Entscheidungsdatum
08.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W192 2185758-1/10E
W192 2186584-1/15 E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2018, Zahl: 1092120400-151614794, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.07.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i. d. g. F., § 9 BFA-VG i. d. g. F. und §§ 52, 55 FPG i. d. g. F. als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.01.2018, Zahl: 1092120302-151614824, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.07.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i. d. g. F., § 9 BFA-VG i. d. g. F. und §§ 52, 55 FPG i. d. g. F. als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Die Beschwerdeführer, ein damals minderjähriges Brüderpaar mit afghanischer Staatsangehörigkeit, stellten am 23.10.2015 nach illegaler Einreise jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, zu welchem sie am folgenden Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurden.
Die Beschwerdeführer gaben im Wesentlichen übereinstimmend an, sie bekennten sich zum islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung, gehörten der Volksgruppe der Hazara an, stammten aus der Provinz Ghazni, seien unverheiratet, hätten seit dem siebten Lebensjahr die Grundschule besucht und in der Landwirtschaft gearbeitet. In Afghanistan hielten sich unverändert die Mutter und die Schwester der Beschwerdeführer auf. Die Beschwerdeführer hätten den Herkunftsstaat vor zweieinhalb Monaten verlassen und seien über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Griechenland gebracht worden und von dort selbständig über Mazedonien, Serbien und unbekannte Länder nach Österreich gereist. Zum Grund der Flucht führten die Beschwerdeführer aus, dass ihr Vater mit ihrem Onkel mütterlicherseits eine Hühnerfarm betrieben hätte. Daraufhin sei es der Familie bessergegangen und andere Verwandte seien neidisch geworden und hätten den Taliban erzählt, dass die Farm von einer ausländischen Organisation oder der Regierung unterstützt werde. Deshalb hätten die Taliban den Vater und den Onkel der Beschwerdeführer zweimal bedroht. Der Zweitbeschwerdeführer gab an, dass die "Weißbärtigen" dann alles schlichten hätten können.
Vor zweieinhalb Monaten seien der Vater und der Onkel der Beschwerdeführer von den Taliban mitgenommen worden und die Beschwerdeführer wüssten über deren Verbleib nichts. Ihre Mutter hätte beide gemeinsam aus Angst vor den Taliban weggeschickt. Im Falle einer Rückkehr hätten die Beschwerdeführer Angst vor den Taliban.
Anlässlich der am 05.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) abgehaltenen niederschriftlichen Einvernahmen gaben die Beschwerdeführer an, sie fühlten sich psychisch und physisch zur Durchführung der Einvernahme in der Lage, seien gesund und hätten bei der Erstbefragung wahrheitsgemäße Angaben erstattet.
Der mittlerweile volljährige Erstbeschwerdeführer brachte als Grund für die Stellung des Asylantrages vor, dass sein Vater gemeinsam mit einem Onkel im Herkunftsstaat eine Hühnerfarm aufgebaut habe, wofür der Vater Geld ausborgen habe müssen. Durch das damit erzielte Einkommen habe sich das Leben der Familie verbessert. Im Ort seien Menschen dagegen gewesen, dass sich ihr Leben verbessert hätte. Der Erstbeschwerdeführer wisse nicht genau, ob diese Personen Taliban gewesen seien. Diese Personen seien zum Vater der Beschwerdeführer gekommen und hätten ihn aufgefordert, mit der Arbeit aufzuhören, weil sie damit ausländische Firmen unterstützen. Sein Vater habe dem Erstbeschwerdeführer erzählt, dass diese Personen auf der Farm gewesen seien und auch bewaffnet gewesen seien. Der Vater habe geantwortet, dass die Farm aus Eigenem gegründet worden sei und keine ausländische Firma beteiligt gewesen sei. Die Personen hätten zu ihm gesagt, dass dies für ihn gefährlich sei.
Eines Tages sei der Vater des Erstbeschwerdeführers auf dem Weg von der Arbeit nach Hause von diesen Personen neuerlich bedroht worden und diese hätten ihn aufgefordert, dass er mit der Tätigkeit aufhören müsse. Der Vater habe über diesen Vorfall zu Hause erzählt. Der Erstbeschwerdeführer habe ihn gefragt, was sie machen sollten. Der Vater habe gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Dies sei erfolgt, weil der Vater vermeiden habe wollen, dass die Beschwerdeführer Angst bekommen, in die Schule zu gehen.
Einige Tage später in der Nacht, als die Familie gerade beim Einschlafen gewesen sei, sei an den Haupteingang geklopft worden. Die Mutter der Beschwerdeführer habe gefragt, wer draußen sei, und eine Person habe geantwortet, dass er ein Freund des Vaters sei. Dieser habe erzählt, dass er gesehen habe, wie der Vater und Onkel der Beschwerdeführer von unbekannten bewaffneten Personen mitgenommen worden seien. Er habe zur Mutter der Beschwerdeführer gesagt, dass die Beschwerdeführer so schnell wie möglich flüchten müssten, weil diese Personen auch hierher kommen könnten. Die Mutter habe den Freund des Vaters gebeten, dass er die Beschwerdeführer mitnehme und in Sicherheit bringe. Der Freund habe dies akzeptiert und sei mit den Beschwerdeführern eine Stunde zu Fuß gegangen und dann mit einem LKW in die Stadt Ghazni gefahren. Zwei Tage sei der Erstbeschwerdeführer in einem Haus gewesen und danach seien die Beschwerdeführer mit einem Schlepper ausgereist. Auf Nachfrage gab der Erstbeschwerdeführer an, dass beim Vorfall auf der Farm drei oder vier Personen gekommen seien. Zwischen der ersten und zweiten Bedrohung des Vaters des Erstbeschwerdeführers sei ein Monat und der zweiten und dritten Bedrohung ein Zeitraum von zwei Wochen gelegen. Die Bedrohung des Vaters am Heimweg sei durch dieselben Personen erfolgt, die zur Farm gekommen seien. Der Erstbeschwerdeführer sei nicht persönlich bedroht worden. Der Erstbeschwerdeführer habe mit seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat keinen Kontakt mehr und wissen nicht, wo diese sich befinden.
Sein Vater sei nicht zur Polizei gegangen, weil er geglaubt habe, dass das Problem dadurch vergrößert werde.
Der damals noch minderjährige Zweitbeschwerdeführer gab an, dass seine Familie nach dem durch seinen Vater gemeinsam mit einem Onkel erfolgten Aufbau einer Hühnerfarm ein besseres Leben gehabt hätte. Sein Vater habe gesagt, dass es im Dorf Menschen gebe, die damit nicht einverstanden gewesen seien. Der Zweitbeschwerdeführer wisse nicht, ob es Taliban oder andere gewesen seien. Diese Personen hätten eines Tages den Vater und den Onkel des Zweitbeschwerdeführers bedroht. Der Vater des Zweitbeschwerdeführers habe diesem erzählt, dass er und der Onkel auf der Farm gewesen seien und dort durch bewaffnete Personen bedroht worden seien. Es habe eine zweite Bedrohung gegeben, als der Vater des Zweitbeschwerdeführers am Heimweg gewesen sei. Dieser habe nach der Ankunft zu Hause über den Vorfall erzählt. Er sei angesprochen worden, dass er die Farm schließen müsse, sonst sei die ganze Familie in Gefahr. Er habe dies aber nicht ernst genommen. Eines Tages in der Nacht, als die Beschwerdeführer bereits geschlafen hätten, sei an der Haustür geklopft worden. Die Mutter der Beschwerdeführer sei zur Haustür gegangen und habe gefragt, wer da sei. Die Person habe geantwortet, dass sie ein Freund des Vaters der Beschwerdeführer sei und mitgeteilt, dass der Vater und der Onkel der Beschwerdeführer "festgenommen" worden seien und die Beschwerdeführer in Gefahr seien. Die Mutter habe die Beschwerdeführer geweckt und diese hätten zunächst nicht gewusst warum. Dann habe sie von dem Mann an der Tür und darüber erzählt, was mit dem Vater und dem Onkel der Beschwerdeführer geschehen sei. Die Mutter habe die Beschwerdeführer in der gleichen Nacht mit dem Freund zusammengebracht und sie seien mit ihm in die Stadt Ghazni gefahren. Zwei Tage seien sie in einem Haus gewesen und dann sei durch den Freund der Schlepper organisiert worden.
Die Beschwerdeführer machten weiters Angaben über ihre private Situation in Österreich und legten dazu Belege und Empfehlungsschreiben vor.
2. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Religion, nicht jedoch die präzise Identität der Beschwerdeführer fest. Die Angaben der Beschwerdeführer hinsichtlich einer Verfolgung und Bedrohung durch Taliban seien nicht glaubhaft gewesen.
In der Beweiswürdigung der angefochtenen Bescheide wurde aufgegriffen, dass beide Beschwerdeführer im Verlauf der Erstbefragung vorgebracht hatten, dass es sich bei den bezeichneten Verfolgern um Taliban handle, während beide anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme angegeben hatten, dass sie nicht wüssten, ob die Personen, die ihren Onkel und Vater entführt hätten, Taliban seien. Daraus sei ersichtlich, dass die Beschwerdeführer ihre Angaben im Verfahren abgesprochen hätten. Zu den von den Beschwerdeführern behaupteten Bedrohungen ihres Vaters auf der Hühnerfarm und später auf dem Heimweg von der Hühnerfarm hielt die Behörde fest, dass die Beschreibung dieser behaupteten Vorfälle äußerst vage und unkonkret erfolgt sei, wobei vorausgesetzt wurde, dass die Beschwerdeführer - hätten diese Vorfälle tatsächlich stattgefunden - sie als ein einschneidendes Erlebnis angesehen hätten, sodass sie nähere Angaben zur zeitlichen Einordnung machen hätten können bzw. bei ihrem Vater nach mehr Details nachgefragt hätten.
Zum behaupteten Auftreten eines angeblichen Freundes des Vaters der Beschwerdeführer, der nachts zum Haus der Familie der Beschwerdeführer gekommen und dort der Mutter der Beschwerdeführer mitgeteilt hätte, dass der Vater und Onkel der Beschwerdeführer verschleppt worden seien, stellte die Behörde fest, dass es in keiner Weise nachvollziehbar sei, dass in Afghanistan eine Frau, deren Ehemann nicht zu Hause sei, einem Fremden nachts die Haustür öffne, zumal die Familie zuvor angeblich bedroht worden sei.
Auch der Umstand, dass die Mutter und die Schwester der Beschwerdeführer im Haus zurückgeblieben seien, zeige, dass keine Gefahr für die Familie bestanden habe.
Die Behörde stellte fest, dass Ghazni, die Herkunftsprovinz der Beschwerdeführer, zu jenen Provinzen zähle, in der regierungsfeindliche aufständische Gruppen stark aktiv seien, sodass aufgrund der Sicherheitslage eine Rückkehr der Beschwerdeführer dorthin nicht möglich sei.
Es sei den Beschwerdeführern jedoch möglich, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan in Mazar-e Sharif oder alternativ in Kabul aufzuhalten und dort ein Leben aufzubauen.
Die Beschwerdeführer seien gesund, mit den kulturellen Gepflogenheiten des Herkunftsstaats vertraut, verfügten über Schulbildung, seien arbeitsfähig und könnten den Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch eigene Erwerbstätigkeit bestreiten. Es habe nicht festgestellt werden können, dass diesen die Lebensgrundlage im Herkunftsland gänzlich entzogen wäre oder diese bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würden.
Die unbescholtenen Beschwerdeführer seien illegal ins Bundesgebiet eingereist, hätten den Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung bestritten und verfügten über keine familiären Kontakte in Österreich. Das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen wiege schwerer als die privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem weiteren Aufenthalt in Österreich, weshalb sich die Erlassung von Rückkehrentscheidungen als geboten erweise.
3. Gegen diese Bescheide brachten die Beschwerdeführer durch ihre nunmehrige Rechtsvertretung mit im Wesentlichen gleichlautenden Schriftsätzen vom 07.02.2018 und 12.02.2018 fristgerecht Beschwerde ein, in welchen begründend zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die Behörde mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe. Die Ausführungen in den UNHCR Richtlinien von 2016 zur Lage von Personen, die mit der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft in Verbindung gebracht werden, seien nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Weiters habe die Behörde die aus näher bezeichneten Länderberichten ersichtliche Verschlechterung der Sicherheitslage und der Versorgungslage für Rückkehrer in Afghanistan nicht ausreichend berücksichtigt.
Gegen die Beweiswürdigung in den angefochtenen Bescheiden wurde eingewendet, dass die Beschwerdeführer zur Zeit der dargestellten Vorfälle minderjährig gewesen seien und sie selbst die beschriebenen Verfolger auch niemals gesehen hätten, sodass sie keine konkreten Angaben machen konnten. Es erscheine auch unangemessen, dass deckungsgleiche Angaben der Beschwerdeführer als Indiz für die Unglaubwürdigkeit bezeichnet worden seien, zumal Widersprüche wohl ebenfalls als Hinweis auf Unglaubwürdigkeit ausgelegt werden. Zu den Angaben über die behauptete Verständigung der Mutter der Beschwerdeführer über die Verschleppung ihres Vaters und ihres Onkels wurde ausgeführt, dass sich die Mutter längere Zeit durch die geschlossene Tür mit dem Freund des Vaters unterhalten habe und erst nach einiger Zeit, als sie sicher gewesen sei, dass von ihm keine Gefahr ausgehe, die Tür geöffnet habe. Zum Verbleib der Mutter und der Schwester der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat wurde vorgebracht, dass in Afghanistan das Konzept der Sippenhaftung dominiere und in diesem Zusammenhang vorwiegend männliche Familienmitglieder zur Verantwortung gezogen würden. Weiters hätten die Beschwerdeführer bei Vorhalt klarstellen können, dass es dem Freund des Vaters zu gefährlich gewesen sei, auch die Mutter und Schwester der Beschwerdeführer mitzunehmen.
Den Beschwerdeführern drohe aufgrund der ihnen zugeschriebenen politischen sowie damit einhergehenden religiösen Gesinnung im Herkunftsstaat Verfolgung in erheblicher Intensität.
Weiters würde die Rückkehrentscheidungen unzulässig in das Privatleben der Beschwerdeführer eingreifen, die während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet bereits gute Kenntnisse der deutschen Sprache erworben, zahlreiche Kurse absolviert hätten und im Sportbetrieb aktiv seien.
4. Mit gleichlautendem Schreiben ihres nunmehrigen Rechtsvertreters vom 27.06.2019 legten die Beschwerdeführer Unterlagen und Belege betreffend den in Österreich erreichten Grad der Integration vor. Weiters wurde ausgeführt, dass eine Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan eingetreten sei und dazu auf Ausschnitte der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender hingewiesen. Die vorgesehenen Feststellungen über die Provinzen Balkh und Herat im herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA seien veraltet und es ergebe sich aus zitierten Berichten, dass diese Region von den Folgen einer Dürre stark betroffen sei. Weiters bestehe nach Länderberichten in diesen Städten eine prekäre Wohnsituation und ein schwieriger Zugang zum Arbeitsmarkt, weshalb eine Rückkehr nicht zumutbar sei.
Aus dem Gutachten von Stahlmann vom 28.03.2018 sei ersichtlich, dass junge afghanische Männer eher der Gefahr ausgesetzt seien, Opfer von Morden durch terroristische Gruppierungen zu werden. Diese seien auch von der Praxis der sexuellen Ausbeutung innerhalb der Polizeistruktur betroffen und würden einer erhöhten Gefahr unterliegen, gezwungen zu werden, als Soldaten zu kämpfen und folglich auch zu sterben.
5. Am 12.07.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungsmaßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführer, ihr bevollmächtigter Vertreter, eine Vertrauensperson, eine Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl teilgenommen haben. Die Beschwerdeführer wurden zu den Gründen ihrer Ausreise, ihren Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr sowie ihren privaten und familiären Lebensumständen befragt und es wurden die herangezogenen Länderberichte sowie die Möglichkeit einer Niederlassung in Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul erörtert.
6. Mit Eingabe vom 12.12.2019 erstatteten die Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme zum ihnen zuvor durch das Bundesverwaltungsgericht schriftlich zur Kenntnis gebrachten aktualisierten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA. Dabei wurde ausgeführt, die aktualisierten Berichte würden die Befürchtungen der Beschwerdeführer bestätigen, zumal diese eine weiterhin katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage dokumentierten. Insbesondere die aktualisierten UNHCR-Richtlinien würden zeigen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative für Personen, die wie die Beschwerdeführer keinen Bezug und keinen Rückhalt in den in Frage kommenden Gebieten hätten, nicht bestehen würde und eine Rückkehr nur mehr im Ausnahmefall zulässig sein könne. Die Beschwerdeführer hätten während der in Österreich zugebrachten Zeit große Anstrengungen in Bezug auf ihre Integration unternommen und sich an die hiesige Lebensweise angepasst. In Afghanistan hätten sie demgegenüber keine Lebensperspektive und wären realistisch in Gefahr, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.
Am 19.12.2019 langten Unterstützungsschreiben für den Zweitbeschwerdeführer durch den Österreichischen Boxverband sowie durch eine Bildungs-Gesellschaft ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer, ein damals minderjähriges Brüderpaar mit afghanischer Staatsangehörigkeit, stellten am 23.10.2015 nach illegaler Einreise jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die aus der Provinz Ghazni stammenden Beschwerdeführer, deren genaue Identität nicht feststeht, gehören der Volksgruppe der Hazara an und sind Muslime schiitischer Ausrichtung. Die Beschwerdeführer haben in der Herkunftsprovinz gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester gelebt und ab dem siebten Lebensjahr bis zur im Jahr 2015 erfolgten Ausreise eine Schule besucht. Im August 2015 haben sie den Herkunftsstaat gemeinsam verlassen und sind illegal und schlepperunterstützt über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Europa gelangt. Die Mutter der Beschwerdeführer lebt laut Angaben der Beschwerdeführer nunmehr im Iran.
Die Beschwerdeführer haben den Herkunftsstaat verlassen, um in Europa bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Die als fluchtkausal geltend gemachte Bedrohung durch unbekannte Personen, welche ihrem Vater eine Kooperation mit ausländischen Geldgebern unterstellt hätten, ist nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführer hätten im Falle ihrer Rückkehr keine Verfolgung aufgrund der Angehörigeneigenschaft zu ihrem Vater zu befürchten.
Die Beschwerdeführer haben sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und die sie in Afghanistan exponieren würde.
Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wären.
Es wird zugrunde gelegt, dass den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz in Afghanistan ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb der Heimatprovinz, insbesondere in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat besteht für die Beschwerdeführer als alleinstehende leistungsfähige Männer im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf jeweils keine konkrete Gefahr, einen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit zu erleiden und liefen die Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer leiden jeweils an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Sie befinden sich nicht in regelmäßiger medizinischer Behandlung und gehören aufgrund ihrer Gesundheit und des jungen Alters nicht zur Risikogruppe eines schweren Verlaufs einer Corona-Infektion.
Die unbescholtenen Beschwerdeführer sind seit ihrer Antragstellung im Oktober 2015 durchgehend auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts in ihrem Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig und bestreiten ihren Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung. Die Beschwerdeführer sind jeweils ledig und haben keine Kinder. Sie führen eine familiäre Beziehung untereinander, sie haben in Österreich darüber hinaus keine Verwandten und keine sonstigen engen familienähnlichen Bindungen. Sie haben im Bundesgebiet Freundschaften und Bekanntschaften geknüpft. Die Beschwerdeführer haben Deutschkurse besucht, die deutsche Sprache erlernt und jeweils die Pflichtschulabschlussprüfung abgelegt. Zuletzt besuchte der Zweitbeschwerdeführer ein Realgymnasium. Der Erstbeschwerdeführer ist Mitglied in einem Fußballverein. Der Zweitbeschwerdeführer betreibt Boxen als Leistungssport, hat im Bundesgebiet bereits an mehreren Wettkämpfen erfolgreich teilgenommen und ist derzeit Mitglied im B-Kader des Österreichischen Boxverbandes. Für den Fall der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis besteht für ihn eine Zusage für eine Lehrstelle im Bereich der Sportadministration.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen