TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/17 G314 2231628-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.06.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

17.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

G314 2231628-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Bosnien und Herzegowina, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.05.2020,

Zl. XXXX, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Nach der Abweisung des Antrags des Beschwerdeführers (BF) auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Studierender" informierte die XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) darüber, dass er sich ohne Aufenthaltstitel im Inland aufhalte.

Mit dem Schreiben vom XXXX.10.2019 forderte das BFA den BF auf, sich zur deshalb beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu äußern und Fragen zu seinem Aufenthalt in Österreich und zu seinem Privat- und Familienleben zu beantworten. Er erstattete eine entsprechende Stellungnahme, in der er die Fragen beantwortete und diverse Unterlagen vorlegte.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erteilte das BFA dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt I.), erließ gemäß § 10 Abs 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 1 Z 1 FPG (Spruchpunkt II.), stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.). Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Kernfamilie des BF in Bosnien und Herzegowina lebe und das öffentliche Interesse an der Einhaltung aufenthalts- und fremdenrechtlicher Vorschriften schwerer wiege als sein persönliches Interesse an einem Verbleib. Er sei in seinem Herkunftsstaat hauptsozialisiert und halte sich erst seit 2016 im Bundesgebiet auf. Er sei nicht zur dauerhaften Niederlassung berechtigt gewesen, sondern nur zum vorübergehenden Aufenthalt zu Studienzwecken. Sein in XXXX lebender Onkel, zu dessen Erwachsenenvertreter der BF bestellt worden sei, habe noch andere Bezugspersonen im Inland und werde in einem Pflegeheim versorgt.

Dagegen richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheids zu beheben. Die Beschwerde wird zusammengefasst damit begründet, dass der BF XXXX studiere. Er sei der Einzige, der mit seinem gehörlosen Onkel, zu dem er eine enge Beziehung habe, in bosnischer Gebärdensprache kommunizieren könne. Er sei unbescholten, habe sich keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen und spreche sehr gut Deutsch. Die Leiterin seines Studiengangs unterstütze eine Fortsetzung seines Studiums XXXX.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Antrag vor, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Feststellungen:

Der XXXX geborene BF ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina. Er ist ledig und kinderlos. Er kam in XXXX zur Welt und wuchs in Bosnien und Herzegowina auf, wo er die Schule und eine Ausbildung zum XXXXabsolvierte. Seine Muttersprache ist Bosnisch. Seine Eltern, seine Schwester und seine Großmütter leben nach wie vor in Bosnien und Herzegowina. Der BF hat dort eine Unterkunftmöglichkeit in der Wohnung seiner Eltern, wo auch noch seine Schwester und einer Großmutter wohnen. In Österreich leben zwei Großonkel und eine Cousine des BF. Im Oktober 2018 wurde der BF zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter seines Großonkels XXXX bestellt, der österreichischer Staatsangehöriger ist, an Demenz leidet, gehörlos ist und in einem Pflegheim in XXXX betreut wird. Der BF wurde als Erwachsenenvertreter mit folgenden Angelegenheiten betraut: Verwaltung von Einkommen, Verbindlichkeiten und Vermögen (sofern sie Angelegenheiten des täglichen Lebens überschreiten), Vertretung vor Gerichten, Ämtern, Behörden, Sozialversicherungsträgern und privaten Vertragspartnern sowie bei Rechtsgeschäften, die über solche des täglichen Lebens hinausgehen. Der BF hat eine enge Beziehung zu XXXX, mit dem er bis September 2017 in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebte.

Der BF war in Österreich zwischen XXXX.09.2015 und XXXX.11.2016 mit Nebenwohnsitz gemeldet; seither bestehen durchgehend Hauptwohnsitzmeldungen. Anfang 2016 wurde ihm von der Österreichischen Botschaft in Sarajewo ein im Zeitraum XXXX.03. bis XXXX.09.2016 gültiges Visum D zur Abholung eines Aufenthaltstitels erteilt. Am XXXX.11.2016 legte er eine Deutschprüfung für das Sprachniveau B2 ab. Ab September 2017 war er Student des XXXX an der XXXX, wo er einen guten Studienerfolg erzielte. Für den Zeitraum XXXX.04.2018 bis XXXX.04.2019 wurde ihm eine Aufenthaltsbewilligung für den Zweck "Studierender" erteilt.

Zwischen August 2017 und Oktober 2018 war der BF aufgrund einer Selbstversicherung gemäß § 16 Abs 2 ASVG in Österreich krankenversichert. Zwischen Oktober 2018 und XXXX.09.2019 war er in einem Seniorenheim in XXXX im Ausmaß von 19 Stunden pro Woche beschäftigt; für diese Tätigkeit war eine entsprechende Beschäftigungsbewilligung erteilt worden. Zwischen Jänner und September 2019 unterbrach er das Studium, weil er aufgrund seiner Erwerbstätigkeit, eines Praktikums und Problemen mit der Wohnung seines Großonkels überfordert war. Danach nahm er das Studium wieder auf, musste es aber nach dem Ablauf der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung im November 2019 neuerlich unterbrechen. Er hat vor, das Studium XXXX fortzusetzen.

Mangels eines aktiv betriebenen Studiums wurde sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung vom XXXX.04.2019 mit dem seit XXXX.09.2019 rechtskräftigen Bescheid vom XXXX.06.2019 abgewiesen. Am XXXX.10.2019 stellte der BF neuerlich einen Erstantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung als Studierender, der mit Bescheid vom XXXX.11.2019 abgewiesen wurde. Obwohl er über keine Aufenthaltsberechtigung mehr verfügte, verließ er das Bundesgebiet nicht. Er wohnt aktuell in XXXX unentgeltlich bei einem befreundeten Ehepaar. Er ist gesund, arbeitsfähig und strafgerichtlich unbescholten. Er besitzt einen gültigen bosnisch-herzegowinischen Reisepass, mit dem er ungefähr zwei Mal pro Jahr für kurze Zeit zu Urlaubs- und Besuchszwecken nach Bosnien und Herzegowina reist, zuletzt für einige Tage im August 2019. Seinen Lebensunterhalt finanziert er mit seinen Ersparnissen (ca. EUR 1.500) und einem Geldbetrag, der ihm im Oktober 2019 von seinen Eltern geschenkt wurde (EUR 6.500).

Bosnien und Herzegowina ist seit Anfang März 2020 von der weltweiten COVID-19-Pamdemie betroffen. Zuletzt gab es im Zeitraum 11. bis 13.06.2020 zwischen 49 und 61 bestätigte Neuinfektionen pro Tag. Bis 13.06.2020 gab es 162 bestätigte Todesfälle. Der am 17.03.2020 zur Eindämmung der Pandemie aufgerufene landesweite Katastrophenzustand ist nach wie vor aufrecht, obwohl die Maßnahmen im Mai 2020 gelockert werden konnten. Das Wirtschaftsleben kehrt langsam zur Normalität zurück. Anfang Juni wurden kommerzielle Flüge wieder aufgenommen. Für Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina bestehen keine besonderen Auflagen bei der Einreise.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Akteninhalt. Der chronologische Ablauf ist auch im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) nachvollziehbar.

Die Identität des BF (Name, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit) geht aus dem Akteninhalt widerspruchsfrei hervor, ebenso sein Geburtsort. Seine Ausbildung wird anhand seiner Angaben in der Stellungnahme an das BFA festgestellt. De Abschluss der Ausbildung zum XXXX wird auch durch die Eintragung im XXXX und durch seine Tätigkeit für die XXXXXXXX laut Versicherungsdatenauszug und Dienstvertrag belegt. Der BF gab glaubhaft an, dass dafür eine Beschäftigungsbewilligung erteilt worden war. Seine bosnische Muttersprache ergibt sich aus seinen Angaben und ist aufgrund seiner Herkunft und der in Bosnien und Herzegowina absolvierten Schul- und Berufsausbildung plausibel.

Die Feststellungen zu den familiären Anknüpfungen des BF in seinem Herkunftsstaat und in Österreich folgen seinen Angaben dazu. Er schilderte die Beziehung zu seinem Großonkel XXXX, dessen Staatsangehörigkeit und Unterbringung in einem Pflegeheim aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) hervorgehen, glaubhaft und nachvollziehbar. Die Bestellung des BF zum Erwachsenenvertreter und die von ihm zu besorgenden Angelegenheiten ergeben sich aus der vorgelegten Verständigung des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX, der gemeinsame Haushalt aus dem ZMR und der Schilderung des BF.

Die Wohnsitzmeldungen des BF werden anhand des ZMR festgestellt, das Visum, die Aufenthaltsbewilligung und die Abweisung des Verlängerungsantrags und des Erstantrags vom XXXX.10.2019 aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und den damit korrespondierenden aktenkundigen Entscheidungen der NAG-Behörde und des Verwaltungsgerichts Wien. Das Zeugnis über die Deutschprüfung liegt vor.

Die Feststellungen zum Studium des BF basieren auf seiner Stellungnahme, dem Empfehlungsschreiben vom XXXX.02.2020 und den vorgelegten Bestätigungen der Inskription und des Studienerfolgs für den Zeitraum Wintersemester 2017/18 bis Wintersemester 2019/20. Die festgestellten Unterbrechungen des Studiums korrespondieren damit.

Der BF schilderte seine familiären Verhältnisse, seine aktuellen Wohnverhältnisse und seine finanzielle Situation gegenüber dem BFA schlüssig und nachvollziehbar. Die Schenkung seiner Eltern wurde durch entsprechende Unterlagen belegt.

Es gibt keine aktenkundigen Indizien für gravierende gesundheitliche Probleme des BF. Da er als XXXX arbeitete, ist auch davon auszugehen, dass seine Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, zumal er in einem erwerbsfähigen Alter ist. Aus dem aktuellen Strafregisterauszug ergibt sich, dass er strafgerichtlich unbescholten ist.

Der BF legte eine Kopie aus seinem Reisepass zum Nachweis seines letzten Besuchs in Bosnien und Herzegowina vor. Angesichts des in XXXX betriebenen Studiums und der Erwerbstätigkeit ist nachvollziehbar, dass er sich nur zu kurzen Besuchen in seinem Heimatstaat aufhielt.

Die Feststellungen zu Fallzahlen und zu aktuellen Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung der COVID-19-Pandemie in Bosnien und Herzegowina basieren auf den dazu veröffentlichten Informationen, z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Bosnien_und_Herzegowina und https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-bosnien-herzegowina.html (Zugriff jeweils am 17.06.2020).

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Der BF ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und somit Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG.

Da er nach der Rechtskraft der Zurückweisung seines Verlängerungsantrags nicht mehr über eine Aufenthaltsberechtigung verfügt und sich nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ist gemäß § 58 Abs 1 Z 5 AsylG zunächst von Amts wegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG zu prüfen und darüber gemäß § 58 Abs 3 AsylG im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. Da hier keine Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG ("Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz") an den BF vorliegen, weil sein Aufenthalt nie geduldet iSd § 46a FPG war und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er Zeuge oder Opfer strafbarer Handlungen oder Opfer von Gewalt wurde, erfolgte die in Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ausgesprochene Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG zu Recht und ist nicht korrekturbedürftig.

Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG ("Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung"; §§ 41 bis 45c FPG) fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung gemäß § 10 Abs 2 AsylG iVm § 52 Abs 1 Z 1 FPG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Da die Rückkehrentscheidung in das Privatleben des BF eingreift, ist unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK deren Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen.

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des BF, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).

Dabei ist hier gemäß § 9 Abs 2 Z 1 BFA-VG zu berücksichtigen, dass sich der BF seit 2016 kontinuierlich im Bundesgebiet aufhält. Der VwGH hat wiederholt ausgesprochen, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (siehe VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0191). Der BF verfügte nur im Zeitraum April 2018 bis April 2019 über einen Aufenthaltstitel, sein Inlandsaufenthalt war nur bis zur Rechtskraft der Abweisung des Verlängerungsantrags im September 2019 rechtmäßig. Seither ist sein Aufenthalt nicht mehr rechtmäßig, weil er nach dem Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels und der Abweisung des Verlängerungsantrags im Inland verblieb, obwohl ihm keine weitere Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde. Da ihm eine Aufenthaltsbewilligung für einen vorübergehenden befristeten Aufenthalt im Bundesgebiet zum Zweck des Studiums iSd § 8 Abs 1 Z 12 NAG erteilt wurde, gilt der Aufenthalt gemäß § 2 Abs 3 NAG nicht als Niederlassung. Der BF konnte nie von einer Zulässigkeit des dauerhaften Verbleibs im Bundesgebiet ausgehen.

Im Inland besteht kein gemäß § 9 Abs 2 Z 2 BFA-VG zu berücksichtigendes Familienleben des volljährigen, alleinstehenden und kinderlosen BF, dessen nächste Angehörige (Eltern, Schwester, Großmütter) in Bosnien und Herzegowina leben. Er ist zwar eine wichtige Bezugsperson seines pflegebedürftigen Großonkels, jedoch besteht kein Abhängigkeitsverhältnis, weil dieser in einem Pflegeheim betreut wird. Der BF kann den Kontakt zu seinem Großonkel auch bei Besuchen im Rahmen zulässiger visumfreier Aufenthalte pflegen. Seinen Pflichten als Erwachsenenvertreter kann er ebenfalls bei solchen Besuchen, aber auch über Kommunikationsmittel wie Telefon und Internet nachkommen; allenfalls kann ein anderer Erwachsenenvertreter bestellt werden. Bei Fehlen einer geeigneten nahestehenden Person kommen dafür auch ein Erwachsenenschutzverein, ein Notar (Notariatskandidat), Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder eine andere geeignete Person in Betracht (siehe § 274 ABGB).

Unter Privatleben iSd Art 8 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR das Netzwerk persönlicher, sozialer und ökonomischer Beziehungen zu verstehen, die das Privatleben eines jeden Menschen ausmachen. Ein schutzwürdiges Privatleben ist nach § 9 Abs 2 Z 3 BFA-VG bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, ebenso nach § 9 Abs 2 Z 4 BFA-VG der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- und Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert. Zugunsten des BF sind dabei neben der Beziehung zu seinen in Österreich lebenden Angehörigen gute Deutschkenntnisse, die während des Aufenthalts im Inland geknüpften Sozialkontakte, die Anknüpfungen aufgrund seiner Erwerbstätigkeit sowie insbesondere das hier begonnene Studium zu berücksichtigen. Diese integrationsbegründenden Umstände werden gemäß § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG dadurch relativiert, dass sie in Kenntnis des unsicheren Aufenthaltsstatus des BF entstanden, zumal er angesichts der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zu Studienzwecken nicht von einer Erlaubnis zu einem nicht bloß vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet ausgehen durfte. Den Kontakt zu im Bundesgebiet lebenden Bezugspersonen kann er nach seiner Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina durch wechselseitige Besuche dort, in Österreich oder in anderen Staaten sowie über diverse Kommunikationsmittel (Telefon, E-Mail, Internet) aufrecht halten.

Der BF hat gemäß § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG maßgebliche Bindungen zu seinem Heimatstaat, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. Er hat dort nahe Angehörige; in seinem Elternhaus besteht eine (zumindest vorübergehende) Wohnmöglichkeit. Da er eine abgeschlossene Berufsausbildung und (aufgrund der Tätigkeit als XXXX in Österreich) auch eine einschlägige Berufserfahrung hat, wird es ihm möglich sein, sich bei einer Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation dort eine Existenzgrundlage zu schaffen, zumal er (vor allem in der ersten Zeit) auch auf vorhandene Vermögenswerte (Ersparnisse und Schenkung seiner Eltern) zurückgreifen kann.

Die nach § 9 Abs 2 Z 6 BFA-VG maßgebliche strafrechtliche Unbescholtenheit des BF vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (vgl. VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253). Abgesehen von seinem unrechtmäßigen Aufenthalt liegen keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung iSd § 9 Abs 2 Z 7 BFA-VG vor; ebensowenig bestehen den Behörden zurechenbare überlange Verzögerungen iSd § 9 Abs 2 Z 9 BFA-VG.

Dem persönlichen Interesse des BF an einer Fortsetzung seines Privatlebens in Österreich steht das große öffentliche Interesse am geordneten Vollzug fremdenrechtlicher Vorschriften gegenüber. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt dabei im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu.

Unter Bedachtnahme auf die aufrechten Bindungen des BF zu seinem Herkunftsstaat überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung, zumal seine im Inland erlangte soziale Integration durch das Bewusstsein des unsicheren Aufenthalts iSd § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG relativiert wird (siehe VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0016). Das BFA ist daher aufgrund der Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG zu Recht davon ausgegangen, dass das Privat- und Familienleben des BF einer Rückkehrentscheidung nicht entgegensteht. Da er vor seinem nunmehrigen Aufenthalt in Österreich in Bosnien und Herzegowina lebte, wo er familiäre Anknüpfungspunkte hat, ist davon auszugehen, dass ihm keine großen Hindernisse bei der Wiedereingliederung begegnen werden, zumal er gesund und arbeitsfähig ist und eine abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung im Pflegebereich verfügt.

Die in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids erlassene Rückkehrentscheidung ist daher nicht zu beanstanden. Der BF kann für einen neuerlichen Aufenthalt in Österreich, z.B. zur Fortsetzung des Studiums, von seinem Heimatstaat aus einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG stellen. Es ist ihm zumutbar, einen allfälligen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet, der über die Bedingungen und Befristungen des visumfreien Aufenthalts hinausgeht, nach den gesetzlichen Vorgaben des NAG von dort aus zu legalisieren. Daran ändert der Umstand, dass eine solche Antragstellung nachweis-, gebühren- und allenfalls quotenpflichtig ist, nichts.

Für die gemäß § 52 Abs 9 FPG von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (siehe VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0157). Demnach ist die Abschiebung unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder Art 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für den Betreffenden als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Abs 1), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben oder die Freiheit aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Ansichten bedroht wäre (Abs 2) oder solange die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Abs 3).

Da keine dieser Voraussetzungen hier zutrifft, ist die Abschiebung des BF nach Bosnien und Herzegowina, wo die Todesstrafe abgeschafft ist und kein bewaffneter Konflikt herrscht, auch unter Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-Pandemie - zulässig. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der BF durch die Rückkehr in seinen Herkunftsstaat dem realen Risiko einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Auch aus den Lebensumständen des gesunden und arbeitsfähigen BF, der eine abgeschlossene Ausbildung und Berufserfahrung hat und dessen nächste Angehörige in Bosnien und Herzegowina leben, lassen sich keine konkreten Gründe ableiten, die eine Abschiebung unzulässig machen würden. Er wird in der Lage sein, in Bosnien und Herzegowina, wo er Zugang zu den vorhandenen (wenn auch allenfalls bescheidenen) öffentlichen Leistungen und zur Gesundheitsversorgung hat, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, ohne in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten, unter Umständen auch mit Hilfe seiner dort lebenden Verwandten. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen könnte, liegt aktuell in Bosnien und Herzegowina - auch bei Berücksichtigung der vom BF vorgebrachten schwierigen wirtschaftlichen Lage dort - jedenfalls nicht vor.

Gemäß § 55 FPG wird zugleich mit einer Rückkehrentscheidung eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Diese beträgt - abgesehen von Fällen, in denen besondere Umstände vorliegen, die hier aber nicht behauptet wurden - 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheids. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids, den der BF unangefochten ließ, ist vor diesem gesetzlichen Hintergrund nicht zu beanstanden.

Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher nicht korrekturbedürftig; die Beschwerde ist als unbegründet abzuweisen.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Nach § 21 Abs 7 BFA-VG kann bei Vorliegen der dort umschriebenen Voraussetzungen - trotz Vorliegens eines Antrags - von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden. Von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs 7 BFA-VG bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen kann allerdings im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des oder der Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das BVwG von ihm oder ihr einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. zuletzt VwGH 16.01.2019, Ra 2018/18/0272).

Da hier ein eindeutiger Fall vorliegt, der Sachverhalt anhand der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt werden konnte und auch bei einem positiven Eindruck vom BF bei einer mündlichen Verhandlung keine andere Entscheidung denkbar ist, kann eine Beschwerdeverhandlung unterbleiben. Von deren Durchführung ist keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten, zumal in der Beschwerde keine ergänzend zu berücksichtigenden Tatsachen vorgebracht wurden und keine entscheidungserheblichen Widersprüche in den Beweisergebnissen bestehen.

Zu Spruchteil B):

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nach Art 133 Abs 4 B-VG nicht zu lösen waren. Bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK, die das Schwergewicht der Beschwerde bildet, handelt es sich um eine typische Einzelfallbeurteilung.

Schlagworte

Interessenabwägung öffentliche Interessen Resozialisierung Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2231628.1.00

Im RIS seit

18.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten