TE OGH 2020/7/22 1Ob118/20i

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Veröffentlicht am 22.07.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj G***** M*****, geboren am ***** 2008, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionrekurs der Mutter Mag. L***** B*****, vertreten durch Mag. Constantin-Adrian Nitu, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 16. April 2020, GZ 45 R 160/20t-254, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. Februar 2020, GZ 6 Ps 223/11i-180, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Soweit im Revisionsrekurs ohne eigene inhaltliche Ausführungen auf den Rekurs Bezug genommen wird, ist dies unzulässig und unbeachtlich (RIS-Justiz RS0007029 [T7]).

2. Der Oberste Gerichtshof ist auch in Außerstreitsachen nicht Tatsacheninstanz (RS0108449 [T2]), weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht an ihn herangetragen werden können (RS0007236 [T4, T7]). Die Frage, auf welcher Beweisgrundlage Feststellungen getroffen wurden, betrifft den vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbaren Tatsachenbereich.

3. Der Grundsatz des Parteiengehörs erfordert nur, dass der Partei ein Weg eröffnet wird, auf dem sie die Argumente für ihren Standpunkt sowie überhaupt alles vorbringen kann, das der Abwehr eines gegen sie erhobenen Anspruchs dienlich ist. Das rechtliche Gehör ist daher etwa auch dann gewahrt, wenn sich die Partei nur schriftlich äußern konnte oder geäußert hat (RS0006048). Eine mögliche Verletzung des rechtlichen Gehörs im Verfahren außer Streitsachen wird geheilt, wenn die Möglichkeit bestand, den eigenen Standpunkt im Rekurs zu vertreten (RS0006057 [T12]; RS0006048 [T4, T10]). Die Mutter hatte in ihrem Rekurs gegen die Entscheidung des Erstgerichts Gelegenheit, ihren Standpunkt darzulegen, sodass ein allfälliger Mangel des Verfahrens erster Instanz keine Bedeutung mehr hätte.

4.1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen.

4.2. Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (RS0048736 [T3]). Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (§ 182 ABGB).

4.3. Nach § 107 Abs 2 AußStrG (idF KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15) kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch nur vorläufig einräumen oder entziehen.

4.4. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens), notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Rechtsklarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinn reduziert, dass diese nicht erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (RS0129538 [T3]).

5.1. Die Frage der Obsorgeübertragung und Erlassung einer vorläufigen Maßnahme hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG, es sei denn, dass bei der Entscheidung das Wohl des Kindes nicht ausreichend beachtet wurde (RS0007101 [T8, T13, T18]; RS0115719 [T5, T16]). Das ist hier aber nicht der Fall.

5.2. Das Rekursgericht begründete die vom Erstgericht verfügte vorläufige Maßnahme der Entziehung der Obsorge der Mutter und Übertragung dem Vater alleine mit der Gefährdung des Kindeswohls durch die Mutter. Nach den Feststellungen verweigert die Mutter trotz Gefährdungsmeldungen und Empfehlungen ihrem nunmehr fast 12jährigen Sohn die erforderliche psychotherapeutische Unterstützung. Sie ist in Erfüllung seiner Grundbedürfnisse, einschließlich der Erfüllung der Gesundheitsvorsorge, eingeschränkt. Gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen äußerte der Sohn, von der Mutter ab und zu kleine „Hauer“ auf Arm und Hand zu bekommen, wobei seine Mutter nervös sei und oft schreie. Ihre allgemeine und spezielle Erziehungsfähigkeit ist nicht gegeben. Sie versucht den Vater und dessen Mutter, auch in Gegenwart ihres Sohnes, möglichst negativ darzustellen, trägt den Konflikt mit dem Vater über den Sohn aus und instrumentalisiert ihn. Sie kann die kindlichen Bedürfnisse, und zwar die physiologischen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz, nicht gewährleisten und lehnt Unterstützungsangebote seit Jahren ab. Auch für die Zukunft kann insoweit eine Kindeswohlgefährdung nicht ausgeschlossen werden. Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass aus Gründen der Gefährdung des Kindeswohls eine vorläufige Obsorgeentziehung erforderlich sei, auch wenn die Kontinuität der Erziehung zwangsläufig nicht bestehen bleibt, wobei bisher ein Wechselmodell gelebt wurde und daher von einem „Herausreißen“ aus der bisherigen Umgebung nicht gesprochen werden könne, ist nicht korrekturbedürftig.

5.3. Die Mutter vermag im Revisionsrekurs keine Fehlbeurteilung aufzuzeigen. Die vom Erstgericht auf 15 Seiten getroffenen, eingehenden Feststellungen reichen aus. Aufgrund der (vorläufig) alleinigen Obsorge des Vaters tritt für ihren Sohn zwar eine deutliche Änderung ein, weil die Kontakte zu seiner Mutter nun eingeschränkt sind, jedoch wurde bereits bisher ein Wechselmodell der Betreuung zwischen den Eltern gelebt, sodass von einem „Herausreißen“ des Kindes aus der bisherigen Umgebung keine Rede sein kann. Dass der Wille des nunmehr fast 12jährigen Sohnes nicht relevant sein kann, weil ihm nach den Feststellungen die Mindestanforderungen an einen kindlichen Willen fehlen, übergeht die Mutter. Dass eine Kindeswohlgefährdung „erst bei nachhaltiger Verletzung des Gewaltverbots“ vorliegen soll, ergibt sich auch nicht aus § 137 Abs 2 Satz 2 ABGB, wird doch dort nur festgelegt, dass die Anwendung jeglicher Gewalt unzulässig ist. Die von ihr gegenüber ihrem Sohn in Form von leichten „Hauern“ auf Arm und Hand ausgeübten Schläge waren nicht einmalig, sondern kamen immer wieder („ab und zu“) vor. Feststellungen zu einer negativen Zukunftsprognose beim Verbleib der Mitobsorge bei ihr wurden getroffen.

Nach den Feststellungen verweigert die Mutter dem Sohn die erforderliche psychotherapeutische Behandlung. Warum die von ihr in den Raum gestellte „beschlussmäßige Anordnung an [die] Eltern, dem Minderjährigen einer psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen,“ Abhilfe schaffen sollte, legt sie nicht dar.

Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist zwar der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Die Mutter vermag jedoch nicht aufzuzeigen, welche anderen Maßnahmen bei hier feststehender Gefährdung des Kindeswohls bei weiterer Aufrechterhaltung der Mitobsorge in Betracht kämen. Nach den Feststellungen brachte die bisher aufgetragene Mediation und Erziehungsberatung nicht den gewünschten Erfolg.

6. Mangels einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG ist der außerordentliche Revisionsrekurs daher nicht zulässig und zurückzuweisen.

Textnummer

E129067

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00118.20I.0722.000

Im RIS seit

15.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

27.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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