Entscheidungsdatum
08.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W192 2174532-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2017, Zahl: 1063879308-150386289, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i. d. g. F., § 9 BFA-VG i. d. g. F. und §§ 52, 55 FPG i. d. g. F. als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 16.04.2015 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, zu welchem er am folgenden Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurde.
Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen an, er sei minderjährig, schiitischer Moslem, gehöre der Volksgruppe der Hazara an, stammte aus der Provinz Ghazni und sei vor ca. 10 Jahren mit der Familie nach Pakistan gezogen, wo er sich etwa 7 Jahren lang aufgehalten habe. Dann sei er für 3 Jahre in den Iran gezogen. Der Beschwerdeführer hätte den Iran vor einem Jahr verlassen und sei mit Schlepperunterstützung über die Türkei nach Griechenland und von dort über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich gereist. Er sei nicht verheiratet, habe keine Schul- und Berufsausbildung und habe als Hilfsarbeiter gearbeitet. Seine Eltern seien ebenso wie ein Bruder verstorben, seine Schwester lebe in Pakistan, ein Bruder sei verschollen und ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers halte sich an einem nicht bekannten Ort in Österreich auf. Zum Grund der Flucht führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Onkel wegen eines Grundstücksstreits seinen Vater und seinen Bruder getötet habe. Der Onkel habe auch den Beschwerdeführer töten wollen und ihm den Zeigefinger abgeschnitten. In Pakistan sei seine Mutter verstorben und er sei deshalb in den Iran gereist. Den Iran habe er verlassen, weil er dort keine Aufenthaltsbewilligung gehabt habe. Im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat fürchte der Beschwerdeführer, dass sein Onkel ihn töte.
Ein von der Behörde eingeholtes gerichtsmedizinisches Gutachten vom 10.06.2015 ergab, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages bereits volljährig war. Der Beschwerdeführer nahm dieses Ergebnis bei einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur Kenntnis und gab an, dass er regelmäßigen Kontakt mit seinem Bruder habe, der ihn finanziell unterstütze. Er habe etwa zehn Jahre von seinem Bruder getrennt gelebt und sei wegen ihm nach Österreich gekommen. Der Bruder unterstütze den Beschwerdeführer psychisch und materiell und sei mit ihm während der Trennung wöchentlich telefonisch in Kontakt gestanden.
Ein Bescheid des BFA vom 14.09.2015, mit welchem der Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen wurde, dass für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO Ungarn zuständig sei sowie gegen den Beschwerdeführer die Außerlandesbringung nach Ungarn angeordnet wurde, wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.11.2015 gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG behoben.
Nach Zulassung des Verfahrens erfolgte am 08.06.2017 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch das BFA. Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan gemeinsam mit seinen Geschwistern bei seinen Eltern aufgewachsen sei. Im Jahr 2004 oder 2005 hätte die Familie Afghanistan verlassen. Der Vater des Beschwerdeführers sei in Afghanistan verstorben, als dieser noch ein kleines Kind gewesen sei. Die Söhne des Onkels väterlicherseits hätten einen Bruder des Beschwerdeführers aufgrund eines Grundstücksstreits getötet. Dies sei der Grund, warum die Familie nach Pakistan ausgereist sei, da der Beschwerdeführer sonst auch getötet worden wäre. Der Beschwerdeführer und seine Mutter seien zur Schwester des Beschwerdeführers gegangen, welche bereits in Pakistan gewohnt habe. Der (mittlerweile in Österreich befindliche) weitere Bruder des Beschwerdeführers sei zu dieser Zeit im Iran gewesen. Der Beschwerdeführer habe sieben Jahre in Pakistan bei der Familie seiner Schwester gelebt. Etwa 2010 sei seine Mutter krankheitsbedingt verstorben. Der Beschwerdeführer sei in den Iran gereist, wo er ca. drei Jahre gelebt habe. Danach sei er nach Europa gereist. Der Beschwerdeführer sei im Iran Tagelöhner gewesen und er habe keine Familienangehörigen mehr im Herkunftsstaat. Die Cousins des Beschwerdeführers hätten die Besitztümer seiner Familie sich zu eigen gemacht.
Über die Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates führte der Beschwerdeführer auf weitere Befragung aus, dass sein Vater verstorben sei, als er noch ein kleines Kind gewesen sei. Er wisse nicht, ob er getötet worden oder eines natürlichen Todes gestorben sei. Es habe einen Grundstücksstreit zwischen der Familie des Beschwerdeführers und den Söhnen seines Onkels väterlicherseits gegeben. Der Bruder des Beschwerdeführers sei von diesen Leuten getötet worden. Danach hätten sie den Beschwerdeführer mitgenommen und seinen linken Zeigefinger abgeschnitten. Dem Beschwerdeführer sei gedroht worden, dass er wie sein Bruder getötet werde, wenn die Familie die Grundstücke nicht aufgebe. Der Beschwerdeführer sei dann mit seiner Mutter nach Pakistan geflüchtet.
Die Mutter des Beschwerdeführers habe diesem über die Tötung seines Bruders durch Cousins erzählt. Dieser sei entweder mit einer Pistole oder dem Messer getötet worden, mehr könne der Beschwerdeführer nicht sagen. Sein in Österreich befindlicher Bruder wisse auch nichts darüber.
Über die vom Beschwerdeführer selbst erlittene Verletzung am Finger brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Söhne seines Onkels dies mit einem Küchenmesser verursacht hätten. Diese hätten zu dritt das Haus der Familie des Beschwerdeführers gestürmt und seinen Finger abgeschnitten. Sie hätten gedroht, dass die Familie des Beschwerdeführers getötet werde, wenn sie weiterhin bleiben würde. Zum Vorhalt, dass der Beschwerdeführer zuvor behauptet hatte, von Cousins mitgenommen worden zu sein und nun angegeben habe, dass diese das Haus gestürmt hätten und ihm dort den Finger abgeschnitten hätten, brachte der Beschwerdeführer vor, dass dies ein Fehler gewesen sei; es sei im Haus der Familie des Beschwerdeführers passiert.
Zum weiteren Vorhalt, dass der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung angegeben hatte, dass sein Onkel den Finger abgeschnitten hätte, während er in der Einvernahme vorgebracht hatte, dass dies die Cousins gemacht hätten, führte er aus, dass er seine Cousins immer "Onkel" genannt hätte, da sie älter wären. Der Beschwerdeführer habe von seiner Mutter gehört, dass diese wegen der Vorfälle einige Male zu "Weißbärtigen" und zur Polizei gegangen sei. Er wisse nicht, was diese dann unternommen hätten.
Der Beschwerdeführer werde im Herkunftsstaat nicht von staatlicher Seite verfolgt und es habe außer den angesprochenen Vorfällen keinerlei Übergriffe auf ihn gegeben. Der Beschwerdeführer legte Berichte über die allgemeine Lage der Hazara in Afghanistan sowie Fotos vor, aus denen sich die schlechte Lage im Herkunftsstaat ergebe.
Der Beschwerdeführer lebe in Österreich mit seinem Bruder, der subsidiär schutzberechtigt sei, in einer Wohnung. Er habe Deutschkurse und einen Erste-Hilfe-Kurs besucht. Er habe österreichische Freunde. In Österreich habe er keine legale Beschäftigung ausgeübt und auch keine gemeinnützigen Tätigkeiten verrichtet.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Die Behörde stellte die Volljährigkeit, Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit nicht jedoch die präzise Identität des Beschwerdeführers fest. Die Behörde stellte weiters fest, dass beim Beschwerdeführer keine schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen, er nicht von staatlicher Seite verfolgt wurde und auch nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bedroht sei. Die Behörde beurteilte die Darstellung des Beschwerdeführers über seine Gründe für die Ausreise als nicht glaubhaft, da er den behaupteten Übergriff in der Erstbefragung und gegenüber der Behörde widersprüchlich dargestellt habe. Der junge, gesunde und arbeitsfähige Beschwerdeführer könne in seinem Herkunftsstaat seinen Lebensunterhalt erwerben. In seiner Heimatprovinz Ghazni bestehe zwar eine Gefährdungssituation, es sei ihm jedoch eine Rückkehr nach Kabul zumutbar. Mangels intensiver familiärer oder sonstiger Bindungen im Inland würden keine Gründe gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorliegen, da der Beschwerdeführer zu seinem Bruder in keinem Abhängigkeitsverhältnis stehe und Kontakt zu ihm, wie vor der Einreise, telefonisch halten könnte.
3. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 23.10.2017 fristgerecht Beschwerde ein, in welcher begründend zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die Behörde des unterlassen habe, Feststellungen zur Situation eines rückkehrenden Hazara und Schiiten, der Afghanistan im Kleinkindesalter verlassen habe, zu treffen. Weiters wurde vorgebracht, dass die Sicherheitslage auch in der Hauptstadt Kabul nur geringfügig besser als in den umkämpften Provinzen sei. Der Beschwerdeführer hätte mangels sozialer Anknüpfungspunkte, wegen der langen Abwesenheit und der volatilen Situation in Afghanistan mit der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK zu rechnen, weshalb die Behörde zu einem günstigeren Ergebnis gelangen hätte müssen.
Gegen die Rückkehrentscheidungen wurde eingewendet, dass der Beschwerdeführer nicht selbsterhaltungsfähig sei, von seinem Bruder unterstützt werde, mit diesem zusammenlebe, ausreichend deutsch spreche und unbescholten sei. Es wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
4. Am 22.07.2019 brachte die bevollmächtigte Vertreterin des Beschwerdeführers eine schriftliche Stellungnahme zu dem seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Vorfeld der anberaumten Verhandlung übermittelten Länderberichtsmaterial ein, in welcher auf die sich verschlechternde Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, die mangelnde Schutzfähigkeit der dortigen Behörden, die Lage der schiitischen Hazara sowie Gefährdungen in Zusammenhang mit Grundstücksstreitigkeiten und Blutrache Bezug genommen wurde. Beiliegend wurden Unterstützungserklärungen für den Beschwerdeführer sowie eine Bestätigung über dessen ehrenamtliche Tätigkeit in Vorlage gebracht.
Am 23.07.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer teilnahm, während das BFA keinen Vertreter entsandt hat. Dabei wurde der Beschwerdeführer zu den Gründen seiner Ausreise und über eine Rückkehrgefährdung befragt und erfolge eine Erörterung der Situation in seinem Herkunftsstaat.
Mit Eingabe vom 06.08.2019 legte der Beschwerdeführer einen Bericht eines HNO-Facharztes vom 29.07.2019 vor, welchem sich entnehmen lässt, dass beim Beschwerdeführer ein Zustand nach "Rad-OP links ca. 2012 Iran" und eine kombinierte Schwerhörigkeit links bestehen, wobei als weiteres Prozedere eine Kontrolle in drei Monaten angeführt wurde. Weiters wurde ein Schreiben des in Österreich aufenthaltsberechtigten Bruders des Beschwerdeführers vorgelegt, in welchem dieser mitteilte, gerne weiterhin die Verantwortung für den Lebensunterhalt seines Bruders zu übernehmen.
Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.11.2019 wurde dem Beschwerdeführer die Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt, von welcher dieser keinen Gebrauch gemacht hat.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist Muslim schiitischer Ausrichtung. Seine Identität steht nicht fest. Der Beschwerdeführer, welcher muttersprachlich Dari spricht, wurde in der afghanischen Provinz Ghazni geboren und lebte dort infolge des Todes seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern. Zu einem nicht konkret feststellbaren Zeitpunkt während seiner Kindheit übersiedelte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter zu seiner in Pakistan lebenden Schwester und hielt sich dort bis zum Tod seiner Mutter circa im Jahr 2010/2011 auf. Im Anschluss reiste er selbständig in den Iran, wo er seinen Lebensunterhalt durch Arbeiten als Teppichknüpfer sowie auf Baustellen bestritten hat. Nach einem etwa dreijährigen Aufenthalt verließ er den Iran und reiste teilweise schlepperunterstützt illegal über die Türkei nach Griechenland, wo dessen illegaler Aufenthalt im Mai 2014 registriert wurde, und in der Folge über Mazedonien, Serbien und Ungarn, wo er im März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, illegal nach Österreich ein. Am 16.04.2015 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, wobei er tatsachenwidrig seine Minderjährigkeit behauptete.
Eine volljährige Schwester des Beschwerdeführers lebt in Pakistan, einer seiner Brüder lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich.
1.2. Jener vom Beschwerdeführer als sein Bruder bezeichnete afghanische Staatsangehörige stellte am 29.03.2006 in Österreich einen Asylantrag. Er gab dazu bei der Erstbefragung an, dass er nach dem Tod seines Vaters im Alter von zehn Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran ausgewandert sei. Vor zwei Jahren sei die Familie nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach der Ankunft sei er nach Kabul gefahren und bei der Rückkehr von seiner Mutter aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Die Mutter habe ihm erzählt, dass sein ältester Bruder eine Auseinandersetzung mit seinem Onkel um die Erbschaft von Land gehabt habe. Bei dieser Auseinandersetzung sei der Onkel anscheinend tödlich verunglückt. Der älteste Bruder sei nach Mazar-e Sharif geflüchtet und untergetaucht. Der Bruder des Beschwerdeführers habe schlepperunterstützt Afghanistan verlassen.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 07.06.2006 gab der bezeichnete Bruder des Beschwerdeführers an, dass sein ältester Bruder seinen Onkel vor einem Jahr und sieben oder acht Monaten getötet habe, während er in der Hauptstadt abwesend gewesen sei. Der älteste Bruder sei verschwunden. Niemand wisse, wo er sei. Ein anderer Bruder habe nach seinem Wissen auch Afghanistan verlassen, er sei sich aber nicht sicher. Er glaube, dass seine Mutter gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder bei seiner Schwester in Pakistan lebe.
Der Bruder des Beschwerdeführers habe von seiner Mutter gehört, dass sein ältester Bruder bei der Arbeit auf dem Feld mit seinem Onkel in Streit geraten sei und ihn mit einer Schaufel getötet habe. Die Mutter habe gemeint, dass der Bruder des Beschwerdeführers fliehen solle, weil er in großer Gefahr sei, von den Cousins getötet zu werden.
In der letzten Woche vor der Ausreise des Bruders des Beschwerdeführers sei die Familie von den Cousins aufgesucht worden. Dabei seien die beiden jüngeren Brüder geschlagen worden.
Das Bundesasylamt wies diesen Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab, wobei dem Bruder des Beschwerdeführers gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde.
Aufgrund einer gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung führte der Asylgerichtshof nach Übernahme des Verfahrens am 12.03.2012 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Bruder des Beschwerdeführers vorbrachte, dass seine Familie vor zehn oder zwölf Jahren, als sein Vater verstorben sei, durch seinen Onkel unterdrückt worden sei und dann in den Iran gegangen sei. Etwa zweieinhalb Jahre sei die Familie dortgeblieben und dann wieder zurückgekehrt. Dann sei es zu einem Streit zwischen seinem ältesten Bruder und dem Onkel gekommen, als der Bruder des Beschwerdeführers nicht zu Hause gewesen sei. Seine Mutter habe ihm dann erzählt, dass sein ältester Bruder den Onkel getötet habe und er sei auf Empfehlung seiner Mutter ausgereist.
Zur Fortsetzung des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens führte das Bundesverwaltungsgericht am 30.09.2015 eine weitere mündliche Verhandlung durch. Dabei gab der Bruder des Beschwerdeführers an, dass ihm nicht bekannt sei, ob es wegen des behaupteten Konflikts zu Vermittlungsversuchen seitens der Dorfältesten gekommen sei. Der Bruder des Beschwerdeführers gab weiters an, dass seine Mutter verstorben sei und nunmehr sein jüngerer Bruder seit einigen Monaten in Österreich sei, und einen Asylantrag gestellt habe. Dieser Bruder sei zur Zeit der Tötung des Onkels neun oder zehn Jahre alt gewesen. Der Bruder des Beschwerdeführers wisse nicht, ob der Beschwerdeführer bei dem Vorfall anwesend gewesen sei oder man ihm etwas erzählt hätte.
Die Beschwerde des Bruders des Beschwerdeführers wurde mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.11.2015 gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die vom Bruder des Beschwerdeführers vorgebrachten Fluchtgründe nicht glaubhaft gewesen seien.
1.3. Nicht festgestellt werden kann, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung durch Cousins wegen eines vor mehr als zehn Jahren in der Herkunftsprovinz stattgefundenen innerfamiliären Grundstückstreits droht. Dem Beschwerdeführer droht keine Blutrache durch jene Cousins.
Ebensowenig kann festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara Verfolgung in Afghanistan droht.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich langjährig in Pakistan, im Iran sowie zuletzt in Europa aufgehalten hat, in Afghanistan Verfolgung ausgesetzt wäre oder eine existenzbedrohende Notlage zu erwarten hätte. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.
Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.
Es wird zugrunde gelegt, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung insbesondere in Mazar-e Sharif oder Herat besteht für den Beschwerdeführer als alleinstehenden gesunden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf kein Risiko eines Eingriffs in seine körperliche Unversehrtheit und liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Beim Beschwerdeführer wurde am linken Ohr eine kombinierte Schwerhörigkeit diagnostiziert, wobei er diesbezüglich keine spezielle Therapie in Anspruch nahm. Der Beschwerdeführer leidet darüber hinaus an keinen körperlichen oder psychischen Erkrankungen und hat während seiner Aufenthalte im Iran und in Österreich eine überdurchschnittliche Anpassungsfähigkeit gezeigt. Der Beschwerdeführer hätte die Möglichkeit, nach einer Rückkehr finanzielle Unterstützung durch seinen in Österreich lebenden Bruder sowie seine in Pakistan lebende Schwester zu empfangen.
Der Beschwerdeführer befindet sich nicht in regelmäßiger medizinischer Behandlung und gehört wegen des Fehlens einschlägiger Vorerkrankungen und seines jungen Alters nicht zur Risikogruppe eines schweren Verlaufs einer Corona-Infektion.
1.4. Der unbescholtene Beschwerdeführer ist seit seiner Antragstellung im April 2015 durchgehend auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts in seinem Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig und bestreitet den Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer wohnt in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem hier subsidiär schutzberechtigten Bruder, dessen Freundin und deren Tochter. Zu seinen noch in Afghanistan lebenden Cousins hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Er hat Freundschaften und Bekanntschaften mit in Österreich lebenden Personen aufgebaut. Er eignete sich Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 an und plant die Absolvierung weiterführender Sprachkurse. Überdies nahm er an einem Erste-Hilfe-Kurs teil und engagierte sich durch die Verrichtung ehrenamtlicher Arbeiten.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konn