TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/26 L526 2167914-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.09.2019
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Entscheidungsdatum

26.09.2019

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L526 2167914-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.07.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am XXXX .2019 zu Recht:

A)

1. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

2. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt III. zu lauten hat:

"Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, ist gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt."

3. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz "BF" genannt) stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 30.06.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am Tag der Antragstellung gab der BF an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX geboren und habe dort im Viertel XXXX gelebt. Er sei Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und Moslem. Er habe neun Jahre lang die Grundschule besucht und sei zuletzt als Hilfsarbeiter tätig gewesen. Zu seinem Familienstand gab er an, ledig zu sein.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der BF zusammengefasst vor, den Irak am 10.6.2015 verlassen zu haben und an diesem Tag von XXXX nach XXXX geflogen zu sein. Dort sei er für etwa vierzehn Tage in der Wohnung eines Schleppers geblieben. Am 24.06.2015 sei er versteckt in einem LKW über eine ihm unbekannte Route bis nach Salzburg gefahren. Dort habe er sich ein Taxi genommen und sei zum Ort der Einvernahme gefahren.

Zu den Gründen für seine Ausreise aus dem Heimatland befragt, führte der BF aus, er habe sich vor etwa einem Jahr freiwillig den kurdischen Streitkräften, den Peshmerga, angeschlossen und mitgemacht. Ihr Stützpunkt sei beim Flughafen XXXX gewesen. Es gebe auch Fotos davon; auch solche, wo er mit Leichen von IS-Leuten, die bei einem Flugzeugbombardement gestorben seien, zu sehen sei. Er habe diese Fotos auf einem Facebook-Account präsentiert und habe deswegen einmal einen Drohanruf von Unbekannten erhalten. Später habe er noch einmal einen Anruf von Unbekannten bekommen, welche ihn mit dem Umbringen bedroht hätten, falls er die Peshmerga weiterhin unterstütze. Aus Angst vor diesen Leuten habe er sich entschieden, sein Land zu verlassen.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 10.11.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, der nunmehr belangten Behörde (in weiterer Folge auch kurz "bB" genannt), im Beisein eines Dolmetschers in der Sprache Kurdisch Sorani niederschriftlich einvernommen.

Zur Person und den Lebensumständen befragt, gab der BF die schon anlässlich der Ersteinvernahme bekannt gegebenen Personalien an und führte ferner aus, dass er in XXXX geboren sei und dort zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern gelebt habe. Seine Eltern, die zwei Brüder und eine Schwester würden nach wie vor in XXXX leben. Er habe täglich Kontakt zu ihnen. Der Familie ginge es gut.

Er habe insgesamt acht Jahre lang die Grundschule besucht und habe danach zu Hause als Programmierer gearbeitet; er sei Webdesigner gewesen und habe Internetseiten programmiert.

In der Folge wurden dem BF Fragen bezüglich seines Privat- und Familienlebens in Österreich gestellt.

Zu seinem Reisepass gab der BF an, der Schlepper habe ihm diesen abgenommen und zu seiner Adresse im Irak geschickt. Der Pass sei bei seinem Vater. Binnen etwa zwei Wochen werde er diesen vorlegen.

Zu den Gründen für das Verlassen seines Heimatstaates befragt, gab der BF an, er habe im März 2015 an vielen Kampfhandlungen in XXXX und Umgebung teilgenommen. Auf der Homepage des Militärs und auf Facebook seien die Kämpfer gelobt worden und es habe dazu auch Fotos gegeben. Nach einem Flugzeugbombardement über einem IS-Gebiet hätten sie die Leichen von IS-Kämpfern einsammeln müssen. Er sei auch dabei gewesen und mit den Leichen fotographiert worden. Das habe man auf Facebook gesehen. Die Fotos seien öffentlich zugänglich gewesen. Nach diesem Vorfall habe er einen Anruf bekommen. Der Anrufer habe den örtlichen Dialekt gesprochen und gesagt: " XXXX , was Du tust, ist nicht richtig. Das wird Folgen haben. Wenn Du so weitermachst, werde ich Dich persönlich enthaupten.". Der Anruf sei zwischen dem 02. und dem 05.06.2015 erfolgt. Er habe seinen Vater benachrichtigt. Dieser habe die Telefonnummer rückverfolgen wollen, um die Person auszuforschen. Der Vater habe versucht, die Nummer zu kontaktieren, aber niemand habe geantwortet. Auch er habe es versucht und es habe sich auch bei seinem Anruf niemand gemeldet. Am selben Tag habe er einen weiteren Anruf erhalten, den er aber verpasst habe. Das sei vier oder fünf Stunden nach dem ersten Telefonkontakt gewesen. Der Vater habe sich von einem befreundeten Anwalt vertreten lassen. Dieser habe gesagt, dass man nicht viel tun könne. Er solle vorsichtig sein und zu Hause bleiben. Am selben Tag sei er noch zu seinem Großvater gezogen. In der Nacht habe man ihn kontaktiert und ihm gesagt, dass es ein Problem gebe. Die gesamte Verwandtschaft hätte versucht, mehr über diese Nummer in Erfahrung zu bringen. Schließlich seien sie zu dem Schluss gekommen, dass der Anrufer nicht ausfindig gemacht werden könne. Er habe Angst um sich selbst gehabt und dass die Familie zu Hause angegriffen werde. Am 08.06.2015 habe er ein Flugticket gekauft und am 10.06.2015 das Land verlassen.

Zu Details befragt, gab der BF an, er sei im Jahr 2014 zu den Peshmerga gegangen. Er habe freiwillig geholfen und im Jahr 2014 habe es auch einen Aufruf gegeben, dass sich Freiwillige melden sollen. Am Anfang sei er freiwilliger Mitarbeiter gewesen, später dann bei einer Art Sicherheitsdienst, welcher Gebäude oder große Hochzeitsfeiern bewacht habe. Von den Peshmerga habe er im Falle einer Rückkehr nichts zu befürchten.

Den Drohanruf habe er den Peshmerga gemeldet, aber dort habe man ihm gesagt, dass man in einem solchen Fall nicht helfen könne. Die Frage, ob er konkret persönlich vom IS jemals bedroht worden sei, verneinte der BF.

Die Bedrohungen hätten seiner Meinung nach selbst dann nicht aufgehört, wenn er mit seiner Hilfstätigkeit bei den Peshmerga aufgehört hätte, weil es keine Garantie gebe, dass derjenige auch aufhört, wenn man selbst aufhört. In einer anderen Stadt der autonomen Region Kurdistan habe er auch nicht leben können, da es in Kurdistan in jeder Stadt Hintergrundgruppierungen gebe, die über das Internet gut vernetzt sind. Wenn die etwas tun möchten, würden sie das auch tun - überall in Kurdistan. Die Peshmerga könnten auch keinen Schutz garantieren, zumal sie auch nicht alle Zufluchtsstellen des IS kennen würden. Er sei auch ein Sonderfall, da viele Fotos von ihm im Internet gewesen seien und er auch im Fernsehen gewesen sei. Es sei auch nicht nur der IS zu fürchten, sondern viele seiner Anhänger und freiwillige Helfer. Von den irakischen oder kurdischen Sicherheitskräften habe er nichts zu befürchten. Probleme wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Religionszugehörigkeit oder wegen seiner Nationalität habe er bislang nicht erfahren. Er habe sich weder im Irak noch außerhalb jemals politisch betätigt und gehöre auch keiner politischen Organisation oder Partei an. Auch aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe sei er bislang nicht verfolgt worden. Schwierigkeiten mit Privatpersonen, irakischen oder internationalen Behörden habe er bislang ebenfalls noch nicht zu gewärtigen gehabt.

Abschließend gab der BF an, dass die Verständigung mit dem Dolmetscher immer gut gewesen sei. Dem BF wurden aktuelle Länderinformationen zu seinem Herkunftsstaat ausgefolgt.

Anlässlich dieser Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:

- Fotos von Personen in Uniform bzw. Kampfausrüstung, auf denen auch der BF zu sehen ist

- Bestätigung über eine Teilnahme an einem Deutschkurs zum Sprachniveau A1

- Berichte und Ausdrucke aus dem Internet sowie ein Schreiben in kurdischer Sprache

3. Am 24.09.2016 wurde der Behörde der Reisepass des BF auf dem Postweg übermittelt.

4. Am 20.04.2017 übermittelte der BF einen Brief an die bB, in welchem er über seine Integrationsfortschritte berichtete und legte unter einem ein ÖSD Zertifikat über das Sprachniveau A1 vor, aus welchem hervorgeht, dass er eine Prüfung mit der Note "sehr gut" bestanden hat. Ferner wurde ein Empfehlungsschreiben einer befreundeten Familie vorgelegt.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.07.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die bB nach Wiedergabe der Einvernahme des BF und den Feststellungen zu dessen Person aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der BF im Irak einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder einer solchen derzeit ausgesetzt wäre. Eine Rückkehr in den Irak sei dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar.

Beweiswürdigend erwog die bB im Wesentlichen, dass es Widersprüche zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme vor der Behörde gegeben habe und die Angaben des BF der Behörde auch nicht plausibel erschienen. So habe der BF bei der Erstbefragung angegeben, es habe zwei Anrufe gegeben, mit welchen ihm mit dem Tod gedroht worden sei, vor dem Bundesamt hingegen habe er angegeben, den zweiten Anruf verpasst zu haben. Der BF habe auch angegeben, es gebe veröffentlichte Fotos, welche ihn beim Einsammeln von IS-Leichen zeigten und welche der Grund für die Bedrohungen gewesen sein sollten. Gerade diese habe er aber nicht vorlegen können. Nicht nachvollziehbar sei, dass der Vater versucht habe, den Anrufer zu kontaktieren, zumal in der Folge auch die Familie ins Visier des Anrufers hätte geraten können. Nicht nachvollziehbar sei auch, weshalb der BF die Drohungen nicht angezeigt habe und sei auch die Tatsache, dass seine Familie ohne Probleme noch in der kurdischen Autonomieregion leben könne, zu berücksichtigen. Selbst wenn die Geschichte des BF der Wahrheit entspreche, würde eine einmalige telefonische Bedrohung jedoch nicht die von der GFK geforderte Intensität erreichen.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die bB, der BF habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem BF sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

6. Mit Verfahrensanordnungen der bB vom 21.07.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Absatz 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und dieser ferner gemäß § 52a Absatz 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

7. Gegen den dem BF am 27.07.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der beigegebenen Rechtsberatung fristgerecht mit Schriftsatz vom 10.08.2017 eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wurde die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem BF den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuzuerkennen. In eventu sei ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zuzuerkennen. Die gegen den BF ausgesprochene Ausweisung und Rückkehrentscheidung mögen aufgehoben werden. Ferner wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt. Hilfsweise wurde ein Aufhebungsantrag gestellt.

In der Folge wurde dargelegt, dass der BF seiner Mitwirkungspflicht so gut wie möglich nachgekommen sei, die Erstbehörde jedoch verabsäumt habe, den vorgebrachten Hinweisen von Amts wegen nachzugehen. Ferner wurde der Ansicht des belangten Bundesamtes entgegengetreten, nach welcher der BF nicht in der Lage gewesen sei, mit seinem Vorbringen eine Verfolgung oder Bedrohung seiner Person im Irak glaubhaft zu machen und sein Vorbringen vage, unschlüssig, zu wenig detailreich und seine Geschichte somit erfunden sei. Unter Wiederholung der Fluchtgeschichte des BF wurde dazu ausgeführt, dass der BF sein Vorbringen auch mit Fotos, auf welchen er mit den Peshmerga zu sehen ist, und Berichten aus dem Internet unterlegt habe. Der BF werde aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner Tätigkeit gegen ISIS verfolgt. Dem BF sei nicht bewusst gewesen, dass die Fotos, welche auf der Internetplattform Facebook für jeden zugänglich seien so eine hohe Wichtigkeit hätten und es sei ihm auch geraten worden, dass andere Leute diese Fotos nicht sehen sollten. Im Zuge der Rechtsberatung sei der BF jedoch aufgeklärt worden, dass gerade diese Bilder am wichtigsten seien, da sie den Kern seines Vorbringens bestätigen würden.

Ferner wurde ausgeführt, dass es in Bezug auf die Anzahl der Drohanrufe und dem Zeitpunkt der Todesdrohung zu einem Übersetzungsfehler gekommen sein müsse und der Vorwurf der Behörde, der BF habe den Peshmerga den Vorfall gar nicht gemeldet, nicht richtig sei; der BF habe ausdrücklich angegeben, dass er den Drohanruf bei den Peshmerga gemeldet habe, es sei ihm aber gesagt worden, dass in so einem Fall nicht geholfen werden könne. Die bB sei bei der Entscheidungsfindung daher nicht vom richtigen Sachverhalt ausgegangen.

In der Folge wurden verschiedene Berichte über sicherheitsrelevante Vorfälle in der Autonomen Region Kurdistan, beispielsweise aus der Informationsplattform ecoi.net, der online-Ausgabe des Spiegel oder der Zeit zitiert.

Schließlich wurde dargelegt, dass es die bB unterlassen habe, sich mit dem gesamten individuellen Vorbringen sachgerecht auseinanderzusetzen und diesbezüglich ein adäquates Ermittlungsverfahren durchzuführen. Auch erweise sich die Befragung des BF durch die bB als für die Ermittlung des wesentlichen Sachverhaltes im Hinblick auf seinen Fluchtgrund unzureichend und leide der Bescheid daher an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel.

Im Falle der Abschiebung in den Irak drohe dem BF eine reale Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK und für den BF als Zivilperson auch eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes. Es bestehe auch die Gefahr, dass der BF im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Situation gerate. Der BF wäre einem Klima ständiger Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen sowie einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Der BF sei Sunnit und könne sich nicht überall im Irak niederlassen. Aus diesem Grund bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative für den BF.

Insgesamt habe sich das Bundesamt unzureichend mit den Angaben des BF auseinandergesetzt und somit auch eine nicht nachvollziehbare Beweiswürdigung vorgenommen.

Der Beschwerdeschrift wurden verschiedenen Ablichtungen aus dem Internet (Facebook) beigeschlossen, auf welchem der BF etwa im Kampfanzug und bewaffnet mit anderen Kämpfern oder neben einer Leiche stehend zu sehen ist

8. Die Beschwerdevorlage langte am 11.08.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

9. Am 21.07.2017 und 30.11.2018 langten jeweils Mitteilungen der bB ein, mit welchen Bewilligungen des Arbeitsmarktservice für die Beschäftigung des BF als "Abräumer" für die Wintersaison 2017/2018 weitergeleitet wurden. Mit einer Mitteilung vom 19.06.2019 wurde eine Bewilligung für die Tätigkeit als "Gastgewerbliche Hilfskraft" für die Dauer von Dezember 2018 bis Mai 2019 weitergeleitet.

10. Am XXXX .2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF und seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch Sorani durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem BF Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen.

Ferner wurde die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert, welche dem BF bereits zusammen mit einer Einladung zur Verhandlung übermittelt und ihm eine Stellungnahme hierzu freigestellt wurde.

Dem BF wurden in der Beschwerdeverhandlung weitere länderkundliche Informationen, konkret zu den Peshmerga in der autonomen Region Kurdistan, übergeben und ihm eine Frist zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

Der BF wurde in der mündlichen Verhandlung auch zu seinen privaten Interessen und seiner Integration befragt und legte dazu auch mehrere Unterlagen seine Integration in Österreich betreffend dar; konkret handelt es sich um folgende Unterlagen:

- Lohn- und Gehaltsabrechnungen aus den Jahren 2018 und 2019

- Arbeitsverträge zweier Dienstgeber

- Arbeitszeugnisse

- Bestätigung über die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds vom 06.04.2017

- Zertifikat über eine abgelegte Prüfung zum Sprachniveau A2 vom 10.07.2017, welche "gut bestanden" wurde

Dem BF wurde eine Frist zur Vorlage weiterer Integrationsunterlagen gewährt.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben und hat die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde mit Schreiben vom 2.9.2019 beantragt.

11. Mit Schriftsatz vom 11.09.2019 übermittelte der BF im Wege seiner Rechtsvertretung eine Stellungnahme zu den ihm in der mündlichen Verhandlung ausgefolgten Länderdokumentationsunterlagen samt Beilagen.

In Bezug auf die in der mündlichen Verhandlung übergebenen Berichte zu den Peshmerga wurde dargelegt, dass damit die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF untermauert werde. Insbesondere sei zu beachten, dass die darin aufgelisteten Fakten mit den Ausführungen des BF in Einklang stünden.

Die Eingabe enthält auch einen Link, über den ein Video einsehbar ist. Auf diesem Video seien Aufnahmen einer Überwachungskamera zu sehen, welche auf dem Haus der Eltern in XXXX montiert sei und einen Vorfall in der Nachbarschaft aufgenommen habe. Dazu wurde ausgeführt, dass - wie auf dem Video ersichtlich - es kein Problem sei, bis zum Haus des BF vorzudringen, um einen Anschlag zu verüben, zumal auf dem Video zu sehen sei, dass bewaffnete Männer in der unmittelbaren Nachbarschaft des BF Schüsse abgegeben und damit einen Polizeieinsatz verursacht hätten.

Der Stellungnahme wurde ferner ein medizinisches Attest beigelegt, nach welchem eine klinische Untersuchung bis auf einen kleineren Abszess unauffällig sei und keine Medikamente oder Dauertherapie verordnet würden.

Ferner wurden ein Empfehlungsschreiben eines Hotelbetriebes sowie ein Schreiben einer Steuerkanzlei vorgelegt. Aus diesen geht hervor, dass für die kommende Sommer-Saison eine Beschäftigungsbewilligung für den BF vorliege; die Anmeldung zur Sozialversicherung für die letzte Sommersaison sei seitens der Steuerberatungskanzlei unter irrtümlicher Annahme einer für den BF vorliegenden Beschäftigungsbewilligung nicht in gewohnter Sorgfalt durchgeführt worden, wobei der BF jedoch korrekt angemeldet gewesen sei und auch Steuern bezahlt habe.

Zudem wurde eine Bestätigung eines weiteren Gastgewerbebetriebes vorgelegt, aus welchem hervorgeht, dass der BF in der Wintersaison 2019/2020 in deren Betrieb beschäftigt werden soll.

12. Mit Schreiben vom 12.09.2019 unterrichtete das Bundesverwaltungsgericht den BF von einer Beweisaufnahme, nach welcher eine Einsicht in den vom BF genannten Facebook-Account ergab, dass die zusammen mit der Beschwerdeschrift vorgelegten Fotos sowie weitere Fotos, die etwa das jetzige Lebensumfeld des BF zeigen und Einblick in seine militärische Vergangenheit geben, noch für einen unbegrenzten Kreis von Facebook-Mitgliedern einsehbar sind. Der BF wurde eingeladen, dazu Stellung zu beziehen und insbesondere darzulegen, weshalb das Bundesverwaltungsgericht angesichts der Entscheidung des BF, diese Fotos auf der Plattform zugänglich zu machen bzw. zu belassen, von einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung bzw. Gefährdung im Rückkehrfall ausgehen solle. Mit Schreiben vom 17.09.2019 legte der BF im Wege seiner Rechtsvertretung dar, dass er sich in einem sicheren Land befinde. Ob die Fotos nach wie vor öffentlich auf Facebook zu sehen sind, sei daher nicht mehr relevant. Dies auch deshalb, da die seinerzeitige Tätigkeit bei seinen Bedrohern ohnehin bekannt sei. Würde er die Bilder nicht öffentlich zugänglich belassen, würde sich die Gefahr der weiteren Bedrohung nicht minimieren. Der BF habe auch wenig Kenntnisse im Umgang mit Facebook, sodass er nicht wisse, wie die Einstellungen im Hinblick auf die Privatsphäre zu ändern seien.

13. Am 23.09.2019 langten vom Bundesverwaltungsgericht beauftragte Übersetzungen von Inhalten verschiedener Internetseiten betreffend freiwillige Unterstützer der Peshmerga, die der BF im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt hatte, ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF führt den Namen XXXX und ist Staatsangehöriger des Irak. Er wurde am XXXX in der Stadt XXXX geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern und Geschwistern. Der BF ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung, er ist ledig und hat keine Kinder. Die Muttersprache des BF ist Kurdisch-Sorani, er spricht aber auch Arabisch.

Der BF besuchte im Irak acht Jahre lang die Grundschule. Im Anschluss an den Schulbesuch arbeitete er als Web-Designer und Programmierer. Im Jahr 2014 schloss er sich freiwillig den kurdischen Streitkräften, den Peschmerga, an.

Mitte des Jahres 2015 verließ der BF den Irak legal von XXXX ausgehend mit dem Flugzeug in Richtung Istanbul und reiste in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 29.06.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Seine Eltern und Geschwister sowie Verwandte halten sich noch am Herkunftsort auf. Der Vater arbeitet als Tagelöhner, die Mutter ist Hausfrau. Einer der Brüder arbeitet in einem Computergeschäft, ein anderer arbeitet bei einer Hilfsorganisation. Der BF steht mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt.

1.2. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise in seinem Herkunftsstaat aufgrund der Unterstützung der Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan von Kämpfern oder Sympathisanten des Islamischen Staates, etwa in Form von Drohanrufen, bedroht wurde oder dieser anderweitige Übergriffe oder eine konkrete Bedrohung seitens der Milizen oder von Anhängern des Islamischen Staates zu gewärtigen hatte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer sonstigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere ist der BF im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit psychischer und/oder physischer Gewalt seitens verbliebener Anhänger des Islamischen Staates und/oder schiitischer Milizen ausgesetzt.

Ferner wird dem BF im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Anhängerschaft bzw. Unterstützung des Islamischen Staates oder ein sonstiges Naheverhältnis zu dieser Terrororganisation vor seiner Ausreise unterstellt werden.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion einem exzeptionellen Sicherheitsrisiko ausgesetzt sein würde.

Der BF ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit mehrjähriger Schulbildung sowie Berufserfahrung im IT-Bereich.

Der BF leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als im Bundesgebiet - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat und über bestehende familiäre und verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in XXXX .

Der BF verfügt über ein irakisches Ausweisdokument im Original (Reisepass).

1.4. Der BF hält sich seit etwa Mitte Juni 2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der BF bezog ab der Antragstellung bis 01.05.2018 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er verfügt mittlerweile jedenfalls seit Mai 2018 über eine geeignete eigene Unterkunft in Form eines Pensionszimmers, für dessen Kosten er selbst aufkommt.

Für den BF wurde erstmals im Jahr 2017 eine Bewilligung des Arbeitsmarktservice für die Tätigkeit eines "Abräumers" im Bereich der Gastronomie für die Wintersaison 2017/2018, sodann auch für die Wintersaison des Jahres 2018/2019 sowie die Sommersaison 2019 ausgestellt. Dem Gericht wurden Lohn- und Gehaltsabrechnungen, Dienstverträge und Arbeitszeugnisse vorgelegt. Der letzten Gehaltsabrechnung zufolge wurden dem BF nach Abzug der gesetzlich vorgeschriebenen Steuern und Beiträge 1.466, 70 Euro ausbezahlt.

Der BF besuchte am 06.04.2017 einen Werte- und Orientierungskurs. Ferner nahm er an sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen teil. Zuletzt legte er am 10.07.2017 die Prüfung über das Sprachniveau A2 ab, welche er "gut bestanden" hat. Der BF verbessert seine Sprachkenntnisse laufend durch die Kommunikation am Arbeitsplatz und in seinem Freundeskreis. Er verfügt über gute Kenntnisse der deutschen Sprache, etwa auf dem Niveau A2 bis B1, wobei einige Dialekteinschläge zu bemerken sind.

Der BF unterhält ferner mannigfache soziale Kontakte zu österreichischen Staatsangehörigen, wobei das Verhältnis zu einer namentlich genannten Familie als intensiv und freundschaftlich zu bezeichnen ist.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.5. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen (die gekürzt angeführten Quellen wurden dem BF gegenüber offengelegt):

1. Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.02.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Am 002.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 02.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018). Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.02.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 12.02.2018). Die ethnische und religiöse Zusammensetzung der einzelnen Regionen des Irak ist aus der Grafik im Punkt Minderheiten ersichtlich.

1.1. Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018). Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).

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Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al-Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen, die daraufhin angeordnet wurde, ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ 9.10.2018). Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers, des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken - eine Entwicklung, die einen Bruch mit den üblichen, schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer, konfessioneller und ethnischer Linien, darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).

1.2. Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormen Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

1.3. Autonome Region Kurdistan

Ein Teil des föderalen Staates Irak ist die Autonome Region Kurdistan, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Die Autonome Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung. Gemäß Art. 121 der irakischen Verfassung üben kurdische Sicherheitskräfte (insbesondere die militärisch organisierten Peschmerga und die Sicherheitspolizei Asayish) die Sicherheitsverantwortung in den Provinzen Erbil, Sulaimaniyya, Dohuk und Halabdscha aus; diese Kräfte kontrollieren darüber hinaus de facto Teile der Provinzen Diyala, Kirkuk und Ninawa. Die Autonome Region Kurdistan betreibt außerdem eine eigenständige Wirtschafts- und Außenpolitik und regelt Fragen der Grenzkontrolle selbst - hierzu gehört auch die von zentralirakischen Behörden unabhängige Vergabe von Visa.

Bis heute ist die Region faktisch zwischen KDP (Kurdistan Democratic Party) und PUK (Patriotic Union of Kurdistan) aufgeteilt - wobei die PUK in den letzten Jahren Einfluss an Goran abgeben musste. Innerhalb der autonomen Kurdenregion gibt es immer wieder Konflikte zwischen den drei großen irakisch-kurdischen Parteien KDP, Goran und PUK. Grund dafür ist unter anderem die Wirtschaftskrise und die weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft, die im Kurdengebiet vorherrschen. Darüber hinaus sorgte der Streit um die Präsidentschaft Mas?ud Barzanis für Spannungen, dessen (bereits außertourlich verlängerte) Amtszeit schon im August 2015 abgelaufen war. Die Waffenlieferungen des Westens und anderer Verbündeter an die Kurden haben zudem den Effekt, dass die kurdische Politik insgesamt zwar an Bedeutung gewinnt, sich jedoch dadurch die Spannungen zwischen den kurdischen Fraktionen weiter erhöhen. KDP und PUK sind durch ihre jeweiligen Bündnisse mit mächtigen - teilweise gegensätzlichen - Partnern gespalten: Die KDP mit Mas'ud Barzani, dem Präsidenten der KRG (Kurdish Regional Government - die Regionalregierung in der KRI) wird vorrangig vom Westen unterstützt und steht der Türkei nahe, während die PUK vorrangig vom Iran unterstützt wird und der türkischen PKK sowie der irakischen Regierung in Bagdad nahesteht. Beide Parteien haben ihre jeweils eigenen Militäreinheiten (Peschmerga), die im Kampf gegen den IS oftmals in einem starken Konkurrenzverhältnis zueinander stehen.

Das Verhältnis der Zentralregierung zur kurdischen Autonomieregion, die einen semi-autonomen Status innehat, hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der Autonomieregion und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil umstrittener Gebiete am 25.09.2017 deutlich verschlechtert (AA 12.02.2018). Die Kurden konnten das von ihnen kontrollierte Territorium im Irak in Folge der Siege gegen den IS zunächst ausdehnen. Mit dem Referendum am 25.09.2017 versuchte die kurdische Regional-Regierung unter Präsident Masud Barzani, ihren Anspruch auch auf die von ihr kontrollierten Gebiete außerhalb der drei kurdischen Provinzen zu bekräftigen und ihre Verhandlungsposition gegenüber der Zentralregierung in Bagdad zu stärken (BPB 24.1.2018).

Bagdad reagierte mit der militärischen Einnahme eines Großteils der umstrittenen Gebiete, die während des Kampfes gegen den IS von kurdischen Peshmerga übernommen worden waren, angefangen mit der ölreichen Region um Kirkuk (AA 12.02.2018). Die schnelle militärische Rückeroberung der umstrittenen Gebiete durch die irakische Armee, einschließlich der Erdöl- und Erdgasfördergebiete um Kirkuk, mit massiver iranischer Unterstützung, bedeutete für die kurdischen Ambitionen einen Dämpfer. Präsident Barzani erklärte als Reaktion darauf am 29.10.2017 seinen Rücktritt. Der kampflose Rückzug der kurdischen Peshmerga scheint auch auf zunehmende Differenzen zwischen den kurdischen Parteien hinzudeuten (BPB 24.1.2018).

Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregion (AA 12.02.2018). Im Dezember 2017 forderte die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen gegen die Regionalregierung in Sulaymaniya mehrere Todesopfer. Daraufhin hat sich die Oppositionspartei Gorran aus dem kurdischen Parlament zurückgezogen (BPB 24.1.2018). In der Autonomieregion gehen die Proteste schon auf die Zeit gleich nach 2003 zurück und haben seitdem mehrere Phasen durchlaufen. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind jedoch gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018).

Das Parlament der Autonomen Region Kurdistan hat 110 Abgeordnete; elf davon sind quotierte Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten. Zudem regelt eine Quote, dass dreißig Prozent der Mandate von Frauen wahrgenommen werden müssen. Am 30.9.2018 fanden in der kurdischen Autonomieregion Wahlen zum Regionalparlament statt (Tagesschau 30.9.2018). Mit einer Verzögerung von drei Wochen konnte die regionale Wahlkommission am 20.10.2018 die Endergebnisse veröffentlichen. Zahlreiche Parteien hatten gegen die vorläufigen Ergebnisse Widerspruch eingelegt. Gemäß den offiziellen Endergebnissen gewann die KDP mit 686.070 Stimmen (45 Sitze), vor der PUK mit 319.912 Stimmen (21 Sitze) und Gorran mit 186.903 Stimmen (12 Sitze) (ANF 21.10.2018; vgl. Al Jazeera 21.10.2018, RFE/RL 21.10.2018). Die Oppositionsparteien lehnen die Abstimmungsergebnisse ab und sagen, dass Beschwerden über den Wahlbetrug nicht gelöst wurden (Al Jazeera 21.10.2018).

2. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich verbessert, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv und ist die Sicherheitslage regional unterschiedlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates in allen Fällen sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten und zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (AA 12.02.2018).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.02.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es weiterhin zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).

Die im Folgenden dargestellte Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und ziviler Opfer ist im Kontext der Bevölkerungsanzahl eines Gouvernements zu sehen. Im Folgenden findet sich eine Tabelle mit Schätzungen der Bevölkerungszahlen der irakischen Provinzen (herausgegeben von der Republik Irak, mit Stand 2009):

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(Quelle: Republik Irak, zitiert bei UK HO 3.2017)

2.1. Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 03.07.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 06.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 04.10.2018; vgl. ISW 02.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 04.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Rückzugsgebiete des IS, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und wo sich IS-Kämpfer tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 06.10.2018). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 06.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.08.2018).

2.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 06.02.2018).

So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 06.10.2018).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt, im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im dritten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak im dritten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 12.11.2018).

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(Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) zusammengestellt von ACCORD, 12.11.2018)

Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017).

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle. dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016 935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

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(IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 31.10.2018)

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(IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence. https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 31.10.2018)

Der sich im Jahr 2018 bereits in der ersten Jahreshälfte abzeichnende Trend einer sich stetig verbessernden Sicherheitslage setzte sich bis zuletzt fort, was aus den untenstehenden Grafiken ersichtlich ist.

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(MOI - Musings on Iraq (12.2018): http://musingsoniraq.blogspot.com/2018/12/large-drop-in-violence-in-iraq-november.html, Zugriff 04.12.2018)

Im November 2018 wurde die geringste Anzahl ziviler Opfer im Irak seit sechs Jahren verzeichnet (UNAMI 3.12.2018).

2.3. Sicherheitslage Autonome Region Kurdistan (KRG)

In Erbil bzw. Sulaymaniya und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings ist die derzeitige Sicherheitssituation aufgrund der andauernden Kämpfe, in die teilweise auch die kurdischen Streitkräfte (Peshmerga) und diverse Milizen eingebunden sind, besorgniserregend. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (BMEIA 01.11.2018).

Die türkische Armee führt regelmäßig (teilweise im Abstand von wenigen Tagen) Luftangriffe auf PKK-Ziele in der kurdischen Autonomieregion im Irak durch. Beide Seiten (sowohl die Türkei als auch die PKK) geben wenig Informationen über die Opfer. In Einzelfällen handelt es sich um Zivilisten (CEDOCA 14.03.2018).

Nachdem die Kurdische Demokratische Partei des Iran (KDPI) ihre bewaffneten Aktivitäten im Jahr 2015 wieder aufnahm, fanden 2016 zum ersten Mal seit zehn Jahren auch wieder iranische Angriffe auf KDPI-Ziele in der Autonomen Region Kurdistan-Irak statt (CEDOCA 14.3.2018). Iranische Revolutionsgarden führten gezielte Tötungen von KDPI-Mitgliedern in der Autonomen Region Kurdistan durch (Al Monitor 7.3.2018). Der Iran hat in der Vergangenheit auch bewaffnete kurdische Oppositionsgruppen im Irak beschossen. Auch im September 2018 kam es zu einem tödlichen Raketenangriff der iranischen Revolutionsgarden auf die KDPI im Irak (Reuters 8.9.2018; vgl. RFE/RL 9.9.2018).

2.4. Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

In den Provinzen Ninewa und Salah al-Din muss weiterhin mit terroristischen Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden. Diese (abstrakte) Gefährdungslage gilt ebenfalls für die Provinz Anbar und die Provinz Ta'mim (Kirkuk), sowie auch für die Provinz Diyala, wo sich Rückzugsgebiete des Islamischen Staates befinden. Hinzu kommen Spannungen zwischen irakischen Streitkräften und kurdischen Peshmerga (AA 01.11.2018). Innerhalb der erwähnten Gouvernements ist die Sicherheitslage regional unterschiedlich.

Mit dem Zuwachs und Gewinn an Stärke von lokalen und sub-staatlichen Kräften, haben diese auch zunehmend Verantwortung für die Sicherheit, politische Steuerung und kritische Dienstleistungen übernommen. Infolgedessen ist der Nord- und Zentralirak, obgleich nicht mehr unter der Kontrolle des IS, auch nicht unter fester staatlicher Kontrolle. Die Fragmentierung der Macht und die große Anzahl an mobilisierten Kräften mit widersprüchlichen Loyalitäten und Programmen stellt eine erhebliche Herausforderung für die allgemeine Stabilität dar (GPPI 3.2018).

Der Zentralirak ist derzeit der wichtigste Stützpunkt für den IS. Die Gewalt dort nahm im Sommer 2018 zu, ist aber inzwischen wieder gesunken. In der Provinz Diyala beispielsweise fiel die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle von durchschnittlich 1,7 Vorfällen pro Tag im Juni 2018 auf 1,1 Vorfälle im Oktober 2018. Auch in der Provinz Salah al-Din kam es im Juni 2018 zu durchschnittlich 1,4 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Tag, im Oktober jedoch nur noch zu 0,5. Die Provinz Kirkuk verzeichnete im Oktober 2018 einen Anstieg an sicherheitsrelevanten Vorfällen, mit durchschnittlich 1,5 Vorfällen pro Tag, die höchste Zahl seit Juni 2018. Die Anzahl der Vorfälle selbst ist jedoch nicht so maßgeblich wie die Art der Vorfälle und die Schauplätze an denen sie ausgeübt werden. Der IS ist in allen ländlichen Gebieten der Provinz Diyala, in Süd-Kirkuk, Nord- und Zentral-Salah-al-Din tätig. Es gibt regelmäßige Angriffe auf Städte; Zivilisten und Beamte werden entführt; Steuern werden erhoben und Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen ausgeübt, die sich weigern zu zahlen; es kommt auch regelmäßige zu Schießereien. Es gibt immer mehr Berichte über IS-Mitglieder, die sich tagsüber im Freien bewegen und das Ausmaß ihrer Kontrolle zeigen. Die Regierung hat in vielen dieser Gegenden wenig Präsenz und die anhaltenden Sicherheitseinsätze sind ineffektiv, da die Kämpfer ausweichen, wenn die Einsätze im Gang sind, und zurückkehren, wenn sie wieder beendet sind. Der IS verfügt derzeit über eine nach außen hin expandierende Kontrolle in diesen Gebieten (Joel Wing 2.11.2018).

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Die Bundesjustiz besteht aus dem Obersten Justizrat (Higher Judicial Council, HJC), dem Bundesgerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission und anderen Bundesgerichten, die durch das Gesetz geregelt werden. Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft (LIFOS 8.5.2014). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.02.2018).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.02.2018). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Darüber hinaus schwächen die Sicherheitslage und die politische Geschichte des Landes die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 20.04.2018). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.02.2018).

Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 16.1.2018).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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