Entscheidungsdatum
10.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W168 2215918-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Bernhard MACALKA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.01.2019, Zl. 1172309002-171225946, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.11.2019, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer (auch: BF) reiste schlepperunterstützt und unberechtigt über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 30.10.2017 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bei einer durchgeführten Eurodac - Abfrage konnte in Erfahrung gebracht werden, dass der Beschwerdeführer zuvor in Bulgarien am 04.08.2016 und mit Datum 02.02.2017 Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatte.
2. Am 31.10.2017 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab dieser u.a. an, afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volkgruppe der Paschtunen zu sein. Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, dass es in seiner Heimat schon immer die Taliban gegeben habe. Nunmehr sei die Daesh - Gruppierung vorherrschend welche Unschuldige töte. Junge Burschen würden zwangsrekrutiert werden und gegen ihren Willen in den Krieg geschickt werden. Er selbst sei ebenfalls bedroht und aufgefordert worden, sich diesen anzuschließen oder ermordet zu werden. Bei einer Rückkehr in die Heimat würden ihn Anhänger der Daesh umbringen oder in den Krieg schicken.
Im Akt des Bundesamtes befindet sich ein Aktenvermerk vom 06.11.2017 betreffend "Indikatoren für Altersfeststellung", dem zu entnehmen ist, dass gemäß dem durch zwei Referenten durchgeführten "Vier-Augen-Prinzip" offenbar Zweifel an dem vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsdatum bzw. seiner Minderjährigkeit bestehen (vgl. AS 43).
Einem mit 15.11.2017 datierten Schreiben eines Röntgeninstitutes ist zu entnehmen, dass beim Beschwerdeführer eine Bestimmung des Knochenalters der linken Hand erfolgte, wobei "sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen seien und sich am Radius eine zarte Epiphysennarbe zeige". Das Ergebnis lautet: "GP 31, Schmeling 4" (AS 51).
In der Folge beauftragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Erstellung einer medizinischen Altersdiagnose. Aus einem gerichtsmedizinischen Gutachten vom 06.12.2017 geht hervor, dass sich in der Zusammenschau der Ergebnisse der radiologischen Untersuchungen der Hand, der Schlüsselbeine und des Gebisses für den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Untersuchung am 05.12.2017 ein Mindestalter von 16,4 Jahren ergebe. Das daraus errechnete "fiktive" Geburtsdatum laute XXXX , es ergebe sich für den Zeitpunkt der Asylantragstellung (30.10.2017) ein Mindestalter von 16,30 Jahren. Das wahrscheinliche Alter könne im gegenständlichen Fall nach der vorliegenden konsistenten Befundkonstellation zum Untersuchungszeitpunkt mit 17,8 Jahren angenommen werden. Das 18. Lebensjahr sei nach dem errechneten "fiktiven" Geburtsdatum am 12.07.2019 vollendet.
Mit Verfahrensanordnung vom 08.01.2018 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren worden sei.
3. Am 13.04.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: "BFA"), im Asylverfahren im Beisein eines Vertreters der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe beim Amt der NÖ Landesregierung niederschriftlich einvernommen.
Zu seinen Lebensumständen in Österreich befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er in einer Asylunterkunft wohnhaft sei und sich im Bundesgebiet keine Verwandten aufhalten würden, die ihn im Alltag unterstützen. Die Frage, ob er Mitglied in einem Verein, einer Moschee oder einer Organisation in Österreich sei, wurde vom Beschwerdeführer verneint. Er suche aufgrund neurologischer Beschwerden regelmäßig einen Arzt auf, nehme jedoch keine Medikamente ein. Die Frage, ob er in Österreich straffällig geworden sei, wurde vom Beschwerdeführer verneint.
Zu persönlichen Umständen befragt, erklärte der Beschwerdeführer, dass er afghanischer Staatsbürger sei und aus der Provinz Nangarhar stamme. Er spreche Dari und sei sunnitischer Paschtune. Befragt, ob er sein genaues Alter nennen könne, führte der Beschwerdeführer aus, dass er 16 Jahre alt und am XXXX geboren sei. Identitätsbezeugende Dokumente könne er nicht zur Vorlage bringen. Im Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer fünf Jahre die Grundschule besucht und ansonsten keine Berufsausbildung absolviert.
Zu seinen Familienangehörigen befragt, brachte der Beschwerdeführer vor, dass sich seine Familienangehörigen weiterhin in der Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , aufhalten würden. Seine Familie sei dorthin übersiedelt, nachdem sich der Beschwerdeführer nach Europa begeben habe. Zur Frage, was sein Vater beruflich mache, entgegnete der Beschwerdeführer, dass er Chauffeur gewesen sei und als Autoverkäufer tätig gewesen sei. Neben seinen Eltern und Geschwistern habe der Beschwerdeführer im Heimatland noch familiäre Anknüpfungspunkte in Form zweier Onkeln. Zu seinen Eltern stehe er in regelmäßigem Kontakt über das Internet, die wirtschaftliche Situation seiner Familie vor Ausreise sei gut gewesen.
Zu seinen Lebensumständen im Herkunftsstaat befragt, erwiderte der Beschwerdeführer, dass er vor seiner Ausreise im Viertel XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Nangarhar im Haus seines Onkels gelebt habe und sich dort ungefähr ein Monat aufgehalten habe. An derselben Adresse würden nach wie vor seine Eltern, seine Geschwister und sein Onkel leben. Die Schleppung habe insgesamt 8.000,- Euro gekostet und das Geld dafür hätte der Vater des BF aufgebracht.
Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, dass es in seinem Viertel zuerst die Taliban gegeben habe und nach einiger Zeit die Gruppierung "Daesh" mehrere Schüler anwerben habe wollen. Wenn man sich dieser nach zwei-oder dreimaligem Aufforderungen nicht anschließe, würde man getötet werden. Die Mitglieder der Gruppierung hätten dem Beschwerdeführer zudem mehrmals angedroht, seine Familie auszulöschen, weswegen er mit seinem Vater gesprochen habe und mit der gesamten Familie zu seinen Onkeln gezogen sei. Das Leben seiner Familie sei nach wie vor in Gefahr. Befragt, wann die "Daesh" in seinem Dorf aufgetaucht seien, erwiderte der Beschwerdeführer, dass diese sich vor zweieineinhalb Jahren, also in etwa fünf Monate vor seiner Ausreise in seiner unmittelbaren Nachbarschaft verbreitet hätten. Sie seien gegen 10 Uhr vormittags immer in der Schule gewesen und seien danach noch etwa drei Mal gekommen. Auf Aufforderung, die Situation zu beschreiben, wie die Daesh in die Schule gekommen seien, erklärte der Beschwerdeführer, dass sie beabsichtigt hätten, junge Leute anzuwerben und ihnen eine gute Ausbildung gewähren würden. Zur Frage, ob sich viele Jugendliche den "Daesh" angeschlossen hätten, führte der BF aus, dass alle Verweigerer das Gebiet unmittelbar nach den Anwerbungsversuchen verlassen hätten. Auf Vorhalt, wieso die Daesh die Jugendlichen nicht einfach mitgenommen hätten, erwiderte der Beschwerdeführer, dass sie gedacht hätten, sowieso die Kontrolle über das gesamte Gebiet zu haben. Zur Frage, ob es nach seiner Flucht gegen seine Familie weiterhin Bedrohungen gegeben habe, antwortete der Beschwerdeführer, dass sie gefragt worden sei, wieso sie den Beschwerdeführer nicht der Gruppierung übergeben, sondern ins Ausland geschickt habe. Befragt, wieso die "Daesh" gerade an ihm interessiert gewesen sei, erklärte der Beschwerdeführer, dass sie ganz allgemein an allen Jugendlichen interessiert gewesen seien. Einer seiner Onkel sei von den Taliban erschossen worden, da er vor längerer Zeit für die Regierung gearbeitet und seinen Bart abrasiert habe. Zur Frage, in welchem Zusammenhang die Ermordung seines Onkels mit ihm stehe, gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass der Onkel ein Gegner der Taliban gewesen sei und ihnen dieser Onkel Zuflucht gewährt habe. Seiner Familie sei vor zwei Jahren umgezogen und es habe seit diesem Zeitpunkt neben der Ermordung seines Onkels keine Vorfälle gegeben. Befragt, wie seine Familie den Lebensunterhalt bestreite, antworte der Beschwerdeführer, dass er dies nicht wisse, obwohl er in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie stehe. Im Monat vor seiner Ausreise habe er jedenfalls keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Zum weiteren Vorhalt, dass er vorher erwähnt habe, dass jeder, der das Land verlasse und sich weigere, der Gruppierung anzuschließen, umgebracht werde, erklärte der Beschwerdeführer, dass sein Vater der Terrormilz nicht in die Hände gefallen sei. Auf Vorhalt, weshalb seine Familienmitglieder auch weiterhin in Afghanistan wohnhaft sein könnten, währenddessen sich der Beschwerdeführer selbst nach Österreich begeben habe, entgegnete der Beschwerdeführer, dass sich im Heimatland derzeit nur mehr zwei Onkeln mütterlicherseits aufhalten würden und deren Leben ebenfalls gefährdet sei. Die Daesh würden sich für Jugendliche im Alter von 14 oder 15 Jahren interessieren, sein Bruder komme ebenfalls bald in dieser Alter. Befragt, ob er die Möglichkeit gehabt hätte, sich in einen anderen Landesteil seines Heimatlandes zu begeben, erwiderte der Beschwerdeführer, dass in jeder Provinz dieselbe volatile Lage vorherrsche. Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat würde er umgebracht werden. Die Frage, ob er in einem anderen europäischen Land um Asyl angesucht habe oder im Heimatland straffällig geworden sei, wurde vom Beschwerdeführer verneint.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden vom Beschwerdeführer eine Bestätigung der erfolgreichen Kursteilnahme vom 11.04.2018 und ein psychotherapeutischer Bericht vom 07.04.2018 in Vorlage gebracht, wonach der Beschwerdeführer unter Albträumen, ausgeprägter Tagesmüdigkeit sowie erhöhter Reizbarkeit leide.
Mit Schriftsatz vom 04.05.2018 wurde vom bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers ein Schreiben einer Sprachtrainerin vom 03.05.2018 über den Bildungsverlauf im Rahmen eines Anfängerkurses auf dem Niveau A1 übermittelt.
4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit oben genanntem Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte III.-VI.).
In der Bescheidbegründung wurde von der belangten Behörde insbesondere ausgeführt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers grundsätzlich oberflächlich, widersprüchlich, nicht plausibel und im Laufe des Verfahrens gesteigert bzw. abgeändert worden sei. Befragt, ob es vor seiner Ausreise zu irgendwelchen Vorkommnissen gekommen sei, hätte der BF behauptet, dass in gerade diesem Monat nichts passiert wäre, obwohl er kurz zuvor in der Einvernahme erwähnt habe, dass kurze Zeit nach dem Eintreffen seiner Familie und ihm ein Onkel erschossen worden sei. Zudem sei auszuführen, dass er die Frage, ob ihm etwas zugestoßen sei, einerseits verneint habe, andererseits aber bejahend geantwortet habe, dass die Taliban einen Onkel mütterlicherseits von ihm erschossen hätten. Der Beschwerdeführer habe eine dementsprechende Bescheinigung über den Tod seines Onkels bzw. sonstige Unterlagen, die für seinen Wahrheitsgehalt sprechen würden, der Behörde nicht in Vorlage bringen können. Unverständlich und nicht nachvollziehbar sei, warum der Beschwerdeführer in seinem Fluchtvorbringen vor der Behörde angegeben habe, dass die Daesh im Bezirk XXXX aufgetaucht seien, der Beschwerdeführer in der Einvernahme zuvor jedoch angegeben habe, ein Monat vor seiner Ausreise mit seiner Familie nach den Bedrohungen der Daesh nach XXXX in den Ort XXXX gezogen zu sein. Was eine allfällige Verfolgung in Afghanistan wegen einer Zwangsrekrutierung anbelange, habe er eine solche anfangs unsubstantiiert in den Raum gestellt, indem er generalisierend darauf hingewiesen habe, dass die Daesh Jugendliche seines Alters aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschließen, um kurz darauf zugleich subjektive Beispiele zu nennen und seine persönlich erlebte Bedrohung angeführt, habe diesbezüglich jedoch keine konkreten Nachweise liefern können. Glaubhaft erscheine ebenso nicht, warum die Familie des Beschwerdeführers ihren Lebensmittelpunkt aufgrund der vermeintlichen Aussage der Daesh aufgeben oder verlegen hätte sollen. Es erscheine nicht logisch und lebensnah, von Bedrohungen verfolgt in einen Distrikt zu fliehen, in dem sich das Hauptquartier der Daesh befinde. Zudem sei vorzubringen, dass er vor etwa drei Jahren sein Heimatland verlassen habe und es entgegen seiner Behauptung seitens der Daesh keine Übergriffe gegenüber seiner Familie gegeben habe. Weitere Umstände, die individuell und konkret den Beschwerdeführer betreffen und auf eine konkrete Verfolgung seiner Person hindeuten könnten, hätten nicht festgestellt werden können. Unter dem Gesichtspunkt der amtsbekannten Lage in seiner Herkunftsregion und der Angaben seinerseits zum Fluchtgrund sei die Behörde zur Feststellung gekommen, dass der angegebene Grund für sein Verlassen des "Heimatlandes" unglaubwürdig erscheine. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer einer realen Verfolgung durch die Daesh bzw. die Taliban ausgesetzt gewesen sei. Anzumerken sei weiters, dass der Beschwerdeführer persönlich weder die prinzipiellen Zwecke der Mitglieder der Daesh vereitelt bzw. in besonderem Maß gegen ihre Interessen verstoßen oder ihnen maßgebliche Schäden zugefügt habe, zumal nicht davon auszugehen sei, dass ihn die Daesh als Feind bzw. Ungläubigen betrachten würden. Überdies sei nach ungefähr zweieinhalb bis drei Jahren nach seiner Ausreise nicht mehr davon auszugehen, dass seitens der Daesh weiterhin ein besonderes Interesse an seiner Person bestehe bzw. bestehen könnte. An dieser Beurteilung vermöge auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses noch minderjährig gewesen sei, nichts zu ändern. Gemäß den getroffenen Feststellungen sei die Herkunftsprovinz Nangarhar als volatil einzustufen, es bestehe jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat. Der Beschwerdeführer leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und sei somit arbeitsfähig. Die Behandelbarkeit von psychischen Erkrankungen sei in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif gegeben. Der Beschwerdeführer habe eigenen Angaben zufolge eine fünfjährige Schulbildung und beherrsche beide Amtssprachen. Zudem habe er sein Wissen und seine Bildung durch Besuchen von Kursen und Ausbildungen in Österreich erweitern können. Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG sei davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes seiner Person im Bundesgebiet das persönliche Interesse seiner Person am Verbleib im Bundesgebiet-insbesondere aufgrund der verhältnismäßig kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich und mangels intaktem Familie-und Privatleben in Österreich überwiege und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliege.
5. Gegen den oben genannten Bescheid wurde vom Jugendwohlfahrtsträger als gesetzlicher Vertreter des zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde erhoben. Insbesondere wurde moniert, dass das Bundesamt im Rahmen seiner Manuduktionspflicht alle dem Beschwerdeführer möglichen Gefahren von sich aus zu berücksichtigen habe, selbst, wenn er diese nicht vorgebracht habe. In seinem Fall habe das Bundesamt jedoch die ihm drohende Gefahr verkannt, insbesondere auch seine aussichtslose Lage als vulnerabler Minderjähriger nicht berücksichtigt, ebenso wenig die prekäre Sicherheitssituation. Das Bundesamt verkenne die Sicherheitslage in Afghanistan und berücksichtige nicht die derartige konkrete und spezielle Gefährdung Minderjähriger. Kabul komme als innerstaatliche Fluchtalternative nicht infrage, da nach Herkunft und Abstammung gefragt und Anonymität nach europäischen Vorstellungen nicht existiere. Zudem würde der Beschwerdeführer als Minderjähriger in eine ausweglose Situation geraten, weshalb für ihn eine Rückkehr nicht zumutbar sei. In den Länderberichten des BFA werde festgehalten, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor höchst volatil sei. Bei richtiger Abwägung der Interessen hätte das BFA daher zum Ergebnis gelangen müssen, dass seine persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK iVm Art. 1 BVG über die Rechte von Kindern gegen das öffentliche Interesse einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 13.03.2019 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Insbesondere wurde zur Begründung der Beschwerde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen altersentsprechend detaillierte Angaben hinsichtlich seiner Fluchtgründe, wonach dieser insbesondere von Zwangsrekrutierungen bedroht wäre, bzw. auch der Onkel des BF ermordet worden wäre, im erstinstanzlichen Verfahren erstattet habe. Ungereimtheiten, Widersprüche oder Ungenauigkeiten, vor Allem auch in Bezug auf Zeitangaben, wären mit einem minderen Maßstab aufgrund der Minderjährigkeit des BF zu beurteilen gewesen. Dies hätte das BFA im gegenständlich angefochtenen Bescheid nicht entsprechend berücksichtig. Im entsprechenden EASO Bericht aus Dezember 2017 würde auf die Gefährlichkeit der Provinz Nangahar hingewiesen. Im Herkunftsstaat wäre der BF nicht nur von Zwangsrekrutierungen, sondern auch von Entführungen oder Ermordung durch die Taliban, von struktureller Gewalt, bzw. von Menschenrechtsverletzungen, sowie durch die allgemein prekäre Lage in asylrelevanter Weise bedroht. Das BFA hätte die Lage von Minderjährigen in Afghanistan nicht in entsprechender Weise, insbesondere hinsichtlich der Zuerkennung eines subsidiären Schutzes berücksichtigt, bzw. nicht berücksichtigt, dass für diesen als Minderjährigen Kabul als Großstadt nicht in Frage käme. Es könne nicht erwiesen werden, dass der BF seinen Lebensunterhalt bei einer Rückkehr sichern könne, bzw. nicht in eine Art. 3 EMRK relevante Gefährdung geraten würde. Die privaten Interessen am Verbleib des BF, insbesondere als Minderjähriger, gem. Art. 8 EMRK würden aufgrund der in Österreich bereits erhaltenen Ausbildungen und Schulungen das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Aus diesem Grund wären die Anträge zu stellen, das BVwG möge eine mündliche Verhandlung durchführen, den Status des Asylberechtigten gem. §3 AsylG zuerkenne, in eventu dem BF subsidiären Schutz zuerkennen, einen Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen erteilen, die Rückkehrentscheidung ersatzlos beheben, sowie feststellen, dass eine Abschiebung des BF nach Afghanistan unzulässig sei.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.11.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Hierbei wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit geboten vor dem erkennenden Gericht umfassend die Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates darzulegen, bzw. wurde dieser zu einzelnen Details der bereits bei der ersten Instanz angeführten Fluchterzählung befragt. Ebenso wurden dem BF die Möglichkeit geboten im Zuge der Verhandlung vor dem BVwG umfassend die Gründe für die Erhebung der Beschwerde darzulegen. Unter Berücksichtigung der sich aus der mit der Ladung übermittelten aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan ersichtlichen Lage wurde mit dem Beschwerdeführer seine Befürchtungen bei einer Rückkehr als auch dessen Rückkehrsituation erörtert. Auch wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen persönlichen Umständen und den im Bundesgebiet gesetzten integrativen Schritten befragt und dem BF die Möglichkeit geboten hierzu allfällig vorhandene Bescheinigungsmittel in Vorlage zu bringen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der nunmehr volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist Muslim sunnitischer Ausrichtung. Seine Identität steht nicht fest. Er stammt aus der Provinz Nangarhar, wo er bis zu seiner Auseise aus Afghanistan gemeinsam mit seinen Eltern und seinen fünf jüngeren Geschwistern gelebt hat. Der Beschwerdeführer hat seinen eigenen Angaben nach fünf Jahre lang die Schule in Afghanistan besucht. Berufserfahrung bzw. eine Berufsausbildung hat dieser in Afghanistan noch nicht erhalten. Am 30.10.2017 stellte der Beschwerdeführer gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Das Vorliegen von lebensbedrohlich schweren psychischen oder physischen Erkrankungen wurde seitens des Beschwerdeführers nicht angeführt und das Vorliegen von solchen lässt sich auch aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes erschließen.
Der unbescholtene Beschwerdeführer ist seit seiner Antragstellung im Oktober 2017 durchgehend ausschließlich auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts in seinem Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig Der Beschwerdeführer bestreitet seinen Lebensunterhalt ausschließlich aus Mitteln der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer hat im Rahmen einer Vorbereitung auf eine angestrebte Lehre mehrere Talentmodule absolviert. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten und keine sonstigen engen familienähnlichen Bindungen.
Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen volljährigen jungen, insgesamt gesunden und arbeitsfähigen Mann dem eine Teilnahme am Erwerbsleben in seinem Heimatstaat möglich und zumutbar ist. Eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan stellt keinen unzulässigen Eingriff in besonders durch Art. 3 EMRK geschützte Rechte dar.
Sonstige berücksichtigungswürdige enge soziale oder familienähnliche Beziehungen bestehen in Österreich nicht, wohingegen der Beschwerdeführer über mehrere familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimat in Form seiner Familienangehörigen verfügt.
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen nicht vor.
Das Vorliegen einer insgesamt besonders berücksichtigungswürdigen Integration in Österreich kann auch unter Berücksichtigung sämtlicher integrativer Schritte des Beschwerdeführers in casu nicht festgestellt werden.
Das Bestehen von besonderen Gründen, die für ein Verbleiben des BF im Bundesgebiet sprechen, sind dem vorliegenden Verwaltungsakt nicht zu entnehmen.
Eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan stellt keinen unzulässigen Eingriff in besonders durch Art. 8 EMRK geschützte Rechte dar.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF konnte im gesamten Verfahren nicht glaubhaft, bzw. insgesamt nicht ausreichend substantiiert begründet darlegen, dass dieser aufgrund einer ihn unmittelbar persönlich und konkret betreffenden asylrelevanten Bedrohung seinen Heimatstaat Afghanistan verlassen musste, bzw. dieser nicht vor dem Verlassen Afghanistans vor den angegebenen Bedrohungen zumutbar auch Schutz in anderen Regionen Afghanistans vorfinden hätte können.
Der Beschwerdeführer hat Gründe, die eine diesen unmittelbar, sowie konkret betreffende auch hinkünftige asylrelevante Bedrohung im gesamten Staatsgebiet mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft machen könnten, nachvollziehbar im gesamten Verfahren nicht darlegen können. Dem Beschwerdeführer droht im Herkunftsstaat keine strafrechtliche Verfolgung durch den afghanischen Staat.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb seiner Heimatprovinz, insbesondere in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, besteht für den Beschwerdeführer als alleinstehenden gesunden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf keine solche Bedrohungssituation und liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seines Aufenthaltes in einem europäischen Land in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Absichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat, bzw. zu den sonstigen Beschwerdegründen:
Bei der Provinz Nangahar handelt es sich um eine der volatilen Provinzen Afghanistans. Dem BF ist eine Rückkehr dorthin nicht möglich, bzw. nicht zumutbar. Es kann jedoch nicht festgestellt werden und es ist nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer bei einer allfälligen Rückkehr nach insbesondere Herat oder Mazar-e Sharif mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer ihn konkret betreffenden asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein würde, bzw. in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Niederlassung insbesondere in den Städten Herat oder in Masar -e Sharif, besteht für den Beschwerdeführer als volljährigen, jungen gesunden und arbeitsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf, keine berücksichtigungswürdige Bedrohungssituation, bzw. läuft dieser dort auch nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Die Städte Mazar-e Sharif, Herat und in casu auch Kabul sind von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug über internationale Flughäfen zu erreichen.
Das BFA hat ein insgesamt mängelfreies Verfahren durchgeführt. Die belangte Behörde ist im gegenständlichen Verfahren ihrer Ermittlungspflicht durch die Vornahme einer detaillierten Befragung nachgekommen und dem angefochtenen Bescheid ist ein im vorliegenden Verwaltungsakt dokumentiert umfassendes Ermittlungsverfahren vorangegangen. Der Sachverhalt wurde bereits unter schlüssiger Beweiswürdigung des Bundesamtes festgestellt und rechtlich korrekt durch das BFA gewürdigt.
In der Beschwerde konnten glaubhaft keine konkret und unmittelbar auf den BF bezogenen wesentlichen, bzw. verfahrensrelevant neuen Sachverhaltselemente glaubhaft bzw. substantiiert begründet aufgezeigte werden, welche geeignet wären, die von der belangten Behörde getroffenen Entscheidungen grundlegend in Frage zu stellen. Der Beschwerdeschrift waren insgesamt keine nachvollziehbar validen und konkret auf den Beschwerdeführer selbst bezogenen Ausführungen zu entnehmen, die die Vornahme von weiteren Ermittlungen bzw. Befragungen erforderlich erscheinen lassen könnten oder auch ein anderes Ergebnis der bereits durch das BFA vorgenommenen Entscheidung möglich erscheinen lassen könnten.
Im Zuge der Verhandlung vor dem BVwG konnte der Beschwerdeführer das Vorliegen einer ihn unmittelbar persönlich betreffenden asylrelevanten Verfolgung in Afghanistan glaubhaft nicht darlegen, bzw. konnte dieser nicht aufzeigen, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse nicht möglich oder aufgrund der sich aus den aktuellen Länderberichten zu Afghanistan ergebenden dortigen aktuellen Sicherheits- oder Versorgungslage nicht zumutbar wäre. Das Vorliegen einer besonders berücksichtigungswürdigen Integration konnte der BF insgesamt nicht darlegen.
2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die wesentlichen Feststellungen zu Herkunftsstaat lauten (Zusammengefasst und gekürzt durch das BVwG. Anmerkung: Die Feststellungen sind durch die Staatendokumentation des Bundesamtes zusammengestellt und entsprechen dem Stand vom November 2019).
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019). Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004). Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019). In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019
AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (15.4.2019): Afghanistan: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/-/204718, Zugriff 7.6.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan's 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga, https://www.afghanistan-analysts.org/the-results-of-afghanistans-2018-parliamentary-elections-a-new-but-incomplete-wolesi-jirga/, Zugriff 7.6.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan's Paradoxical Political Party System: A new AAN report, https://www.afghanistan-analysts.org/publication/aan-papers/outside-inside-afghanistans-paradoxical-political-party-system-2001-16/, Zugriff 11.6.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President's CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document), https://www.afghanistan-analysts.org/the-presidents-ceo-decree-managing-rather-then-executive-powers/, Zugriff 7.6.2019, ua.
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019). So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019). Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.) Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019). Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019). Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019). Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das
Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018). Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Quellen:
AAN - Afghanistan Analysts Network (9.6.2019): Civilians at Greater Risk from Pro-government Forces: While peace seems more elusive?, https://www.afghanistan-analysts.org/civilians-at-greater-risk-from-pro-government-forces-while-peace-seems-more-elusive/, Zugriff 12.7.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (24.2.2019): Record Numbers of Civilian Casualties Overall, from Suicide Attacks and Air Strikes: UNAMA reports on the conflict in 2018, https://www.afghanistananalysts.org/recordnumbersofciviliancasualtiesoverallfromsuicideattacksandairstrikesunamareportsontheconflictin2018/, Zugriff 3.6.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (19.2.2019): "Faint lights twinkling against the dark": Reportage from the fight against ISKP in Nangrahar, https://www.afghanistananalysts.org/faintlightstwinklingagainstthedarkreportagefromthefightagainstiskpinnangrahar/, Zugriff 5.6.2019
AAN - Afghanistan Analysts Network (6.12.2018): One Land, Two Rules (1): Service delivery in insurgentaffected areas, an introduction, https://www.afghanistananalysts.org/onelandtworules1servicedeliveryininsurgentaffectedareasanintroduction/, Zugriff 4.6.2019, ua.
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungs