TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/6 L529 2179030-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.09.2019
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Entscheidungsdatum

06.09.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L529 2179030-1/20E

Schriftliche Ausfertigung des am 29.04.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Irak, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.11.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.04.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als "BF" bezeichnet), ein Staatsangehöriger des Irak, stellte nach illegaler Einreise am 05.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 06.11.2015 gab der BF als Fluchtgrund an, dass er nicht wisse warum er sein Land verlassen habe, er habe aber Angst vor dem Krieg. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor den XXXX .

I.2. Am 24.05.2017 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Er gab dabei im Wesentlichen an, dass er im Irak vergewaltigt worden sei. Die Einvernahme wurde daraufhin nach Hinweis auf § 20 AsylG - auf ausdrücklichen Wunsch des BF - abgebrochen.

I.3. Bei der zweiten Einvernahme vor dem BFA am 19.07.2017 gab der BF im Wesentlichen an, ihm sei in einer Wohngegend von drei Fahrzeugen der Weg abgeschnitten worden. Vermummte, bewaffnete Männer seien ausgestiegen und hätten den BF zusammengeschlagen, ihm die Hände gefesselt und hätten ihn in den Kofferraum gesteckt. Nachdem man ihn aus dem Kofferraum geholt habe, habe man ihm die Augen verbunden und man habe ihn weiter geschlagen. Er sei in einen geschlossenen Raum gebracht worden. Seine Augen seien verbunden gewesen und er habe nichts sehen können. Ihm seien dann die Kleider vom Leib gerissen worden und er sei von sieben Männern vergewaltigt worden. Während der Vergewaltigung sei er auch mit einem Stock geschlagen worden. Danach sei er nackt in den Kofferraum gesteckt und später in Bagdad aus dem Auto geworfen worden. Er sei dann von einem Fremden nachhause gebracht worden und dann ins Krankenhaus gegangen. Dort sei er drei Tage geblieben. Dies sei Mitte des siebten Monats im Jahr 2011 gewesen. Er habe nicht zur Polizei gehen können, weil diese wie die Entführer dreckige Leute seien. Er habe außerdem eine Narbe an der linken Schulter von dem Vorfall davongetragen.

I.4. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

I.5. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde der Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den BF günstigerer Bescheid erzielt worden wäre, in vollem Umfang angefochten (AS 293 ff.).

I.6. Der Verwaltungsakt langte am 07.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Infolge einer Unzuständigkeitsanzeige langte der Verwaltungsakt am 29.01.2019 bei der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung ein.

I.7. Für den 29.04.2019 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden dem BF länderkundliche Informationen zum Irak, sowie eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25.02.2019 übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt. Am 23.04.2019 langte eine diesbezügliche Stellungnahme des BF ein.

I.8. Am 29.04.2019 führte das BVwG die mündliche Verhandlung durch. Daran nahm nur der BF als Partei teil, die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter. Nach ausführlicher Einvernahme des BF, bei der er Gelegenheit hatte, zu seinem Fluchtvorbringen, seiner Integration und seiner Rückkehrsituation Stellung zu nehmen, wurde das Erkenntnis mit den wesentlichen Entscheidungsgründen verkündet.

I.9. Mit - beim BVwG am 09.05.2019 einlangendem - Schriftsatz vom 08.05.2019 beantragte der BF die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

I.10. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, des Gerichtsaktes und Durchführung einer mündlichen Verhandlung Beweis erhoben.

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

II.1.1. Zur Person des BF:

Die Identität des BF steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger, Araber und sunnitischer Moslem. Er ist ledig und kinderlos. Er stammt aus Bagdad. Dort lebte er vor der Ausreise im Stadtteil XXXX im eigenen Haus seiner Eltern. Er spricht Arabisch als Muttersprache. Er besuchte im Irak für sechs Jahre die Grundschule. Danach besuchte er zumindest für ein Jahr die Mittelschule, schloss diese jedoch nicht ab. Er arbeitete in Bagdad als Hilfsarbeiter auf Baustellen und der Gemeinde, sowie als Maler.

Der BF leidet an Diabetes mellitus Typ II und begegnet dieser Erkrankung bedarfsabhängig mit Insulinspritzen. Die entsprechende Medikation ist im Irak erhältlich. Im Übrigen ist er gesund und arbeitsfähig. Der BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung.

Im Irak leben noch ein Bruder und eine Schwester, sowie ein Onkel des BF. Seine Eltern sind bereits verstorben. Ein Cousin, der mit dem BF bis nach Österreich mitgeflüchtet war, kehrte noch im November 2015 mit seiner Familie in den Irak zurück und lebt seither in Bagdad. Der BF verfügt zudem über Freunde im Irak (AS 77).

In Österreich ( XXXX ) leben noch drei Brüder des BF mit deren Familien. Zu seinen Brüdern besteht regelmäßiger telefonischer Kontakt, es besteht jedoch kein gemeinsamer Wohnsitz und kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis. Fallweise besucht der BF diese Brüder. Eine Schwester des BF lebt in Norwegen, eine weitere in Schweden.

Der BF verließ im Juli 2007 erstmals den Irak und reiste über die Türkei nach Griechenland. Er reiste in der Folge nach Norwegen, wo er am 19.11.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte und - mit Ausnahme eines kurzen zwischenzeitlichen Aufenthalts in Schweden, wo er ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz stellte - bis etwa April 2011 aufhältig war. Er begründete diese damaligen Anträge damit, dass die Lage im Irak nicht in Ordnung sei. Nach negativer Entscheidung über seinen Antrag kehrte der BF im Jahr 2011 in den Irak zurück.

Ob der BF zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen Juli 2011 und 21.09.2011, oder im Oktober 2015 den Irak in die Türkei verließ und in der Folge dort für vier Jahre in Ankara arbeitete, ehe er nach Österreich reiste, war nicht feststellbar.

Der BF spricht kaum Deutsch. Er besuchte Deutschkurse, hat bislang jedoch keine Deutschprüfung absolviert. Die Deutschkenntnisse des BF sind für eine Verständigung im Alltag noch unzureichend. In seiner Freizeit spielt er mit Bekannten Fußball. Er ist kein Mitglied in einem Verein. Der BF ist seit ca. Februar 2019 im Ausmaß von ca. zwei bis vier Stunden etwa einmal pro Woche ehrenamtlich für den Verein " XXXX " tätig. Der BF ging in Österreich bislang keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach und bestreitet seinen Lebensunterhalt seit der Asylantragstellung im Rahmen der staatlichen Grundversorgung. Er lebt in einer Unterkunft für Asylwerber in XXXX .

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF in seinem Heimatland Irak eine begründete Frucht vor einer asylrelevanten Verfolgung droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Irak der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wäre.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine eine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in den Irak zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

II.1.3.1. Zur Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv, die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018).

Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 4.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018).

Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 6.2.2018).

So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 6.10.2018).

Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge, Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017, für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben, da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai, Juli, August und Dezember (UNAMI 3.1.2017).

IBC dokumentierte im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016 935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

Sicherheitslage Bagdad

Die Provinz Bagdad ist die kleinste und am dichtesten bevölkerte Provinz des Irak, mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit der Provinz wird sowohl vom "Baghdad Operations Command" kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Im Jahr 2016 verzeichnete die Provinz Bagdad noch immer die höchste Zahl an Opfern im gesamten Land. Die Sicherheitslage verbesserte sich jedoch in Bagdad als die Schlacht um Mosul begann. Während Joel Wing im Januar 2016 in Bagdad noch durchschnittlich 11,6 Angriffe pro Tag verzeichnete, sank diese Zahl zwischen April und September 2017 auf durchschnittlich 3 Angriffe pro Tag (OFPRA 10.11.2017; vgl. Joel Wing 8.7.2017, Joel Wing 4.10.2017). Seit 2016 ist das Ausmaß der Gewalt in Bagdad allmählich zurückgegangen. Es gab einen Rückgang an IS-Aktivität, nach den Vorstößen der irakischen Truppen im Nordirak, obwohl der IS weiterhin regelmäßig Angriffe gegen militärische und zivile Ziele durchführt, insbesondere, aber nicht ausschließlich, in schiitischen Stadtvierteln. Darüber hinaus sind sunnitische Bewohner der Gefahr von Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt, einschließlich Entführungen und außergerichtlichen Hinrichtungen (OFPRA 10.11.2017).

Terroristische und politisch motivierte Gewalt setzte sich das ganze Jahr 2017 über fort. Bagdad war besonders betroffen. UNAMI berichtete, dass es von Januar bis Oktober 2017 in Bagdad fast täglich zu Angriffen mit improvisierten Sprengkörpern kam. Laut UNAMI zielten einige Angriffe auf Regierungsgebäude oder Checkpoints ab, die von Sicherheitskräften besetzt waren, während viele andere Angriffe auf Zivilisten gerichtet waren. Der IS führte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung durch, einschließlich Autobomben- und Selbstmordattentate (USDOS 20.4.2018).

Laut Joel Wing kam es im Januar 2018 noch zu durchschnittlich 3,3 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bagdad pro Tag, eine Zahl die bis Juni 2018 auf durchschnittlich 1,1 Vorfälle pro Tag sank (Joel Wing 3.7.2018). Seit Juni 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad langsam wieder auf 1,5 Vorfälle pro Tag im Juli, 1,8 Vorfälle pro Tag im August und 2,1 Vorfälle pro Tag im September gestiegen. Diese Angriffe bleiben Routine, wie Schießereien und improvisierte Sprengkörper und konzentrieren sich hauptsächlich auf die äußeren südlichen und nördlichen Gebiete der Provinz (Joel Wing 6.10.2018).

Insgesamt kam es im September 2018 in der Provinz Bagdad zu 65 sicherheitsrelevanten Vorfällen. Damit verzeichnete Bagdad die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im ganzen Land (Joel Wing 6.10.2018). Auch in der ersten und dritten Oktoberwoche 2018 führte Bagdad das Land in Bezug auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle an. Wenn man jedoch die Größe der Stadt bedenkt, sind Angriffe immer noch selten (Joel Wing 9.10.2018 und Joel Wing 30.10.2018).

II.1.3.2. Sicherheitskräfte und Milizen

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle ausgeübt (USDOS 20.4.2018).

Volksmobilisierungseinheiten (PMF)

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" (al-hashd al-sha'bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere "Minderheiten-Einheiten" der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 20.4.2018). Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.2.2018).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.2.2018). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten das Assad-Regime in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und der iranischen Revolutionsgarde. Ende 2017 war keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch Premierminister und ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben "iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 20.4.2018).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa'ib Ahl al-Haqq und den Kata'ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF. Diese Meldungen haben sich mit dem Konflikt um die umstrittenen Gebiete zum Teil verschärft (AA 12.2.2018).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mosul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf - mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen - oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind/waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind/waren (Posch 8.2017).

II.1.3.3. Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.2.2018). Es gab zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, die PMF und die Peshmerga (USDOS 20.4.2018).

II.1.3.4. Häusliche Gewalt, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigung

Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist (MIGRI 22.5.2018). Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar (MIGRI 22.5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

II.1.3.5. Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt (AA 12.2.2018). Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 13.6.2018).

Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore (GIZ 11.2018).

Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD. Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind dann noch zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 11.2018).

In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.2.2018). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.2.2018).

II.1.3.6. Zu den Erkrankungen des BF wird zudem auf die eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25.02.2018 verwiesen. Die wesentlichen Passagen lauten:

Laut Erhebungen von MedCOI zur Medikamentenversorgung im Irak vom 19.2.2019 sind der Wirkstoff Atorvastatin und das Medikament Insulatard [Wirtstoff: (Human) Insulin, als Insulininjektionen in verschiedenen Stärken], in Privatapotheken in Bagdad erhältlich.

Laut Iraqi Diabetes Association leiden über eine Million Menschen und laut International Medical Corps sogar 10,2 % der irakischen Bevölkerung an Diabetes. Registrierte Diabetiker können jeden Monat in der Ambulanz eines Krankenhauses ihren Blutzucker testen und andere notwendige Analysen durchführen lassen. In den Ambulanzen erhalten sie anschließend Insulin und Diabetesmedikamente sowie Medikamente gegen Komplikationen im Zusammenhang mit Diabetes, wenn diese im Krankenhaus verfügbar sind. Im öffentlichen Sektor stehen alle erforderlichen Standarddienste zur Verfügung. Die Behandlung ist nicht kostenlos, sondern wird gegen eine Nominalgebühr durchgeführt. Das Krankenhaus Al Kindy in Bagdad verfügt über ein spezialisiertes Zentrum für Diabetes- und endokrine Erkrankungen. In privaten Krankenhäusern und Kliniken liegen die Behandlungskosten zwischen ca. 37,00 und 74,00 EUR. Es gibt ein spezielles System für Arme, insbesondere in ländlichen Gebieten und in einigen Stadtteilen. Für diese Patienten sind am Nachmittag die Ambulanzen der medizinischen Primärversorgung geöffnet, wo der Patient ca. 2,22 EUR für eine Beratung sowie die Hälfte eines des in privaten Apotheken üblichen Medikamentenpreises bezahlt.

II.1.3.7. Religion

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 Prozent) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 Prozent). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar. Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Allerdings ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht.

II.1.3.8. Grundversorgung und Wirtschaft

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich.

Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms "Habitat" leben 70 Prozent der Iraker in Städten. Die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums.

In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt.

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des sogenannten Islamischen Staat und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits. Vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt.

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor.

Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist. Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern. Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber.

So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014.

Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15-24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25-49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten.

Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung.

Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten.

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.

Wasserversorgung

Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Iran, die sich auf den Wasserstand von Euphrat und Tigris auswirken und zur Verknappung des Wassers beitragen. Niedrige Wasserstände führen zu einem Anstieg des Salzgehalts, wodurch das bereits begrenzte Wasser für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet wird.

Parallel zur Wasserknappheit tragen veraltete Leitungen und eine veraltete Infrastruktur zur Kontaminierung der Wasserversorgung bei. Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Im August meldete Iraks südliche Provinz Basra 17.000 Fälle von Infektionen aufgrund der Kontaminierung von Wasser. Der Direktor der Gesundheitsbehörde Basra warnte vor einem Choleraausbruch.

Nahrungsversorgung

Laut Welternährungsorganisation sind im Irak zwei Millionen Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. 22,6 Prozent der Kinder sind unterernährt. Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge benötigen mindestens 700.000 Iraker Nahrungsmittelhilfe.

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Schätzungen zufolge hat der Irak in den letzten vier Jahren jedoch 40 Prozent seiner landwirtschaftlichen Produktion verloren. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurde unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen. Das Land ist stark von Nahrungsmittelimporten abhängig.

Das Sozialsystem wird vom sogenannten "Public Distribution System" (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen. Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schweren Ineffizienzen gekennzeichnet ist. Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt.

II.1.3.9. Rückkehr

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Autonome Region Kurdistan finden regelmäßig statt.

Studien zufolge ist die größte primäre Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak. In der Autonomen Region Kurdistan gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der Autonomen Region Kurdistan kurz- und mittelfristig verbessern wird.

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger. Die Miete für 250m2 in Bagdad liegt bei ca. 320 USD. In den Städten der kurdischen Autonomieregion liegt die Miete bei 300-600 USD für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 11 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 7-18 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 22-29 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000 IQD für private oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom.

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser im Land. Jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. Wohnen ist zu einem der größten Probleme im Irak geworden, insbesondere nach den Geschehnissen von 2003. Die Immobilienpreise in irakischen Städten sind in den letzten zehn Jahren stark angestiegen. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem IS stellt der Wohnungsbau eine besonders dringende Priorität dar. Im November 2017 bestätigte der irakische Ministerrat ein neues Programm zur Wohnbaupolitik, das mit der Unterstützung von UNHabitat ausgearbeitet wurde, um angemessenen Wohnraum für irakische Staatsbürger zu gewährleisten. Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrer nicht.

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, des Gerichtsaktes und Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage sowie dem Beschwerdeschreiben des BF fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

II.2.2. Die Feststellungen zur Person des BF ergeben sich aus seinen in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben, seinen Sprach- und Ortskenntnissen, und dem vorgelegten Identitätsdokument. Die Identität des BF steht aufgrund der Vorlage seines irakischen Reisepasses fest. Daraus ergibt sich auch die irakische Staatsangehörigkeit des BF. Die Feststellungen zu seiner Religionsgruppenzugehörigkeit, seinen familiären und persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, sowie jenen in Österreich, konnten anhand der Angaben des BF im gesamten Verfahren und der Verwaltungsakten getroffen werden.

Die arabische Volksgruppenzugehörigkeit war aufgrund der zuletzt gemachten Angaben des BF vor dem BFA und dem BVwG feststellbar. Zwar gab er in seiner ersten Einvernahme vor dem BFA am 24.05.2017 an, Turkmene zu sein (AS 71), dies relativierte er in der folgenden Einvernahme am 19.07.2017 jedoch dahingehend, dass er zwar turkmenische Vorfahren gehabt habe, sein gesamter Stamm jedoch nun der arabischen Volksgruppe zugehöre (AS 101). Dies untermauerte er auch in der mündlichen Verhandlung und gab an, sich ausschließlich der arabischen Volksgruppe zugehörig zu fühlen (Seite 15 des Verhandlungsprotokolls), weshalb die entsprechende Feststellung erfolgte.

Der BF machte während des Verfahrens unterschiedliche Angaben hinsichtlich des Schulbesuchs im Irak. In der Erstbefragung gab er zunächst an, von 1982 bis 1990 die Grundschule besucht zu haben (AS 11). In der ersten Einvernahme vor dem BFA meinte er hingegen, er könne sich an seine Schulausbildung nicht erinnern. Über Befragen gab er dann jedoch an, die Schule bis zur zweiten Unterstufe besucht zu haben (AS 73). In der zweiten Einvernahme am 19.07.2017 meinte er hingegen, im Irak für sieben Jahre die Grundschule besucht zu haben (AS 103). In der mündlichen Verhandlung gab er schließlich an, die Schule für acht Jahre besucht zu haben, wobei er dies unter Hinweis auf seine bisher nicht gleichlautenden Angaben insoweit konkretisierte, als dass er sechs Jahre die Grund- und zwei Jahre die Mittelschule besucht, letztere jedoch nicht abgeschlossen habe (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls). Angesichts dieser widersprüchlichen Angaben folgte die obige Feststellung, wonach der BF sechs Jahre die Grundschule sowie zumindest für ein Jahr die Mittelschule besucht hat, zumal dieser Zeitraum in sämtlichen Angaben des BF Deckung findet.

Die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand ergeben sich aus den Angaben in der mündlichen Verhandlung, sowie aus dem vorgelegten ärztlichen Entlassungsbrief des Landesklinikums XXXX vom 23.10.2018. Daraus ließen sich folgende Diagnosen ableiten:

* Hyperglykämie-Entgleisung bei

* Diabetes mellitus Typ 2

* V.a. TIA

* chronischer Alkoholabusus

* Dyslipämie

Dem BF wurde als Medikation Sortis 80mg sowie Insulatard verschrieben. Der eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation ist zu entnehmen, dass die angeführten Medikamente im Irak verfügbar sind. Insbesondere in Bagdad - der Herkunftsstadt des BF - ist die medizinische Versorgung bei Diabetes Mellitus gewährleistet.

Dazu nahm der BF mit Schriftsatz vom 16.04.2019 Stellung und führte aus, dass das irakische Gesundheitssystem an groben Mängeln leide und bei weitem keine nach europäischem Standard garantierte Versorgungslage gegeben sei. Für den BF - als Binnenflüchtling - erscheine äußerst fraglich, ob eine adäquate Behandlungsmethode oder sein Medikament an jedem Ort verfügbar sei, wenn er sich gar verstecken müsse und könnte für den BF in letzter Konsequenz für ihn sehr gefährlich werden.

Die Bedenken, dass sich der BF im Irak verstecken müsse, treffen - wie auch nachfolgend angeführt - nicht zu und ergibt sich aus der genannten Anfragebeantwortung, dass die in Rede stehenden Wirkstoffe in Bagdad verfügbar sind.

In der mündlichen Verhandlung gab der BF dazu an, dass er unter Zuckerkrankheit leide, sonst sei er gesund. Auf Nachfrage gab er an, dass er manchmal Medikamente wegen der Zuckerkrankheit einnehme.

In einer Gesamtschau ist folglich davon auszugehen, dass der BF an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung leidet und eine medizinische Grundversorgung im Irak als gewährleistet anzusehen ist.

Die Feststellung mangelnder Deutschkenntnisse des BF konnten aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindrucks, bei der der BF auch einfache Fragen nicht auf Deutsch beantworten konnte, getroffen werden. Er brachte zwar eine Deutschkursbesuchsbestätigung in Vorlage, den Nachweis über die Ablegung einer Deutschprüfung erbrachte er aber nicht.

Die Reisebewegungen konnten im obigen Ausmaß aufgrund der übereinstimmenden Angaben des BF festgestellt werden. Sein Aufenthalt in Norwegen und Schweden war anhand seiner gleichlautenden Angaben feststellbar (AS 105). Die Feststellungen zur Asylantragstellung in Norwegen ergaben sich zudem aus dem eingeholten IZR-Auszug den BF betreffend. Auch die Gründe für seine damalige Asylantragstellung legte der BF gleichlautend dar (AS 109, Seite 7 des Verhandlungsprotokolls). Nicht feststellbar war, ob der BF - wie von ihm im gesamten Verfahren behauptet - den Irak bei seiner zweiten Ausreise bereits im September 2011 verlassen hat und in der Folge für vier Jahre in Ankara in der Türkei lebte (AS 17, 77 und 105, Seiten 10 ff des Verhandlungsprotokolls) oder ob er - wie zwei seiner Brüder in deren Verfahren angaben - gemeinsam mit seinen Geschwistern im Jahr 2015 aus dem Irak ausgereist ist.

Die Feststellungen, dass der BF Leistungen aus der Grundversorgung bezieht und strafrechtlich unbescholten ist, ergeben sich aus einem GVS-Auszug vom 13.05.2019 und einem Strafregisterauszug vom 11.12.2017.

II.2.3. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen - sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges - handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen.

Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten - von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen - diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann. Hingegen findet sich hinsichtlich der Überlegungen zur diplomatischen Zurückhaltung bei Menschenrechtsorganisationen im Allgemeinen das gegenteilige Verhalten wie bei den oa. Quellen nationalen Ursprunges. Der Organisationszweck dieser Erkenntnisquellen liegt gerade darin, vermeintliche Defizite in der Lage der Menschenrechtslage aufzudecken und falls laut dem Dafürhalten - immer vor dem Hintergrund der hier vorzunehmenden inneren Quellenanalyse - der Organisation ein solches Defizit vorliegt, dies unter der Heranziehung einer dem Organisationszweck entsprechenden Wortwahl ohne diplomatische Rücksichtnahme, sowie uU mit darin befindlichen Schlussfolgerungen und Wertungen - allenfalls unter teilweiser Außerachtlassung einer systematisch-analytischen wissenschaftlich fundierten Auswertung der Vorfälle, aus welchen gewisse Schlussfolgerungen und Wertungen abgeleitet werden - aufzuzeigen.

Die getroffenen Feststellungen zum Irak beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak mit letzter Gesamtaktualisierung vom 20.11.2018, welches sich seinerseits auf verschiedene anerkannte und teilweise vor Ort agierende staatliche und nichtstaatliche Quellen stützt, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Soweit in der Beschwerde Berichte aus den Jahren 2014, 2016 und 2017 zitiert wurden, so erweisen sich diese Berichte gegenüber den nunmehr herangezogenen - gleichzeitig mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelten - als veraltet.

Den vom BVwG herangezogenen Erkenntnisquellen ist der BF weder in seiner Stellungnahme vom 23.04.2019, noch in der mündlichen Verhandlung substantiiert entgegengetreten.

Auf Grundlage dieser Länderberichte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer solchen extremen Gefährdungslage im Herkunftsort des BF (hier konkret: in Bagdad) gesprochen werden, dass gleichsam jede Person bzw. jeder Sunnit, der sich in Bagdad aufhält oder dorthin zurückkehrt, einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt ist.

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348).

Anzumerken ist weiters, dass bei einem Land wie dem Irak mit einer sehr hohen Berichtsdichte, in dem praktisch ständig neue Erkenntnisquellen entstehen, es de facto unmöglich ist, sämtliches existierendes Berichtsmaterial zu berücksichtigen, weshalb die belangte Behörde bzw. das ho. Gericht ihrer Obliegenheit zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak nachkommt, wenn sie bzw. es sich zur Entscheidungsfindung eines repräsentativen Querschnitts des bestehenden Quellenmaterials bedient.

Die Feststellungen zur medizinischen Versorgung im Irak bei Diabetes mellitus, konnten anhand der entsprechenden Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25.02.2019 (das Datum 25.02.2018 - vgl. OZ 13 - war insofern zu berichtigen) getroffen werden. Auch diesen wurde nicht substantiiert entgegengetreten, sondern im Wesentlichen deren jederzeitige Verfügbarkeit angezweifelt. Dem ist aber zu entgegnen, dass der BF in der mündlichen Verhandlung angab, ausschließlich bedarfsbezogen Insulinspritzen zu verabreichen. Eine - wie in der Stellungnahme befürchtete - "sehr gefährliche" Situation für den BF aufgrund der medizinischen Versorgungslage im Irak ist vor diesem Hintergrund aber nicht anzunehmen.

II.2.4.

Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern.

II.2.4.1. Das BFA führte in der Beweiswürdigung aus, dass der BF bei der Einvernahme am 19.07.2017 angegeben habe, dass er im Juli 2011 in Bagdad von sieben unbekannten männlichen Personen vergewaltigt und misshandelt worden wäre. Danach habe er zwei Monate später den Irak Richtung Türkei verlassen. In der Erstbefragung dagegen habe er angegeben, dass er den Irak aus Angst vor dem Krieg verlassen habe. Das ausreisekausale Vorbringen habe der BF daher erst sehr spät im Verfahren vorgebracht und erweise sich dieses auch als erheblich gesteigert im Hinblick auf die Angaben in der Erstbefragung.

Nun ist zwar grundsätzlich eine Gegenüberstellung der Erstbefragung mit der Einvernahme im Hinblick auf ein gesteigertes Vorbringen nicht zielführend, zumal die Erstbefragung lediglich einer ersten Orientierung dienen soll und sich gem. § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Im gegenständlichen Fall stellt das Vorbringen in der Einvernahme jedoch ein Kernvorbringen bezüglich der Flucht der BF aus dem Irak dar. Warum der BF nicht einmal ansatzweise diesen Vorfall erwähnte, ist in hohem Maße unverständlich.

Zudem habe sich ein erheblicher Widerspruch zwischen den Angaben der Brüder des BF (diese hätten in der Erstbefragung angegeben, dass der BF mit ihnen gemeinsam im Jahr 2015 Bagdad verlassen habe) und seinen eigenen Angaben (er habe sich den Brüdern in der Türkei angeschlossen) ergeben.

Diesen beweiswürdigenden Argumenten des Bundesamtes ist seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Ergebnis zuzustimmen.

II.2.4.2. Die am 29.04.2019 durchgeführte öffentliche mündliche Verhandlung bestätigte die vom BFA vorgenommene Wertung und ließ das Bundesverwaltungsgericht aufgrund nachangeführter Darstellung - die Beweiswürdigung des BFA mitberücksichtigend - zu den angeführten Feststellungen gelangen.

Dass der BF offenbar Umstände schildert, die nicht der Wahrheit entsprechen, wird dadurch erkennbar, wenn die Aussagen des BF in Bezug auf die im Irak stattgefundenen Verfolgungshandlungen und damit im Zusammenhang stehende Details betracht

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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