TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/22 W114 2202885-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.04.2020
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Entscheidungsdatum

22.04.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W114 2202885-1/17E

Schriftliche Ausfertigung des am 10.03.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 27.06.2018, Zl. 15-1093799800/151715078/BMI-, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX , im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF, ein afghanischer Staatsbürger und schiitischer Moslem, stellte am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der am 06.11.2015 erfolgten Erstbefragung vor der Polizeiinspektion Traiskirchen, gab der Beschwerdeführer an, am XXXX geboren zu sein. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Sadat an. Er stamme aus Galaiye Shada, Provinz Ghazni. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan sieben Jahre lang in Ghazni eine Grundschule besucht. Er habe neben seinen Eltern zwei Schwestern und einen Bruder. Sein Vater sei Immobilienmakler.

Befragt nach seinen Fluchtgründen führte er aus, dass sein Onkel von Taliban umgebracht worden wäre. Seitdem würde seine Familie von den Taliban verfolgt werden. Einen weiteren Fluchtgrund habe er nicht.

3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 12.02.2018 gab er an, dass er gesund sei. Seine Eltern und seine Geschwister befänden sich mit zwei Tanten in der Türkei. Zwei weitere Tanten wären im Iran, eine Tante habe ihn nach Österreich begleitet.

Befragt, warum er Afghanistan verlassen habe, erläuterte er, dass er mit einem Onkel, dessen Frau (= Tante, mit der er nach Österreich reiste), der Mutter seines Onkels und einem Fahrer zu einer Hochzeit nach Kabul gefahren wären. In der Nähe einer Brücke sei ein Toyota Corolla mit offener Motorhaube gestanden. Da die Personen im Fahrzeug des BF der Meinung gewesen wären, dass Hilfe benötigt werden würde, habe der Fahrer angehalten. Es wären zwei weitere vermummte mit Kalaschnikows bewaffnete Personen erschienen, die die Insassen des Fahrzeuges zum Aussteigen gezwungen hätten. Die Männer wären durchsucht worden. Dabei sei bei seinem Onkel, der bei der Afghanischen Nationalarmee gearbeitet habe, ein Dienstausweis gefunden worden. Sein Onkel sei exekutiert worden. Seine Tante sei dabei bewusstlos geworden. Sie wären dann zur Weiterfahrt gezwungen worden. Seine Tante sei in ein Krankenhaus gebracht worden, in welchem sie drei bis dreieinhalb Monate behandelt worden wäre. Das Leben habe sich wieder normalisiert.

In weiterer Folge sei er mit seiner Tante (= Frau des ermordeten Onkels) unterwegs gewesen. Dabei habe er den Talib, der seinen Onkel ermordet habe, auf einem Motorrad erblickt, als dieser zu einem Haus zugefahren sei. Dabei habe dieser Talib auch den BF und seine Tante gesehen. Seine Tante und er wären weggelaufen und wären dann zur Polizei gegangen. Die Polizei sei der Anzeige nachgegangen und sei in dem Haus mit dem Talib in Streit geraten. Die Polizei habe in diesem Haus Explosivstoffe und Kalaschnikows gefunden.

Nach ca. weiteren eineinhalb Wochen sei der BF mit seiner Tante (= Frau des ermordeten Onkels) sowie einer weiteren Tante zum Basar gegangen. Dabei wären sie wieder auf den Talib, der seinen Onkel ermordet habe, und zwei weitere Männer auf Motorrädern gestoßen. Der Frau des ermordeten Onkels und ihm selbst wäre die Flucht gelungen; die andere Tante sei umgebracht worden. Er habe seinen Vater angerufen, der ihm geraten habe, nicht nach Hause zurückzukehren und Afghanistan zu verlassen. Er sei mit seiner Tante dann bis nach Österreich geflüchtet.

Bei der Einvernahme vor dem BFA legte der BF Schulbesuchsbestätigungen und ein Zertifikat über eine erfolgreich bestandene Deutschsprachprüfung auf Niveaustufe B1 vor.

4. In einer Stellungnahme vom 21.02.2018 verwies der BF auf die schlechte allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul. Die Unterstützung für freiwillige Rückkehrerinnen sei minimal und ineffizient.

5. Mit Bescheid des BFA, Regionaldirektion Oberösterreich vom 27.06.2018, Zl. 15-1093799800/151715078/BMI-, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft dargelegt habe. Er könne mit Unterstützung durch seine Familie rechnen und würde auch nicht allein, sondern im Familienverband gemeinsam mit seiner Tante nach Afghanistan zurückkehren. Die Angaben des BF bzw. seiner Tante in ihrem Asylverfahren seien derart widersprüchlich, sodass das Vorbringen des BF nicht als glaubwürdig zu qualifizieren sei.

Sein weiteres Fluchtvorbringen stütze sich lediglich auf die allgemeine schlechte Situation in Afghanistan. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Kabul zumutbar sei.

Dieser Bescheid wurde einem zustellungsbevollmächtigten Vertreter des BF am 03.07.2018 zugestellt.

6. Gegen diese Entscheidung erhob der BF am 26.08.2018, vertreten durch die Volkshilfe Flüchtlings- und Migratinnenbetreuung GmbH, Stockhofstraße 40, 4020 Linz, Beschwerde.

Zu den vom BFA beanstandeten Widersprüchlichkeiten zwischen den Angaben des BF und denen seiner Tante wies der BF darauf hin, dass "dem Grunde nach die Schilderung einer subjektiven Wahrnehmung immer Unterschiede in sich bergen könne und dies in der Natur der Sache liege, wenn etwas tatsächlich Erlebtes wiedergegeben werde". Es sei bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit und "hinsichtlich des Maßstabes an die Detailliertheit/Stringenz des Vorbringens vielmehr das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers entsprechend zu berücksichtigen. Zudem wären die wiedergegebenen Länderfeststellungen unzureichend. Im Übrigen wurden die Ausführungen der Stellungnahme des BF vom 21.02.2018 auch in der Beschwerde auf den Seiten 11 bis inkl. 25 wiederholt. Der Beschwerdeführer verweist insbesondere auch auf seine zum Zeitpunkt der Beschwerde noch bestehende Minderjährigkeit.

7. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Schreiben des BFA vom 03.08.2018 am 07.08.2018 zur Entscheidung vorgelegt.

8. Während der Ermittlungen im Beschwerdeverfahren wurde das BVwG über eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen schwerer Sachbeschädigung sowie über mehrere Beschuldigtenvernehmungen wegen Körperverletzung, Raufhandel, versuchter absichtlich schwerer Körperverletzung, Falschaussage vor der Kriminalpolizei, gefährlicher Drohung und wiederholt wegen Sachverständigung in Kenntnis gesetzt.

9. Gemeinsam mit der Ladung zur Beschwerdeverhandlung vom 09.01.2020 wurden dem Beschwerdeführer umfassend Länderberichtsinformationsmaterial zu Afghanistan zugänglich gemacht und ihm die Möglichkeit geboten, dazu eine Stellungnahme abzugeben.

10. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 11.02.2020 wurde der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen befragt. Die Verhandlung fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Das BFA nahm an der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht teil.

Der Vertreter des BF legte u.a. einen aufschiebend bedingten Dienstvertrag als Hilfskraft mit der Firma XXXX , sowie einen Auszug aus "2019 Global Peace Index" vor, wonach Österreich nach Island, Neuseeland und Portugal Position vier und Afghanistan Position 163 und damit die letzte Position im Ranking einnehme.

In der mündlichen Verhandlung führte der BF selbst ausdrücklich aus, dass er gesund und arbeitsfähig sei, weder in medizinischer Behandlung sei noch Medikamente einnehme.

Der Beschwerdeführer machte in der mündlichen Verhandlung einen wachen, klaren und selbstbewussten Eindruck.

Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der Beschwerdeführer erneut aus, dass er das Gesicht des Mörders seines Onkels gesehen habe, diesen bei der Polizei angezeigt habe und deswegen bei einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt werden würde. In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer sehr detailliert zu den Vorkommnissen, die nach Angaben des BF zu seiner Flucht geführt hätten, befragt. Auch die Tante des BF, die nach Angaben des Beschwerdeführers bei allen relevanten Begebenheiten anwesend gewesen wäre, wurde gesondert zu den Ereignissen befragt. Die Angaben des Beschwerdeführers und jene seiner Tante waren dabei sehr unterschiedlich bzw. widersprüchlich.

Infolge der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, insbesondere aufgrund der einander widersprechenden Angaben des Beschwerdeführers und seiner Tante in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG unter Berücksichtigung einer Einsichtnahme in die Unterlagen des beim BVwG anhängigen Beschwerdeverfahrens seiner Tante wurde gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG das Erkenntnis mündlich verkündet, begründet, die Rechtsmittelbelehrung und die Belehrung gemäß § 29a Abs. 2a VwGVG erteilt, eine Ausfertigung der Niederschrift samt dem mündlich verkündeten Erkenntnis an den BF ausgefolgt und ein weiteres Exemplar an das BFA übermittelt.

11. Am 12.03.2020 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA, der Stellungnahme des BF vom 21.02.2018, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt sowie in den Verwaltungsakt betreffend das Beschwerdeverfahren von XXXX , anhängig beim BVwG zu W138 2202883-1, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, den EASO-Länderleitfaden und EASO-Berichte betreffend Afghanistan, EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019, einen Bericht des Generalsekretariats der UNO zur Situation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheitslage vom 14.06.2019, einen UNAMA-Bericht über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vom Juli 2019, einen Amnesty International-Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019) vom 30.01.2020, und eine ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul, der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1. Der mittlerweile jedenfalls volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Sadat und schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, eine in Afghanistan sehr weit verbreitete Sprache. Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Ghazni.

1.1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass seine Eltern, ein jüngerer Bruder und zwei Schwestern sowie zwei Tanten sich in der Türkei befinden. Der Beschwerdeführer steht nach eigenen Angaben in Kontakt zu ihnen und ihnen geht es gut.

1.1.3. Der Beschwerdeführer war bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan Schüler und er besuchte 7 Jahre lang eine Schule.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

1.1.5. Der Beschwerdeführer ist gesund.

1.1.6. Der BF ist jung und arbeitsfähig. Er absolvierte in Österreich den Pflichtschulabschluss und schaffte auch ein Deutschsprachzertifikat auf Niveaustufe B1 zu erwerben. Er verfügt über Arbeitserfahrungen insoweit bescheinigt wurde, dass er einen Haustechniker bei Reparaturarbeiten unterstützt hat, bei Arztbesuchen von Landsleuten gedolmetscht hat und Putzdienste bzw. Renovierungsarbeiten durchgeführt hat. Er ist auch in der Lage als Hilfskraft im Bereich der Gastronomie zu arbeiten.

1.1.7. Das Strafregister des Beschwerdeführers weist eine Verurteilung wegen schwerer Sachbeschädigung auf. Das BVwG wurde von weiteren Beschuldigteneinvernahmen wegen Körperverletzung, Raufhandel, versuchter absichtlich schwerer Körperverletzung, Falschaussage vor der Kriminalpolizei, gefährlicher Drohung und wiederholt wegen Sachverständigung in Kenntnis gesetzt. Eine weitere Verurteilung ist jedoch nicht bekannt.

1.1.8. Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Tante, mit der jedoch nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebt und zu der auch kein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Darüber hinaus hat er in Österreich keine weiteren Verwandten oder Bezugspersonen mit denen er einen gemeinsamen Wohnsitz hat oder hinsichtlich derer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.

1.1.9. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung betroffen wäre oder sich davor fürchten müsste. Der Beschwerdeführer vermochte weder im Asylverfahren noch im Beschwerdeverfahren eine ihm drohende Verfolgung glaubhaft zu machen.

1.1.10. Angesichts des Umstandes, dass seine Verwandten, mit denen er offensichtlich in Kontakt steht, ihn mangels eigener finanzieller Mittel unterstützt haben, damit er schlepperunterstützt bis nach Österreich reisen konnte, geht das erkennende Gericht davon aus, dass diese Verwandten ihn auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen würden.

1.1.11. Die Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz Ghazni wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 als relativ volatil bezeichnet, sodass der Beschwerdeführer nicht dorthin zurückkehren kann.

1.1.12. Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan und die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 sowie die EASO Country Guidance vom Juni 2019 und dem EASO Bericht zur sozioökonomischen Lage (Angaben zu Kabul-Stadt; Herat-Stadt und Mazar-e Sharif; interne Mobilität; Wirtschaftslage; Beschäftigung; weitere Themen) berücksichtigend, kann sich der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls nach Herat oder in Mazar-e Sharif, Städte in Afghanistan, die über einen für Zivilflugzeuge erreichbaren Flughafen verfügen, zurückkehren und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Die Vor-Ort-Verhältnisse, die Versorgungslage und auch die Sicherheitslage in diesen Städten ist nicht derart, dass der BF als alleinstehender, junger und arbeitsfähiger Mann, mit Schulbildung und rudimentärer Arbeitserfahrung, welcher Dari, eine in Afghanistan sehr weit verbreitete Sprache, spricht, bei einer Wiederansiedelung - entsprechende erforderliche Bemühungen des BF vorausgesetzt - in diesen Städten auf Dauer in eine aussichtslose Situation geraten würde, wenn auch eine Wiederansiedelung am Beginn mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte. Der Beschwerdeführer hat in Österreich durch seine schulischen Leistungen und seinen Erfolg im Erlernen der deutschen Sprache nachdrücklich unter Beweis gestellt, dass er intelligent ist, eine gute Auffassungsgabe hat, ehrgeizig und leistungsbereit ist.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Politische Lage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 07.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 03.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.09.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019).

Parlament und Parlamentswahlen:

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus 2 Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt) sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident 2 Sitze für die nomadischen Kutschi und 2 weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; das im Februar verkündete Ergebnis, das eine Wiederwahl von Präsident Ghani wurde vom Gegenkandidat Abdullah nicht anerkannt, der sich selbst als Wahlsieger zum Präsidenten vereidigen ließ.

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche fanden einen ersten Höhepunkt in einem zwischen den Taliban und Regierungssprechern der USA am 29.02.2020 unterzeichneten Abkommen, das einen Truppenabzug von US-Streitkräften, die Freilassung von Talibankämpfern und die Versicherung der Taliban, dass Afghanistan nicht als Rückzugsgebiet für Terroristen zur Verfügung steht.

Auch nach dem Abkommen ereigneten sich Zwischenfälle, wobei für den größten Zwischenfall mit Toten und Verletzten in Kabul der IS die Verantwortung übernahm.

Derzeit finden auf Vermittlung der USA erste Direktgespräche zwischen Taliban und Vertretern der afghanischen Staatsmacht statt. In der ersten Runde geht es dabei um die Freilassung von Talibankämpfern bzw. von gefangengenommenen Regierungsstreitkräften.

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr 2019 sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 06.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 06.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 06.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 07.03.2016; UNGASC 03.03.2017; UNGASC 28.02.2018; UNGASC 28.02.2019))

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Für den Berichtszeitraum 10.05.2019-08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02-09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

 

2016

2017

2018

2019

Jänner

2111

2203

2588

2118

Februar

2225

2062

2377

1809

März

2157

2533

2626

2168

April

2310

2441

2894

2326

Mai

2734

2508

2802

2394

Juni

2345

2245

2164

2386

Juli

2398

2804

2554

2794

August

2829

2850

2234

2443

September

2493

2548

2389

-

Oktober

2607

2725

2682

-

November

2348

2488

2086

-

Dezember

2281

2459

2097

-

insgesamt

28.838

29.866

29.493

18.438

Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 04.11.2019):

Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 01.01.2018-30.09.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 04.11.2019)

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Im Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast 2 Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer:

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.-30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 01.01.2009-30.09.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.02.2019; UNAMA 17.10.2019))

Jahr

Tote

Verletzte

Insgesamt

2009

2.412

3.557

5.969

2010

2.794

4.368

7.162

2011

3.133

4.709

7.842

2012

2.769

4.821

7.590

2013

2.969

5.669

8.638

2014

3.701

6.834

10.535

2015

3.565

7.470

11.035

2016

3.527

7.925

11.452

2017

3.440

7.019

10.459

2018

3.804

7.189

10.993

2019*

2.563*

5.676*

8.239*

Insgesamt

32114

59561

91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (01.01.2019-30.09.2019)

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 06.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 06.2019):

Taliban:

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 06.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah AKHUNDZADA (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad YAQUB - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah OMAR - und Serajuddin HAQQANI (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Zur Provinz Ghazni:

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktia und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze (UNOCHA 04.2014). Die Provinz ist in 19 Distrikte unterteilt: die Provinzhauptstadt Ghazni-Stadt sowie die Distrikte Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar genannt (AAN 22.05.2018)), De Hyak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani) und Zanakhan (CSO 2019). Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-2020 leben 1.338.597 Menschen in Ghazni (CSO 2019). Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt (PAJ o.D.). Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken (NPS o.D.).

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktias Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung (CJ 13.08.2018). Einem Bericht vom Dezember 2018 zufolge steht die Ghazni-Paktika-Autobahn unter Taliban-Kontrolle und ist für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt, wobei die Aufständischen weiterhin Druck auf die Kabul-Kandahar-Autobahn ausüben (AAN 30.12.2018) bzw. Straßenkontrollen durchführen (PAJ 31.01.2019). Im Mai 2019 war die Ghazni-Paktika-Autobahn seit einem Jahr geschlossen (PAJ 13.05.2019). Auch die Ghazni-Paktia-Autobahn war Anfang März 2019 trotz einer 20-tägigen Militäroperation (PAJ 27.02.2019) gegen die Taliban immer noch gesperrt (BAMF 04.03.2019; vgl. PAJ 27.02.2019). Im Mai 2019 führten die Regierungskräfte an den Rändern von Ghazni-Stadt Räumungsoperationen zur Befreiung der Verkehrswege durch (KP 16.05.2019). Die Kontrolle über die Straße nach Gardez, der Provinzhauptstadt von Paktia ist bedeutsam für die Verteidigung von Ghazni, da sich die Militärbasis des für die Provinz zuständigen Corps dort befindet (AAN 25.07.2018).

Gemäß dem UNODC Opium Survey 2018 gehörte Ghazni 2018 nicht zu den 10 wichtigsten schlafmohnanbauenden Provinzen Afghanistans. Während die Provinz zwischen 2013 und 2016 schlafmohnfrei war, wurden 2017 etwa 1.000 Hektar angebaut. Im Jahr 2018 nahm die Anbaufläche um 64% ab. Der größte Teil von Ghazni's Schlafmohn wurde 2018 im volatilen Distrikt Ajristan angebaut (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben (KP 27.05.2019).

Aufgrund der Präsenz von Taliban-Aufständischen in manchen Regionen der Provinz, gilt Ghazni als relativ unruhig (XI 22.09.2019), so standen beispielsweise Ende 2018, einem Bericht zufolge, 8 Distrikte der Provinz unter Kontrolle der Taliban gestanden haben, 5 weitere Distrikte waren stark umkämpft (AAN 30.12.2018). Im Jänner 2019 wurde berichtet, dass die administrativen Angelegenheiten der Distrikte Andar, Deh Yak, Zanakhan, Khwaja Omari, Rashidan, Jaghatu, Waghaz und Khugyani aufgrund der Sicherheitslage bzw. Präsenz der Taliban nach Ghazni-Stadt oder in die Nähe der Provinzhauptstadt verlegt wurden. Aufgrund der Sicherheitslage sei es für die Bewohner schwierig, zu den neuen administrativen Zentren zu gelangen (PAJ 27.01.2019). Dem Verteidigungsminister zufolge, sind in der Provinz mehr Taliban und Al-Qaida-Kämpfer aktiv, als in anderen Provinzen. Dem Innenminister zufolge, hat sich die Sicherheitslage in der Provinz verschlechtert und die Taliban erlitten bei jüngsten Zusammenstößen schwere Verluste (PAJ 19.04.2019).

In Ergänzung zur Afghan National Police (ANP), der Afghan Local Police (ALP) und der paramilitärischen Kräfte des National Directorate of Security (NDS) entsteht im Distrikt Jaghuri im Rahmen eines Pilotprojekts eine neu eingerichtete Afghan National Army Territorial Force (ANA TF). Diese lokale Einheit soll die Bevölkerung schützen und Territorium halten, ohne von lokalen Machthabern oder Gruppeninteressen vereinnahmt zu werden (AAN 15.01.2019). Während des Angriffs auf Ghazni-Stadt im August 2018 wurden die afghanischen Regierungskräfte von US-amerikanischen Streitkräften unterstützt - laut einer Quelle nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch von US-Spezialeinheiten am Boden (TM 23.08.2018). Ghazni liegt im Verantwortungsbereich des 203. ANA Tandar Corps (USDOD 06.2019; vgl. AAN 25.07.2018) das der Task Force Southeast untersteht, die von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 06.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Ghazni gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

Tabelle kann nicht abgebildet werden

(ACLED 05.10.2019; ACLED 12.07.2019; GIM o.D.)

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 653 zivile Opfer (253 Tote und 400 Verletzte) in Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 84% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe, gefolgt von Luftangriffen und gezielten oder vorsätzlichen Morden (UNAMA 24.02.2019). Im ersten Halbjahr 2019 zählte UNAMA Ghazni mit insgesamt 186 zivilen Opfern (77 Tote, 109 Verletzte) zu den 5 Provinzen mit den größten Auswirkungen des Konflikts auf Zivilisten in Afghanistan (UNAMA 30.07.2019).

Einem UN-Bericht zufolge, war Ghazni neben Helmand und Farah zwischen Februar und Juni 2019 eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Mehr als die Hälfte aller Luftangriffe fanden in diesem Zeitraum in den Provinzen Helmand und Ghazni statt. Anfang April 2019 beschloss die Regierung die "Operation Khalid", welche unter anderem auf Ghazni fokussiert (UNGASC 14.06.2019). Auch die Winteroperationen 2018/2019 der ANDSF konzentrierten sich unter anderem auf diese Provinz (UNGASC 28.02.2019). In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (z.B. KP 27.07.2019; KP 25.07.2019; KP 22.07.2019, MENAFN 22.07.2019); ebenso werden Luftangriffe in der Provinz durchgeführt (PAJ 17.03.2019). Bei manchen militärischen Operationen werden beispielsweise Taliban getötet (KP 25.07.2019; vgl. KP 22.07.2019). Außerdem kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (PAJ 30.03.2019; vgl. PAJ 16.02.2019, SP 15.08.2018). Auch verlautbarte die Regierung im September 2019 nach wie vor Offensiven gegen die Aufständischen in der Provinz zu führen, um das Territorium der Taliban zu verkleinern (XI 22.09.201

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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