracht.
4. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den BF wurden gemäß §§ 57 AsylG Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der 1.BF keine persönliche Bedrohung durch die Familie seines Vaters ihm gegenüber angegeben habe. Als Fluchtgrund habe er seinen illegalen Aufenthaltsstatus im Iran angegeben. Auch seine Tochter habe keinen Status erhalten und somit auch keine Schule besuchen können. Die vom 1.BF geltend gemachte fluchtbegründenden Umstände seien nicht fähig, eine asylrelevante Bedrohung in Afghanistan zu begründen, da das BFA im Fall des 1.BF weder eine Verfolgung, die von einer staatlichen Behörde ausgehe noch eine dem Herkunftsstaat zurechenbare Verfolgung erkennen könne, zumal er selbst die Frage, ob er persönlich von irgendeiner staatlichen Seite Afghanistans Probleme gehabt habe, verneint habe. Die vom 1.BF geschilderte Tötung seines Vaters sei eine rein kriminelle Handlung, welche strafrechtlich zu verfolgen sei. Dazu komme, dass die vom 1.BF angegebene Tötung seines Vaters durch seine Familie nur eine rein subjektive Vermutung vom 1.BF sei und keine objektiv belegbare Tatsache. Die Vorkommnisse im Iran seien insofern nicht entscheidungsmaßgeblich, als bei der Prüfung des Vorliegens einer asylrechtlich relevanten wohlbegründeten Furcht auf den Herkunftsstaat Afghanistan abzustellen gewesen sei. Der 1.BF habe in einer Gesamtschau keine gegen ihn persönlich gerichteten aktuellen, konkreten Verfolgungshandlungen durch seinen Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Die erkennende Behörde sei daher zur Ansicht gelangt, dass der 1.BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan keiner asylrechtlich relevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre.
5. Die BF erhoben gegen die Bescheide fristgerecht gleichlautende Beschwerden. Sie brachten im Wesentlichen vor, dass der 1.BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Rache seines Onkels für die Konversion seines Vaters befürchte. Im Iran seien die BF aufgrund ihrer afghanischen Staatsangehörigkeit ständiger Diskriminierung ausgesetzt und vom Zugang bestimmter Einrichtungen ausgeschlossen. Die westliche Orientierung der 2.BF sei in der Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA außerordentlich stark ersichtlich. Durch die lange Aufenthaltsdauer in Europa und im Iran würden die BF allein schon aufgrund ihrer westlichen Lebensweise verfolgt werden. Auch bestehe für die BF keine innerstaatliche Fluchtalternative, da sich die ihnen drohende Verfolgung auf das gesamte Staatsgebiet erstrecke. Die BF würden Deutschkurse besuchen und seien um ihre soziale und berufliche Integration in Österreich bemüht. Die 2.BF mache eine Ausbildung zur Altenpflegerin und der 1.BF und die 2.BF würden einen Lehrgang am Abendgymnasium absolvieren. Zudem seien beide Mitglieder beim Roten Kreuz und würden regelmäßig bei der Tafel XXXX aushelfen. Die 2.BF sei als Reinigungskraft tätig und der 1.-und die 2.BF hätten bereits zahlreiche österreichische Freunde. Die erkennende Behörde habe das Fluchtvorbringen nicht mit der gebotenen Tiefe ermittelt. Die vom BFA herangezogenen Länderberichte seien außerdem zum Teil nicht mehr aktuell. Das BFA habe es im gegenständlichen Fall unterlassen, seiner Entscheidung einschlägige und aktuelle Länderberichte zugrunde zu legen. Die Behörde habe sich in keinster Weise mit der westlichen Orientierung und der politisch/gesellschaftlichen Einstellung der BF auseinandergesetzt. Bezüglich der prekären Lage in Afghanistan wurde auf zahlreiche Berichte verwiesen. Die BF hätten sich ehrverletzenden Verhalten in Form der Absage einer arrangierten Hochzeit schuldig gemacht. Gleichzeitig hätten die BF eine ihnen von ihren Verfolgern abweichende politisch-religiöse Gesinnung gezeigt. Die Feststellung des BFA basiere auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung sowie einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung und verletze § 60 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG). Aufgrund des mangelhaften Ermittlungsverfahrens habe das BFA jedenfalls eine solche ganzheitliche Würdigung nicht vorgenommen. Eine mangelfreie Beweiswürdigung habe schon deshalb nicht erfolgen können, weil die belangte Behörde unterlassen habe, vollständige Länderberichte zu recherchieren. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde beschränke sich auf eine Wiederholung des Fluchtvorbringens. Die belangte Behörde komme unrichtig zur Einschätzung, dass die Onkel und die Tanten des 1.BF die BF unterstützen könnten. Wenn die Behörde vermeine, dass ein westlich orientierter Lebensstil nicht angenommen werden könne, so sei dies absolut falsch. Die erstinstanzliche Behörde habe nach einem mangelhaften Ermittlungsverfahren das Verfahren zusätzlich mit einer mangelhaften Beweiswürdigung und Begründung belastet. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Der Beschwerde wurde eine Schulbestätigung vom 27.11.2017 angeschlossen, wonach die 2.BF im Schuljahr 2017/18 eine Übergangsstufe für Flüchtlinge am Ausbildungszentrum für Sozialberufe besuche.
In einer Beschwerdeergänzung vom 20.03.2019 wurde vom bevollmächtigten Vertreter der BF ausgeführt, dass der belangten Behörde vorzuwerfen sei, sich im Wesentlichen auf die Gründe für die Flucht aus dem Iran beschäftigt zu haben. Andererseits sei der Behörde ebenfalls vorzuwerfen, die im Verfahren hervorgekommenen Ermittlungsergebnisse keiner mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung in Einklang stehenden Würdigung unterzogen zu haben. Die belangte Behörde verkenne offenbar, dass auch Frauen, die dem islamischen Glauben anhängen würden, selbstbestimmte Frauen sein können. Der Beschwerdeergänzung wurde ein Semesterzeugnis einer Schule für Sozialbetreuungsberufe vom 06.07.2018 für das Schuljahr 2017/2018 die 2.BF betreffend angeschlossen.
Im Rahmen einer weiteren Beschwerdeergänzung vom 23.11.2019, am 26.11.2019 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt, wurde vom bevollmächtigten Vertreter der BF ausgeführt, dass es sich bei der 2.BF um eine Frau handle, welche auch hinsichtlich ihrer Wertehaltung im krassen Widerspruch zu den in ihrem Herkunftsland Afghanistan traditionellen-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassung stehe. So engagiere sich die 2.BF ehrenamtlich beim Roten Kreuz und sei bis vor Kurzem einer eigenständig gewählten Schulbildung an der Schule für Sozialbetreuungsberufe der Caritas mit dem Ausbildungsschwerpunkt Altenarbeit nachgegangen. Der Beschwerdeergänzung wurden eine Schwimmkursurkunde vom Juni 2018 die 3.BF betreffend, eine Bescheinigung des Roten Kreuzes vom 25.05.2018 über die Teilnahme der 2.BF an einer Unterweisung "lebensrettende Sofortmaßnahmen am Ort des Verkehrsunfalles", ein Semesterzeugnis einer Schule für Sozialbetreuungsberufe vom 06.07.2018 für das Schuljahr 2017/2018 mit dem Ausbildungsschwerpunkt Altenarbeit, mehrere Fotos und Empfehlungsschreiben, eine Bestätigung des Roten Kreuzes vom 18.11.2019 über die freiwillige Mitarbeit des 2.BF für das XXXX Tafel und eine Bestätigung des XXXX vom 17.10.2019 über eine ehrenamtliche Tätigkeit der 2.BF für vier Wochen angeschlossen.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 28.01.2020 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi und im Beisein des Rechtsvertreters der BF sowie eines Vertreters des BFA eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der 1.BF sowie die 2.BF ausführlich zu ihren persönlichen Umständen und ihren Fluchtgründen befragt wurden.
Zu ihren Lebensumständen in Österreich befragt, führte die 2.BF an, dass sie bei der Caritas mithelfe und jeden Samstag die Tafel unterstütze. Zudem begleite sie ihre Tochter dienstags in die Schule und helfe dort den Kindern. Der 1.BF gab zu seinem Alltag in Österreich befragt zu Protokoll, dass er seine Tochter in die Schule bringe und koche, jedoch keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgehe.
Auf Aufforderung, seinen Lebenslauf zu schildern, brachte die 2.BF vor, dass sie im Iran geboren und auch zur Schule gegangen sei. Sie sei im Iran illegal einer Tätigkeit als Aerobic Trainerin nachgegangen und ihr Ehegatte habe ihr als Schneider auch mehrere Fertigkeiten beigebracht. Befragt, wieso sie den Iran verlassen habe, entgegnete die 2.BF, dass weder ihr Mann noch ihre Tochter im Iran gültige Personaldokumente erhalten hätten. Ihre eigenen Identitätsnachweise habe sie auf dem Weg nach Europa verloren. Auf Nachfrage, ob sie versucht habe, Kopien der verlorenen Dokumente zu verlangen, erwiderte die 2.BF, dass man für die Anfertigung der Dokumente persönlich anwesend sein und eine erhebliche Geldsumme zahlen müsse. Die Frage, ob sie schon einmal in Afghanistan gewesen sei, wurde von der 2.BF verneint. Auf die Frage, wer die wöchentlichen Einkäufe erledige, erwiderte die 2.BF, dass sie normalerweise die Einkäufe erledige, ihr Mann sie jedoch manchmal unterstützen müsse. Sie trage kein Kopftuch und ihren Ehegatten habe sie im Iran kennengelernt, da er der Mann ihrer Schwester sei. Ihre Schwester und deren Ehemann seien nach wie vor im Iran aufhältig. Zur Frage, wieso diese im Gegensatz zu ihr selbst nach wie vor dort leben könnten, erklärte die 2.BF, dass ihr Schwager einen Identitätsausweis besitze, ihr eigener Gatte jedoch nicht. Auf die Frage des Rechtsvertreters, ob sie sich in Afghanistan auf die Straße trauen würde, replizierte die 2.BF, dass dies im Herkunftsstaat unmöglich wäre, ohne dass man belästigt werden würde.
Auf Aufforderung, seinen Lebenslauf anzugeben, gab der 1.BF an, dass er im Iran geboren sei und anschließend den Beruf des Schneiders gelernt habe. Insgesamt sei er danach 15 Jahre lang als Schneider tätig gewesen. Er habe seine Ehefrau kennengelernt, da sein Bruder der Mann ihrer Schwester sei. Nachgefragt, wieso sein Bruder im Gegensatz zu ihm nach wie vor im Iran wohnhaft sein könne, erwiderte der 1.BF, dass die Aufenthaltskarte seines Bruders aufgrund seiner Eheschließung verlängert worden sei. Ihm selbst sei erst später von einem Mullah eine Heiratsurkunde ausgestellt worden, die er jedoch auf dem Weg nach Europa verloren habe. Seine Ehefrau trage in Österreich lediglich ein Kopftuch, wenn sie sich mit anderen afghanischen Frauen verabrede. Haushalt und Kindererziehung würden sich der 1.BF und die 2.BF teilen.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde die 3.BF betreffend eine Bestätigung der Blockflötenlehrerin vom Jänner 2020 sowie ein Heft der Mitschüler in Vorlage gebracht.
7. Im Rahmen einer Stellungnahme vom 04.02.2020, beim Bundesverwaltungsgericht am 05.02.2020 eingelangt, wurden von den BF durch ihren bevollmächtigten Vertreter eine Kopie der provisorischen Aufenthaltskarte des Bruders des 1.BF in Vorlage gebracht.
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der BF:
Der 1.BF ist der Ehemann der 2.BF; diese sind die Eltern der minderjährigen 3.BF. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, sind jedoch im Iran geboren und aufgewachsen.
Der 1.BF besuchte im Iran acht Jahre die Grundschule und war anschließend als Schneider tätig. Die 2.BF schloss im Iran die Schule ab und anschließend eine Ausbildung als Fitnesstrainerin absolviert.
Die BF sind gesund.
1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Die BF haben nie in Afghanistan gelebt. Die BF verließen den Iran aufgrund ihres illegalen Aufenthaltes und wegen Problemen mit der Verlängerung ihrer Dokumente sowie aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen. Den BF droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen sie gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.
Die BF sind wegen ihres Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen ihrer Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität ausgesetzt. Die BF haben sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung bei den BF vor, die wesentlicher Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden sind und die sie in Afghanistan exponieren würde.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den BF auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.
Den BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Die BF sind bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.
1.3. Zum (Privat)Leben der BF in Österreich:
Die BF reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit November 2015 durchgehend in Österreich auf.
Der 1.BF hat mehrere Deutschkurse besucht, an einem Werte-und Orientierungskurs teilgenommen und ist für einen Lehrgang zur Verbesserung der deutschen Sprache angemeldet. Überdies spielte der 1.BF in einem Sportclub Fußball und half ehrenamtlich bei Geländearbeiten mit. Er ist Mitglied beim Roten Kreuz und hat einen Erste-Hilfe Grundkurs absolviert.
Die 2.BF hat im Schuljahr 2017/2018 eine Schule für Sozialbetreuungsberufe mit dem Ausbildungsschwerpunkt Altenarbeit besucht und ist Mitglied beim Roten Kreuz, wo sie ehrenamtlich bei der Tafel für das XXXX mithilft. Zudem war sie auch beim XXXX in XXXX ehrenamtlich tätig. Die 3.BF besucht in Österreich die Volksschule. Die BF beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.
Die BF verfügen weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich.
Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:
Bei einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat könnten der 1.BF und die 2.BF aktuell, sohin im Entscheidungszeitpunkt, die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, für sich und ihre minderjährige Tochter nicht in ausreichendem Maße befriedigen. Die BF würden daher aktuell in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten. Die BF haben keine Familienangehörigen, welche im Fall einer Rückkehr der BF nach Afghanistan willens und in der Lage wären, diese finanziell oder vor Ort zu unterstützen. Alle Familienangehörigen (Bruder des 1.BF, Mutter und Geschwister der 2.BF) sind im Iran wohnhaft.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Sicherheitslage
Allgemein
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
[...]
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).
[...]
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).
[...]
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018).
[...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
Zivilist/innen
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Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.200931.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nichtziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).
Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).
Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u. a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).
Im gesamten Jahr 2017 wurden 3.484 zivile Opfer (823 Tote und 2.661 Verletzte) im Rahmen von 1.845 Bodenoffensiven registriert - ein Rückgang von 19% gegenüber dem Vorjahreswert aus 2016 (4.300 zivile Opfer, 1.072 Tote und 3.228 Verletzte in 2.008 Bodenoffensiven). Zivile Opfer, die aufgrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Kräften zu beklagen waren, sind zum ersten Mal seit 2012 zurückgegangen (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 forderten explosive Kampfmittelrückstände (Engl. "explosive remnants of war", Anm.) 639 zivile Opfer (164 Tote und 475 Verletzte) - ein Rückgang von 12% gegenüber dem Jahr 2016. 2017 war überhaupt das erste Jahr seit 2009, in welchem ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Rückgang ziviler Opfer ist möglicherweise u.a. auf eine Verminderung des indirekten Beschusses durch Mörser, Raketen und Granaten in bevölkerten Gegenden von regierungsfreundlichen Kräfte zurückzuführen (UNAMA 2.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:
das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).
Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017). Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).
Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).
Taliban
Die Taliban führten auch ihre Offensive "Mansouri" weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" laut US Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017). Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Aufgrund der Komplexität der in Selbstmord- und komplexen Anschlägen involvierten Akteure hat die UNAMA oft Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zivilen Opfer spezifischen regierungsfreundlichen Gruppierungen zuzuschreiben, wenn keine Erklärungen zur Verantwortungsübernahme abgegeben wurde. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (UNAMA 2.2018).
Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US-amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld - insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friedenskonferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala zu abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).
Die Taliban geben im Kurznachrichtendienst Twitter Angaben zu ihren Opfern oder Angriffen (FAZ 19.10.2017; vgl. Pajhwok 13.3.2018). Ihre Angaben sind allerdings oft übertrieben (FAZ 19.10.2017). Auch ist es sehr schwierig Ansprüche und Bekennermeldungen zu verifizieren - dies gilt sowohl für Taliban als auch für den IS (AAN 5.2.2018).
IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh
Höchst umstritten ist von Expert/innen die Größe und die Gefahr, die vom IS ausgeht. So wird von US-amerikanischen Sicherheitsbeamten und weiteren Länderexpert/innen die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan mit zwischen 500 und 5.000 Kämpfern beziffert. Jeglicher Versuch die tatsächliche Stärke einzuschätzen, wird durch den Umstand erschwert, dass sich die Loyalität der bewaffneten radikalen Islamisten oftmals monatlich oder gar wöchentlich ändert, je nach ideologischer Wende, Finanzierung und Kampfsituation (WSJ 21.3.2018). Auch wurde die afghanische Regierung bezichtigt, die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan aufzublasen (Tolonews 10.1.2018). Zusätzlich ist wenig über die Gruppierung und deren Kapazität, komplexe Angriffe auszuführen, bekannt. Viele afghanische und westliche Sicherheitsbeamte bezweifeln, dass die Gruppierung alleine arbeitet (Reuters 9.3.2018).
Die Fähigkeiten und der Einfluss des IS sind seit seiner Erscheinung im Jahr 2015 zurückgegangen. Operationen durch die ANDSF und die US-Amerikaner, Druck durch die Taliban und Schwierigkeiten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, störten das Wachstum des IS und verringerten dessen Operationskapazitäten. Trotz erheblicher Verluste von Territorium, Kämpfern und hochrangigen Führern, bleibt der IS nach wie vor eine Gefährdung für die Sicherheit in Afghanistan und in der Region. Er ist dazu in der Lage, öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) in städtischen Zentren zu verüben (USDOD 12.2017). Der IS hat sich nämlich in den vergangenen Monaten zu einer Anzahl tödlicher Angriffe in unterschiedlichen Teilen des Landes bekannt - inklusive der Hauptstadt. Dies schürte die Angst, der IS könne an Kraft gewinnen (VoA 10.1.2018; vgl. AJ 30.4.2018). Auch haben örtliche IS-Gruppen die Verantwortung für Angriffe auf Schiiten im ganzen Land übernommen (USDOD 12.2017).
Im Jahr 2017 wurden dem IS 1.000 zivile Opfer (399 Tote und 601 Verletzte) zugeschrieben sowie die Entführung von 81 Personen; er war damit laut UNAMA für 10% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich - eine Zunahme von insgesamt 11% im Vergleich zum Jahr 2016. Im Jahr 2017 hat sich der IS zu insgesamt 18 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen oder zivile Objekte bekannt (UNAMA 2.2018); er agiert wahllos - greift Einrichtungen der afghanischen Regierung und der Koalitionskräfte an (AAN 5.2.2018), aber auch ausländische Botschaften (UNAMA 2.2.018). Fast ein Drittel der Angriffe des IS zielen auf schiitische Muslime ab (UNAMA 2.2018; vgl. AAN 5.2.2018) - sechs Angriffe waren auf schiitische Glaubensstätten (UNAMA 2.2018). Der IS begründet seine Angriffe auf die schiitische Gemeinschaft damit, dass deren Mitglieder im Kampf gegen den IS im Mittleren Osten involviert sind (AAN 5.2.2018).
Zusätzlich dokumentierte die UNAMA im Jahr 2017 27 zivile Opfer (24 Tote und drei Verletzte) sowie die Entführung von 41 Zivilist/innen, die von selbsternannten IS-Anhängern in Ghor, Jawzjan und Sar-e Pul ausgeführt wurden. Diese Anhänger haben keine offensichtliche Verbindung zu dem IS in der Provinz Nangarhar (UNAMA 2.2018).
Der IS rekrutierte auf niedriger Ebene und verteilte Propagandamaterial in vielen Provinzen Afghanistans. Führung, Kontrolle und Finanzierung des Kern-IS aus dem Irak und Syrien ist eingeschränkt, wenngleich der IS in Afghanistan nachhaltig auf externe Finanzierung angewiesen ist, sowie Schwierigkeiten hat, Finanzierungsströme in Afghanistan zu finden. Dieses Ressourcenproblem hat den IS in einen Konflikt mit den Taliban und anderen Gruppierungen gebracht, die um den Gewinn von illegalen Kontrollpunkten und den Handel mit illegalen Waren wetteifern. Der IS bezieht auch weiterhin seine Mitglieder aus unzufriedenen TTP-Kämpfern (Tehreek-e Taliban in Pakistan - TTP), ehemaligen afghanischen Taliban und anderen Aufständischen, die meinen, der Anschluss an den IS und ihm die Treue zu schwören, würde ihre Interessen vorantreiben (USDOD 12.2017).
Auch ist der IS nicht länger der wirtschaftliche Magnet für arbeitslose und arme Jugendliche in Ostafghanistan, der er einst war. Die Tötungen von IS-Führern im letzten Jahr (2017) durch die afghanischen und internationalen Kräfte haben dem IS einen harten Schlag versetzt, auch um Zugang zu finanziellen Mitteln im Mittleren Osten zu erhalten. Finanziell angeschlagen und mit wenigen Ressourcen, ist der IS in Afghanistan nun auf der Suche nach anderen Möglichkeiten des finanziellen Überlebens (AN 6.3.2018).
Haqqani-Netzwerk
Der Gründer des Haqqani-Netzwerkes - Jalaluddin Haqqani - hat aufgrund schlechter Gesundheit die operationale Kontrolle über das Netzwerk an seinen Sohn Sirajuddin Haqqani übergeben, der gleichzeitig der stellvertretende Führer der Taliban ist (VoA 1.7.2017). Als Stellvertreter der Taliban wurde die Rolle von Sirajuddin Haqqani innerhalb der Taliban verfestigt. Diese Rolle erlaubte dem Haqqani-Netzwerk seinen Operationsbereich in Afghanistan zu erweitern und lieferte den Taliban zusätzliche Fähigkeiten in den Bereichen Planung und Operation (USDOD 12.2017).
Von dem Netzwerk wird angenommen, aus den FATA-Gebieten (Federally Administered Tribal Areas) in Pakistan zu operieren. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge soll das Netzwerk zwischen 3.000 und 10.000 Mitglieder haben. Dem Netzwerk wird nachgesagt finanziell von unterschiedlichen Quellen unterstützt zu werden - inklusive reichen Personen aus den arabischen Golfstaaten (VoA 1.7.2017).
Zusätzlich zu der Verbindung mit den Taliban, hat das Netzwerk mit mehreren anderen Aufständischen Gruppierungen, inklusive al-Qaida, der Tehreek-e Taliban in Pakistan (TTP), der Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) und der ebenso in Pakistan ansässigen Lashkar-e-Taiba (VoA 1.7.2017).
Sowohl die afghanische, als auch die US-amerikanische Regierung haben Pakistan in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, keine eindeutigen Maßnahmen gegen terroristische Elemente zu ergreifen, die darauf abzielen, die Region zu destabilisieren - zu diesen Elementen zählen auch die Taliban und das Haqqani-Netzwerk (RFE/RL 23.3.2018; vgl. AJ 8.3.2018, UNGASC 27.2.2018).
Al-Qaida
Al-Qaida konzentriert sich hauptsächlich auf das eigene Überleben und seine Bemühungen sich selbst zu erneuern. Die Organisation hat eine nachhaltige Präsenz in Ost- und Nordostafghanistan, mit kleineren Elementen im Südosten. Manche Taliban in den unteren und mittleren Rängen unterstützen die Organisation eingeschränkt. Nichtsdestotrotz konnte zwischen 1.6.-20.11.2017 keine Intensivierung der Beziehung zu den Taliban auf einem strategischen Niveau registriert werden (USDOD 12.2017).
Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten (Pajhwok o.D.z): Bagrami, Chaharasyab/Char Asiab, Dehsabz/Deh sabz, Estalef/Istalif, Farza, Guldara, Kabul Stadt, Kalakan, Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar, Mirbachakot/Mir Bacha Kot, Musayi/Mussahi, Paghman, Qarabagh, Shakardara, Surobi/Sorubi (UN OCHA 4-2014; vgl. Pajhwok o.D.z).
Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt (CSO 4.2017).
In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt (Pajhwok o.D.z). Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen (LAT 26.3.2018). In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (TG 15.3.2018).
Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen: den Hamid Karzai International Airport (HKIR) (Tolonews 25.2.2018; vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation; Kapitel 3.35). Auch soll die vierspurige "Ring Road", die Kabul mit angrenzenden Provinzen verbindet, verlängert werden (Tolonews 10.9.2017; vgl. Kapitel 3.35.).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl. UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl. FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl. VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.
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Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.
Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen und Maßnahmen der afghanischen Regierung in der Provinz Kabul
Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt (Tolonews 31.1.2018; vgl. AT 18.3.2018, RS 28.2.2018; vgl. MF 18.3.2018). Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden (MF 18.3.2018). Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind (Tolonews 7.2.2018). Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017). Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen (Tolonews 7.2.2018). Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt (Tolonews 1.3.2018). Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden (RFE/RL 7.2.2018). Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden (Reuters 14.3.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in der Provinz Kabul
Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul (UNGASC 27.2.2018; vgl. RFE/RL 17.3.2018, Dawn 31.1.2018), auch dem Haqqani-Netzwerk wird nachgesagt, Angriffe in der Stadt Kabul zu verüben (RFE/RL 30.1.2018; vgl. NY