TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/27 Ro 2020/21/0010

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Veröffentlicht am 27.08.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19100000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
41/02 Staatsbürgerschaft

Norm

AVG §56
BFA-VG 2014 §22a Abs1 Z3
BFA-VG 2014 §22a Abs4
EURallg
FrÄG 2011
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §80 Abs6
FrPolG 2005 §80 Abs6 idF 2011/I/038
FrPolG 2005 §80 Abs7 idF 2011/I/038
FrPolG 2005 §82 Abs1 Z3
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwRallg
32008L0115 Rückführungs-RL Art15

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 2. April 2020, G301 2230057-1/2E, betreffend Überprüfung der Fortsetzung einer Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Y. F., ein chinesischer Staatsangehöriger, wurde aufgrund des Mandatsbescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 20. Dezember 2019 seit diesem Tag gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zur Sicherung seiner Abschiebung in Schubhaft angehalten.

2        Im vorliegenden Fall geht es um die Überprüfung dieser Anhaltung in Schubhaft durch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach der Bestimmung des § 22a Abs. 4 BFA-VG, deren Inhalt zum besseren Verständnis der weiteren Ausführungen vorangestellt wird (siehe zu ihrer historischen Entwicklung auch VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0099, Rn. 8 bis 12):

„§ 22a (1) bis (3) ...

(4) Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfen. Das Bundesamt hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem Bundesverwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das Bundesamt hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung hat zu entfallen, soweit eine Beschwerde gemäß Abs. 1 bereits eingebracht wurde.“

3        Darüber hinaus normiert § 80 Abs. 6 FPG (in der seit 1. Jänner 2014 unveränderten Fassung des FNG-AnpassungsG) eine amtswegige Pflicht zur Überprüfung der Schubhaft durch das BFA:

„§ 80. (1) bis (5a)

(6) Das Bundesamt hat von Amts wegen die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft längstens alle vier Wochen zu überprüfen. Ist eine Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG anhängig, hat diesfalls die amtswegige Überprüfung zu entfallen.“

Diese regelmäßige Überprüfungspflicht für die Schubhaftbehörde wurde vor dem Hintergrund des Art. 15 Abs. 3 der RückführungsRL (Richtlinie 2008/115/EG) erstmals mit dem FrÄG 2011 ab 1. Juli 2011 - inhaltlich ident, außer dass sie sich damals an die Fremdenpolizeibehörde richtete und sich der Verweis auf eine Beschwerde „gemäß § 82 Abs. 1 Z 3 FPG“ bezog - angeordnet.

4        Nach den unbekämpften Feststellungen im angefochtenen Beschluss nahm das BFA im vorliegenden Fall Überprüfungen im Sinne des § 80 Abs. 6 FPG am 7. Jänner 2020, am 11. Februar 2020 und am 12. März 2020 vor. Am 30. März 2020 legte das BFA sodann dem BVwG, dort einlangend am 31. März 2020, unter Bezugnahme auf § 22a Abs. 4 BFA-VG die Verwaltungsakten vor.

5        Mit dem angefochtenen Beschluss des BVwG vom 2. April 2020 wurde „die Vorlage der Verwaltungsakten zur Überprüfung der Anhaltung in Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG wegen Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes als unzulässig zurückgewiesen“. Zur Begründung dieser Entscheidung vertrat das BVwG die Auffassung, ausgehend vom Beginn der Anhaltung des Y. F. in Schubhaft am 20. Dezember 2019 sei der 21. April 2020 jener Tag, mit dessen Beginn das vierte Monat der Anhaltung überschritten sei. Nach diesem Tag, somit am 22. April 2020, habe gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG eine erste Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft durch das BVwG zu erfolgen, wobei das BFA die Akten so rechtzeitig vorzulegen habe, dass dem BVwG eine Woche zur Entscheidung vor den jeweiligen Terminen bleibe. Eine Aktenvorlage des BFA wäre somit im gegenständlichen Fall jedenfalls rechtzeitig gewesen, wenn sie bis zum 15. April 2020 erfolgt wäre. Tatsächlich seien die Akten bereits am 31. März 2020 vorgelegt worden, obwohl das BFA - ausgehend von dessen letzter Schubhaftprüfung gemäß § 80 Abs. 6 FPG am 12. März 2020 - eine neuerliche amtswegige Überprüfung der Aufrechterhaltung der Schubhaft nach vier Wochen, somit am 9. April 2020, hätte vornehmen müssen. Das BVwG sei aber für eine erstmalige gerichtliche Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach § 22a Abs. 4 BFA-VG erst dann zuständig, wenn der Termin für die nächstfolgende eigene amtswegige Überprüfung durch das BFA gemäß § 80 Abs. 6 FPG in jenen Zeitraum falle, der mit dem letzten Tag einer noch rechtzeitigen Aktenvorlage an das BVwG gemäß dem zweiten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG beginne. Im gegenständlichen Fall wäre demnach eine Zuständigkeit des BVwG zur Überprüfung nach § 22a Abs. 4 BFA-VG erst dann gegeben, wenn der nächste Überprüfungstermin gemäß § 80 Abs. 6 FPG in die Zeit ab dem 15. April 2020 gefallen wäre. Das sei im Hinblick auf den nächsten Überprüfungstermin für das BFA am 9. April 2020 nicht der Fall, sodass das BVwG „für die Behandlung der gegenständlichen Rechtssache unzuständig“ und daher „die Vorlage der Verwaltungsakten zur Überprüfung der Anhaltung“ gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG mit Beschluss als unzulässig zurückzuweisen sei. Das BVwG erachtete die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere zu der erörterten Frage des Verhältnisses der Schubhaftprüfungspflichten für das BFA und das BVwG fehle.

6        Gegen diesen Beschluss richtet sich die ordentliche Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens durch das BVwG und Vorlage der Akten erwogen hat:

7        Die Amtsrevision ist aus dem vom BVwG genannten Grund, auf den sich auch das BFA in der Zulässigkeitsbegründung bezieht, im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat mittlerweile im Erkenntnis VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0163 (Rn. 11), klargestellt, dass sich die jeweiligen Überprüfungstermine aus § 22a Abs. 4 BFA-VG ergeben und unabhängig vom Zeitpunkt der Aktenvorlage durch das BFA zu ermitteln sind. Davon scheint auch das BVwG im vorliegenden Fall ausgegangen zu sein. Seine Berechnung ist aber insoweit zu korrigieren, als es offenbar unterstellte, in Bezug auf die Ermittlung der viermonatigen Dauer der Anhaltung sei nach § 32 Abs. 2 erster Satz AVG vorzugehen, wonach eine nach Monaten bestimmte Frist mit dem Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats endet, der durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem die Frist begonnen hat. Dieser Berechnungsmethode liegt allerdings im Ergebnis zugrunde, dass der Tag, in den das fristauslösende Ereignis fällt, nicht mitgezählt wird (vgl. dazu des Näheren unter Bezugnahme auf VwGH 17.1.1990, 89/03/0003, Hengstschläger/Leeb, AVG [2. Ausgabe 2014], Rz. 12 zu § 32). Bei der Ermittlung der (durchgehenden) Dauer der Schubhaft wäre es aber nicht gerechtfertigt, den ersten Tag der Anhaltung nicht zu berücksichtigen. Ausgehend vom Beginn der Anhaltung des Y. F. in Schubhaft am 20. Dezember 2019 war somit schon der 19. April 2020 jener Tag, an dem - um 24 Uhr, also mit dessen Ablauf - die Schubhaftdauer von vier Monaten im Sinne des ersten Satzes des § 22a Abs. 4 BFA-VG „überschritten“ wurde. Spätestens am Tag danach, nämlich am 20. April 2020, wäre die Schubhaftprüfung durch das BVwG, somit die Erlassung des Erkenntnisses nach § 22a Abs. 4 BFA-VG, vorzunehmen gewesen, wobei allerdings zusätzlich ein Spielraum von einer Woche vor diesem Termin bestanden hätte (siehe dazu des Näheren VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0099, Rn. 14/15). Die Vorlage der Akten durch das BFA hatte so (rechtzeitig) zu erfolgen, dass das BVwG seiner Entscheidungspflicht in diesem Zeitraum hätte nachkommen können. In diesem Sinn vertritt auch das BFA in der Amtsrevision (unter Bezugnahme auf Szymanski in Schrefler-König/Szymanski [Hrsg.], Fremdenpolizei- und Asylrecht, Anm. 4 zu § 22a BFA-VG) die Meinung, das BFA habe die Akten „spätestens in der ‚Halbzeit‘ der vierten Monatsperiode“ oder „sobald feststeht, dass eine vier Monate erreichende Anhaltung notwendig wird“, zu übermitteln, sodass sie „spätestens eine Woche vor Ablauf der Vier-Monatsfrist beim BVwG vorliegen“.

9        Demzufolge gibt es keine „verfrühte“ Aktenvorlage (siehe zu „verspäteten“ Aktenvorlagen VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0181, und VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0163) und es ist der Amtsrevision dahin zu folgen, dass eine „taggenaue Vorlage“, die das BVwG im angefochtenen Beschluss aber auch nicht verlangte, nicht geboten ist. Allerdings hat das BFA gemäß dem vierten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG bei der Aktenvorlage darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft aus seiner Sicht weiterhin notwendig und verhältnismäßig ist. Das hat sich auf den Entscheidungszeitpunkt des BVwG zu beziehen, sodass das BFA bei seiner diesbezüglichen - dem Parteiengehör zu unterziehenden - Stellungnahme aus Anlass der Aktenvorlage die voraussichtliche weitere Entwicklung bis dahin einzubeziehen und allfällige nachträgliche Sachverhaltsänderungen umgehend dem BVwG mitzuteilen hat. Dazu gehört freilich auch, dass eine mittlerweile nach § 80 Abs. 6 FPG vorgenommene Schubhaftprüfung durch das BFA zur Enthaftung des Fremden führte, weil - entgegen dem (ursprünglichen) Standpunkt in der Stellungnahme bei der Aktenvorlage - die Aufrechterhaltung der Schubhaft doch nicht mehr für notwendig und verhältnismäßig erachtet wurde.

10       Der Sache nach ist dem BVwG nämlich darin zu folgen, dass die sich aus § 80 Abs. 6 FPG ergebende Pflicht für das BFA zur regelmäßigen Überprüfung, ob die weitere Anhaltung in Schubhaft noch gerechtfertigt ist, nicht durch die Vorlage der Akten gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG, mag sie auch als Einbringung einer Beschwerde für den in Schubhaft angehaltenen Fremden gelten, sistiert wird. Das ist im Gesetz ausdrücklich nur für den Fall angeordnet, dass dieser Fremde selbst eine Schubhaftbeschwerde gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG 2014 erhebt. Auch die Materialien zu § 80 Abs. 6 FPG in der Fassung des FrÄG 2011 (ErläutRV 1078 BlgNR 24. GP 38) sprechen nur davon, die amtswegige Überprüfung durch die Fremdenpolizeibehörde sei solange nicht vorzunehmen, wie eine Beschwerde gemäß § 82 Abs. 1 Z 3 FPG (das ist die inhaltsgleiche Vorgängerregelung zu § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG) „anhängig und über diese entschieden worden“ sei, damit es zu keiner parallelen Prüfung durch die Fremdenpolizeibehörde und den (seinerzeit) jeweils zuständigen unabhängigen Verwaltungssenat komme. Obwohl sich die im Wesentlichen inhaltsgleiche Vorgängerbestimmung des § 22a Abs. 4 BFA-VG 2014 damals im unmittelbar anschließenden § 80 Abs. 7 FPG befand und ebenfalls vor dem Hintergrund des Art. 15 der RückführungsRL mit dem FrÄG 2011 geändert wurde, gibt es weder im Gesetz noch in den genannten ErläutRV einen Hinweis, dass auch im Fall der Aktenvorlage nach § 22a Abs. 4 BFA-VG „keine parallele Prüfung“ stattzufinden habe. Diese Auffassung vertritt letztlich zutreffend auch das BFA in der Amtsrevision, nachdem es zunächst noch gemeint hatte, es sei „unklar“, „inwiefern einander § 22a Abs. 4 BFA-VG und § 80 Abs. 6 FPG überlagern dürfen“.

11       Die Meinung des BVwG, dem BFA wäre es verwehrt gewesen, die Akten zur Prüfung der Zulässigkeit der Anhaltung des Y. F. in Schubhaft über einen Zeitraum von mehr als vier Monaten gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG bereits am 31. März 2020 vorzulegen, weil es noch vor Beginn des möglichen Entscheidungszeitraums (s. Rn. 8) spätestens am 9. April 2020 eine amtswegige Schubhaftprüfung nach § 80 Abs. 6 FPG vorzunehmen gehabt hätte, hat daher keine Deckung im Gesetz. Demzufolge gibt es auch keine Rechtsgrundlage für die vom BVwG mit dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Zurückweisung der Aktenvorlage (eigentlich: der hierdurch fingierten Beschwerde des Y. F.). Das BVwG wäre vielmehr zu einer Sachentscheidung nach dem fünften Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG verpflichtet gewesen (vgl. auch VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0181, Rn. 11).

12       Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 27. August 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020210010.J00

Im RIS seit

15.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.10.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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