TE OGH 2020/7/8 7Ob59/20g

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Veröffentlicht am 08.07.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners A***** E*****, geboren am ***** 1929, *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz-Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreterin Mag. C***** R*****), *****, dieser vertreten durch Mag. Alexandra Schachermayer LL.M. und Mag. Gerlinde Füssel, LL.M., Rechtsanwältinnen in Linz, Einrichtungsleiterin D***** P*****, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 29. Jänner 2020, GZ 21 R 3/20w-14, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 25. November 2019, GZ 26 Ha 5/19d-5, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Der Bewohner lebt in einem Altenheim, einer Einrichtung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG. Er leidet an einer fortgeschrittenen gemischten Demenz mit BPSD (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia), Unruhe und Aggressivität. Die Aggressivität besteht vor allem im Rahmen von Pflegehandlungen, welche der Bewohner als belastend und traumatisierend erlebt. So kommt es vor, dass er die Durchführung von Pflegemaßnahmen, wie beispielsweise die Intimpflege, den Toilettengang oder das Anlegen der Thrombosestrümpfe nicht duldet und um sich schlägt. Im Zuge dessen ist es schon zu Stürzen gekommen, bei denen er Verletzungen erlitt.

Vom 12. 9. 2019 bis 1. 10. 2019 war der Bewohner in stationärer Behandlung in der psychiatrischen Abteilung des Klinikums W***** und wurde dort mit der (ua) empfohlenen Therapie Midazolam-hcl 2,5 mg Nasenspray 1–2 Hub bei Agitation entlassen. Midazolam ist ein Benzodiazepin, welches typischerweise kurzfristig zu einer starken Sedierung führt. Es wird deswegen zur Kurznarkose für diverse Untersuchungen verwendet. Das Medikament wird auch eingesetzt, um Angststörungen zu behandeln oder innere Unruhezustände zu korrigieren. Typischerweise verlieren Benzodiazepine nach mehrmaliger Gabe die Wirkung.

Der Bewohner wurde erstmalig während des stationären Aufenthalts im Krankenhaus mit Midazolam behandelt. In der Einrichtung wurde ihm der Nasenspray verabreicht, wenn er sich Pflegemaßnahmen nicht gefallen lassen wollte. So erhielt er die Einzelfallmedikation mittels Nasenspray am 10., 19. und 25. 10. 2019. Beim Bewohner ist es zur Gewöhnung an Midazolam gekommen, weshalb durch die Verabreichung des Nasensprays in der Einrichtung nie eine Sedierung eintrat. Das Medikament führte auch in Kombination mit anderen verabreichten Medikamenten nicht dazu, dass der Bewohner nicht mehr in der Lage war, sich nach seinem Willen örtlich zu verändern.

Die medikamentöse Freiheitsbeschränkung mittels der Einzelfallmedikation Midazolam Nasenspray maximal 2 x täglich 1 Hub wurde am 29. 10. 2019 dem Verein gemeldet; am 4. 11. 2019 erfolgte die Meldung der Aufhebung.

Am 18. 11. 2019 beantragte der Verein – soweit noch relevant –, die Einzelfallmedikation Midazolam-hcl 2,5 mg Nasenspray bei Agitation max 5 x täglich als Freiheitsbeschränkung für unzulässig zu erklären. Es fehle bereits an den formellen Voraussetzungen wegen Verletzung der Verständigungspflicht nach § 7 Abs 2 HeimAufG.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Eine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG sei nicht vorgelegen, weil es dem Bewohner nicht unmöglich gewesen sei, seinen Aufenthalt nach seinem Willen frei zu verändern.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Von einer Freiheitsbeschränkung könne nur dann gesprochen werden, wenn eine Ortsveränderung erfolgreich verhindert worden sei. Auf Freiheitsbeschränkungen ausgerichtete, aber „wirkungslose“ Maßnahmen seien nicht als Freiheitsbeschränkungen zu bewerten.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil höchstgerichtlicher Judikatur zur Frage der Qualifikation von auf Freiheitsbeschränkungen ausgerichtete, aber wirkungslose medikamentöse Maßnahmen fehle.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Einrichtungsleiterin beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

1. Voranzustellen ist, dass sich der Überprüfungsantrag vom 15. 11. 2019, bei Gericht eingelangt am 18. 11. 2019, gegen eine mit 4. 11. 2019 und damit zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits aufgehobene freiheitsbeschränkende Maßnahme richtet. Es handelt sich insoweit um einen Überprüfungsantrag nach § 19a HeimAufG.

2.1 Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn einer Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871).

2.2 Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Bewohners oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Bewohner nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RS0106974).

2.3 Die bloß ärztliche Anordnung eines eine Freiheitsbeschränkung herbeiführenden Medikaments unter bestimmten Voraussetzungen, ohne dessen tatsächliche Verabreichung (Bedarfsmedikation) ist für sich allein noch keine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG (7 Ob 87/19y mwN).

2.4 Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar, also primär (7 Ob 77/14w mwN) die Unterbindung des Bewegungsdranges bezweckt, nicht hingegen im Fall von unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875).

2.5 Dient der primäre Zweck des Medikamenteneinsatzes der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe, etc), dann ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (7 Ob 67/19g).

2.6 Aus diesen Grundsätzen ist abzuleiten, dass auch im Zusammenhang mit einem Medikament, das sedierend wirken soll, eine Freiheitsbeschränkung, nur dann vorliegt, wenn beim betroffenen Bewohner ein Ausmaß an Beruhigung eintritt, das ihm eine Ortsveränderung unmöglich macht bzw erschwert, sei es, dass er körperlich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt zur Fortbewegung in der Lage ist, sei es weil sein Impuls zur Fortbewegung verringert ist (vgl auch Barth, Freiheitsbeschränkung durch Medikamente; Zum Tatbestand der Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Maßnahmen nach dem HeimAufG, in iFamZ 2011/80; Bürger/Halmich, HeimAufG2, § 3 Rz 23, Bürger/Herdega in Neumayr/Resch/Wallner, Gmundner Kommentar zum Gesundheitsrecht [2016] § 3 HeimAufG Rz 12; a.A  Ganner, Medikamentöse Freiheitsbeschränkung nach dem HeimAufG; Besonderheiten und Zulässigkeitsvoraussetzungen, in iFamZ-Spezial 2010/46; ders in Grundzüge des Alten- und Behindertenrechts2, 222).

2.7 Zusammengefasst bedeutet dies, dass für das Vorliegen einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung durch eine Einmalmedikation die intendierte Bewegungseinschränkung auch in einem feststellbaren Ausmaß eintreten muss.

3. Die Vorinstanzen haben daher im vorliegenden Fall aufgrund der festgestellten Wirkungslosigkeit des Medikaments zutreffend eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 HeimAufG verneint. Dem Revisionsrekurs ist daher nicht Folge zu geben.

Textnummer

E129084

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00059.20G.0708.000

Im RIS seit

16.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.04.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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