Entscheidungsdatum
23.01.2020Index
L92009 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung WienNorm
WMG §5 Abs2 Z2Text
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seine Richterin Dr. Hollinger über die Beschwerde des Herrn A. B. gegen den Bescheid des Magistrates der Stadt Wien, Magistratsabteilung 40, Soziales, Sozial- u. Gesundheitsrecht, Region ..., Sozialzentrum ..., vom 14.05.2018, Zl. SH/..., den
BESCHLUSS
gefasst:
I. Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben, der angefochtene Bescheid behoben und das Verfahren zur Erlassung eines neuerlichen Bescheides an die Behörde zurückverwiesen.
II. Gegen diesen Beschluss ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.
Begründung
Mit Bescheid vom 14.5.2018, MA 40 – Sozialzentrum ... – SH/2018/ ... wurde den nunmehrigen Beschwerdeführern A. B. und C. D., aufgrund ihres Antrages vom 24.4.2018 unter Spruchpunkt I) eine Leistung zur Deckung des Lebensunterhaltes und der Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfes (DLU/GDW) laut Tabelle zuerkannt. Unter Spruchpunkt II) wurde den Beschwerdeführern eine Mietbeihilfe – laut Tabelle zuerkannt.
Die zuerkannte Leistung beträgt:
Zeitraum
I.) Spruchpunkt DLU/GDW
II.) Spruchpunkt Mietbeihilfe
01.06.2018- 30.06.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.07.2018- 31.07.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.08.2018 - 31.08.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.09.2018-30.09.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.10.2018- 31.10.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.11.2018 - 30.11.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.12.2018- 31.12.2018
EUR 647,28
EUR 160,72
01.01.2019- 31.01.2019
EUR 647,28
EUR 160,72
01.02.2019- 28.02.2019
EUR 647,28
EUR 160,72
01.03.2019 - 31.03.2019
EUR 647,28
EUR 160,72
01.04.2019- 30.04.2019
EUR 647,28
EUR 160,72
01.05.2019- 31.05.2019
EUR 647,28
EUR 160,72
Als Rechtsgrundlagen wurden die §§ 7, 8, 9, 10 und 12 WMG in Zusammenhang mit der WMG-VO herangezogen.
Begründet wurde dieser Bescheid wie folgt:
„Das Ermittlungsverfahren hat Folgendes ergeben:
Frau D. ist deutsche Staatsbürgerin. Laut Zentralem Melderegister ist sie seit 09.08.2010 laufend in Wien gemeldet. Laut Hauptverband der Sozialversicherung war Sie vom 02.05.2012 bis 28.02.2013 unselbständig erwerbstätig. Seither scheinen keine Beschäftigungsverhältnisse in Österreich auf.
Miete
€ 505,46
01.03.2018
Kein WBH Anspruch
€0,00
01.03.2018
Bei der Berechnung waren die in der WMG-VO festgelegten Mindeststandards und Mietbeihilfenobergrenzen heranzuziehen. Siehe Beilage
Auf Grund des ermittelten Bedarfs und des zu berücksichtigenden Einkommens waren die Leistungen spruchgemäß zuzuerkennen.“
Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerechte Beschwerde der Beschwerdeführer, in welcher unter anderem vorgebracht wird, dass sie nach Durchlesen des Bescheides total geschockt gewesen sind, weil laut dem Bescheid nur mehr Herr A. B. Geld beziehe, nicht jedoch Frau C. D.. Laut Auskunft einer Beraterin der MA 40 wäre Frau C. D. nicht fünf Jahre durchgehend versichert gewesen. Dies sei jedoch unrichtig, da Frau C. D. bei Herrn A. B. mitversichert sei. Eine entsprechende Bestätigung über die Mitversicherung der WGKK vom 29. Mai 2018 wird der Beschwerde beigelegt. Aus dieser ergibt sich, dass Frau C. D. seit 22.7.2011 bei Herrn A. B. mitversichert ist.
In ihrer Beschwerdeergänzung bringt die Beschwerdeführerin vor, dass sie deutsche Staatsbürgerin sei und seit August 2010 in Österreich wohne. Hier habe sie neun Monate zwischen 2012 bis 2013 gearbeitet und habe sie sich danach umgehend beim AMS als Arbeitssuchende gemeldet. Sie sei weiterhin aktuell beim AMS für eine Arbeit vorgemerkt. Seit März 2017 leide sie an E. und bekomme eine entsprechende Therapie. Sie habe zwar unter einem Jahr gearbeitet, habe sich aber danach umgehend als Arbeitssuchende gemeldet, somit sei ihr die Arbeitereigenschaft erhalten geblieben. Weiters habe sie auch das Recht auf Daueraufenthalt schon durch den rechtmäßigen Aufenthalt, unabhängig der Bescheinigung über den Daueraufenthalt, erworben. Weiters habe ein erlaubter und ununterbrochener Aufenthalt von mehr als einem Jahr im Sinne des Artikel 8 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 9 Abs. 3 des Deutsch–Österreichischen Fürsorgeabkommens bestanden und ein rechtmäßiger Aufenthalt gemäß Artikel 2 Abs. 1 des Deutsch-Österreichischen Fürsorgeabkommens. Ihr seien daher auch aufgrund dieser Rechtsgrundlage Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung zuzuerkennen.
Antragsgemäß führte das Verwaltungsgericht Wien am 7.8.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführer zusammen mit ihren Vertretern, Herrn F. G. und Frau H. I., teilnahmen. Folgendes wurde zu Protokoll gegeben:
Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll:
„ Ich musste meine Ausbildung abbrechen, wegen gesundheitlichen Gründen, obwohl ich kurz vorm fertig werden war. Mir fehlten nur mehr zwei Monate. Seitdem hab ich Sozialhilfe bezogen und bin jetzt seit einem Jahr in einer Intensivtherapie. Ich bin krankgeschrieben.
Die Beschwerdeführerin gab zu Protokoll:
„ Ich bin im August 2010 nach Wien gekommen. Ich habe von Anfang an mit Herrn B. zusammen gewohnt. Wir haben eine Beziehung miteinander. Ich habe mich gleich um die Anmeldebescheinigung gekümmert, Ich habe mich auch beim AMS arbeitssuchend gemeldet. Die diesbezügliche Bestätigung der Vormerkung zur Arbeitssuche vom AMS kann vorgelegt werden. Ich war schon seit August 2010 Arbeitssuchend gemeldet. Ich habe auch Kurse besucht. Die Bezugsbestätigung vom AMS wird ebenfalls vorgelegt. Ich habe 2012 bei der J. ein Praktikum gemacht. Ich habe eine Bewerbung beim K. geschrieben, das ist eine Tochterfirma vom L. von der J.. Ich wurde dann dort angestellt. Es waren dort aber zu viele Mitarbeiter, es wurden dann wieder Mitarbeiter abgebaut und so wurde ich dann dort gekündigt. Ich war dann weiter auf Arbeitsuche. 2016 habe ich mir den Knöchel gebrochen und war wochenlang (12 Wochen) in Gips. Im März 2017 wurde dann endgültig festgestellt, dass ich unter E. leide, vorher bestand lediglich der Verdacht drauf. Ich war bis zu meiner Beschäftigung beim K. selbst versichert. Nach Ende meiner Beschäftigung beim K. habe ich mich bei Herrn B. mit versichert. Die entsprechende Bestätigung der WGKK habe ich bereits vorgelegt. Die Versicherung wurde verlängert.
Ich habe von Oktober 2010 bis Februar 2011 beim AMS Kurse besucht. Ich habe dafür auch vom AMS ein Kursgeld bekommen. Herr B. hat eine Ausbildung gemacht und hat dafür auch ein Kursgeld bekommen. Ab Ende meiner AMS Kurse im Februar 2012 habe ich Sozialhilfe bezogen. Auch während meiner Tätigkeit beim K. habe ich Sozialhilfe bezogen müssen, weil dies eine Teilzeitstelle war.
Ich bin zurzeit auch krankgeschrieben.
Ich habe jahrelang Sozialhilfe und Mindestsicherung bezogen und jetzt plötzlich nicht mehr. Von den zuständigen Stellen bei der MA 40 konnte es niemand erklären.
Ich bin keineswegs nach Österreich eingereist um Sozialhilfe zu beziehen. Herr B. und ich haben uns kennengelernt und kannten uns schon bevor ich nach Österreich gekommen bin. Schon zuhause in M. habe ich Arbeit gesucht und keine bekommen. Ich hatte zuvor als Pferdewirtin gearbeitet, ich habe aber einen Bandscheibenvorfall bekommen und man sagte mir ich kann diese Tätigkeit nicht mehr ausüben. Das habe ich auch vom Amtsarzt in Deutschland bestätigt bekommen. Hier in Österreich war ich immer bemüht eine Arbeit zu finden.
Der Vertreter des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführerin gab zu Protokoll:
„ Es wird zunächst auf die Beschwerdeergänzung vom 24.07.2018 hingewiesen und auf das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege. Vorgelegt wird ein Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Salzburg vom 07.02.2018 und das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22.02.2017 Ro 2015/10/0051.
In seinen Schlussausführungen gab der Beschwerdeführer an:
„ Für uns ist der Erhalt der vollen Sozialhilfe lebenswichtig. Die Gemeindewohnung ist teuer, aber war das billigste was wir bekommen konnten.
In ihren Schlussausführungen gab die Beschwerdeführerin an:
„ Ich muss meine Therapien machen und gehe in Physiotherapie und muss Spritzentherapie kriegen und regelmäßige ärztliche Kontrollen besuchen. Ich würde schon arbeiten, aber mit den Therapien geht das nicht.
Mit Erkenntnis vom 16.8.2018, Zlen VGW-141/021/8470/2018 und VGW-141/V/021/8594/2018 wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde als unbegründet ab.
Gegen dieses Erkenntnis richtete sich die außerordentliche Revision der Beschwerdeführer. Mit Erkenntnis vom 22.10.2019, Ra 2018/10/0149 bis 0150, hob der Verwaltungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes auf. Der Verwaltungsgerichtshof führte in seinem Erkenntnis unter anderem aus, dass das Verwaltungsgericht bei seiner Prüfung, ob sich die Beschwerdeführerin rechtmäßig in Österreich aufhalte, die Lebensgemeinschaft der Beschwerdeführer völlig außer Acht gelassen habe und sich nicht damit befasst habe, ob vor deren Hintergrund Gründe der Menschlichkeit gegen eine Versagung des Aufenthaltsrechtes der Beschwerdeführerin allein wegen deren Mittellosigkeit sprechen. In dem das Verwaltungsgericht die Notwendigkeit einer derartigen Auseinandersetzung für die Beurteilung des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin verkannt hat, habe es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsbürgerin und seit 9.8.2010 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien wohnhaft gemeldet. Die Beschwerdeführerin wohnt mit dem Beschwerdeführer, mit dem sie eine Lebensgemeinschaft führt, zusammen. Die Beschwerdeführerin war in der Zeit von 9.8.2010 bis 23.8.2010, 2.9.2010 bis 19.9.2010, 22.9.2010 bis 10.10.2010, 13.1.2011 bis 14.1.2011, 12.2.2011 bis 11.10.2011, 30.1.2012 bis 1.5.2012, 4.3.2013 bis 18.7.2013, 21.2.2014 bis 14.9.2014, 14.7.2015 bis 17.10.2015, 21.10.2015 bis 21.1.2016, 12.5.2016 bis 25.5.2016, 22.6.2016 bis 1.7.2016 und 7.7.2016 bis 12.9.2016 beim AMS als arbeitssuchend vorgemerkt. Vom 11.10.2010 bis 11.2.2011 besuchte die Beschwerdeführerin beim AMS Kurse und bezog eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes in der Höhe von EUR 18,50 täglich, den Qualifizierungsbonus in der Höhe von EUR 3,30 täglich und Kursnebenkosten in der Höhe von EUR 1,23 täglich. Vom 2.5.2012 bis 1.10.2012 arbeitete die Beschwerdeführerin – nach deren eigenen Angaben in der Verhandlung – aufgrund eines Praktikums bei der J. und war dann anschließend von 1.10.2012 bis 28.2.2013 als Angestellte bei der K. Handels GmbH beschäftigt. Aufgrund des Abbaus von Mitarbeitern wurde die Beschwerdeführerin gekündigt. Die Beschwerdeführerin bezog Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung durchgehend von März 2011 bis Mai 2012 und – wieder durchgehend – von Jänner 2013 bis Februar 2018. Seit 22.7.2011 ist die Beschwerdeführerin beim Beschwerdeführer B. mitversichert.
Dieser Sachverhalt ergibt sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin selbst im Zusammenhang mit der von ihr vorgelegten Bestätigung der Vormerkung zur Arbeitssuche beim AMS vom 31.7.2018 und der Bezugsbestätigung des AMS vom 31.7.2018 sowie aufgrund des Versicherungsdatenauszuges, der Bestätigung der WGKK vom 29.5.2018 über die Mitversicherung der Beschwerdeführerin beim Beschwerdeführer B. und der sich im Akt befindlichen Bezugs-und Auszahlungstabellen der MA 40. Die Beschwerdeführerin gab selbst an, dass sie jahrelang Sozialhilfe und Mindestsicherung bezogen hätte.
Rechtliche Beurteilung:
§ 5 des Gesetzes zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien (Wiener Mindestsicherungsgesetz – WMG), LGBl. 38/2010, lautet auszugsweise wie folgt:
„Personenkreis
§ 5. (1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.
(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:
[…]
2. Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;
[…]“
Die Art. 7 und 13 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (kurz: Unionsbürgerrichtlinie) regeln das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen. Die Art. 16 bis 18 dieser Richtlinie regeln das Rechts auf Daueraufenthalt (für Unionsbürger und deren drittstaatsangehörige Familienangehörigen); Art. 19 und 20 dieser Richtlinie enthalten Bestimmungen über die Dokumentation zur Bescheinigung des Daueraufenthaltes. Die Umsetzung der unionsrechtlichen Bestimmungen erfolgte im Wesentlichen in den §§ 51 bis 54a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
Gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 NAG sind EWR-Bürger aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie zum Aufenthalt für mehr als drei Monaten berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind.
Gemäß § 51 Abs. 2 NAG bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er
1. wegen einer Krankheit oder eine Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist;
2. sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des AMS zur Verfügung stellt;
3. sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf eines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservices zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, oder
4. eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, … .
Gemäß § 53a Abs. 1 NAG erwerben EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52) unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung über den Daueraufenthalt auszustellen.
Die maßgeblichen Bestimmungen des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege, BGBl. Nr. 258/1969, lauten auszugsweise wie folgt:
„TEIL II
GEWÄHRUNG VON FÜRSORGE UND JUGENDWOHLFAHRTSPFLEGE
Artikel 2
(1) Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, wird Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt.
[…]
Artikel 8
(1) Der Aufenthaltsstaat darf einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, daß er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.
(2) Die Vorschriften dieses Abkommens stehen in keiner Weise dem Recht zur Ausweisung aus einem anderen als dem im vorstehenden Absatz erwähnten Grunde entgegen.
Artikel 9
[…]
(3) Bei Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Artikel 8 Absatz 1 werden Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaates gewährt worden ist, nicht berücksichtigt.“
Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde die notwendigen Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige. Zu prüfen war daher, ob sie im Sinne des § 5 Abs. 2 Z 2 WMG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt ist. Die Beschwerdeführerin ist nicht erwerbstätig. Die Erwerbstätigeneigenschaft ist auch nicht gemäß § 51 Abs. 2 NAG erhalten geblieben. Die Beschwerdeführerin war lediglich von Mai 2012 bis Februar 2013 (10 Monate) in Österreich beschäftigt. Die Beschwerdeführerin bringt zwar vor, sie sei aufgrund von einem Mitarbeiterabbau gekündigt worden, bei diesem Vorbringen kann aber nicht von einer ordnungsgemäß bestätigten, unfreiwilligen Arbeitslosigkeit und damit dem Fortbestand der Erwerbstätigeneigenschaft ausgegangen werden. Selbst aber im Falle ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit wäre die Gleichstellung nur für sechs Monate ab dem Ende des nicht ein Jahr andauernden Dienstverhältnisses erhalten geblieben. Da sich die Beschwerdeführerin nicht fünf Jahre rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat, hat sie auch nicht das Recht auf Daueraufenthalt gemäß § 53a NAG erworben. Die Beschwerdeführerin bezog durchgehend von März 2011 bis Mai 2012 und – wieder durchgehend – von Jänner 2013 bis Februar 2018 Mindestsicherung. Die Beschwerdeführerin musste Sozialhilfeleistungen beantragen, was zeigt, dass sie über keine genügenden Mittel für einen Aufenthalt in Österreich verfügte.
Zur Anwendung des Fürsorgeabkommens:
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 22.2.2017, Zl. Ro 2015/10/0051, ausgeführt, dass das Fürsorgeabkommen grundsätzlich anwendbar ist. Der Verwaltungsgerichtshof führt weiters aus, dass jedoch nur solche deutsche Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in Österreich aufhielten, als von Art. 2 Abs. 1 des Fürsorgeabkommens erfasst angesehen werden könnten. Die Auffassung, den Beschwerdeführern sei auf Grund des Abkommens Mindestsicherung wie Österreichern zu gewähren, setze somit voraus, dass diese zum Aufenthalt in Österreich berechtigt seien. Dass Letzteres zutreffe, sei dem angefochtenen Erkenntnis allerdings nicht zu entnehmen; vielmehr habe das Verwaltungsgericht ein "unionsrechtliches Aufenthaltsrecht" explizit verneint und – ohne die Tatbestandsvoraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts weiter zu erörtern – den Anspruch der mitbeteiligten Parteien auf Mindestsicherung gemäß dem Abkommen bejaht.
Gemäß Art. 9 Abs. 3 des Fürsorgeabkommens werden bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Art. 8 Abs. 1 jene Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaates gewährt worden ist, nicht berücksichtigt.
Wenn die Beschwerdeführerin einen rechtmäßigen ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich von mehr als einem Jahr aufweisen kann, dann wäre ihr Aufenthalt damit wohl rechtmäßig im Sinne des Art. 2 des Fürsorgeabkommens. Voraussetzung für die Anwendung des Fürsorgeabkommens ist somit ein erlaubter und ununterbrochener Aufenthalt von mehr als einem Jahr im Sinne des Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 des Fürsorgeabkommens und ein rechtmäßiger Aufenthalt gemäß Art. 2 Abs. 1 des Fürsorgeabkommens (siehe dazu VwGH vom 22.2.2017, Ro 2015/10/0051 bzw. die Erkenntnisse des LV WG Salzburg vom 22.8.2017, Zl. 405-9/282/1/12-2017 und vom 7.2.2018, Zl. 405-9/417/1/46-2018). Das bedeutet, dass im Hinblick auf die Judikatur auch nach dem Fürsorgeabkommen ein rechtmäßiger Aufenthalt für die Gleichstellung im Sinne des Artikel 2 Abs. 1 des Fürsorgeabkommens zu verlangen ist, wobei über das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht hinaus (also wenn kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gegeben ist) der deutschen Staatsangehörigen ein rechtmäßiger bzw. erlaubter Aufenthalt nach Artikel 8 des Fürsorgeabkommens in Betracht kommt.
Dazu müsste die Beschwerdeführerin zumindest für ein Jahr ununterbrochen rechtmäßig und ohne Sozialhilfebezug (Artikel 8 iVm Art. 9 Abs. 3 des Fürsorgeabkommens) in Österreich aufhältig gewesen sein.
Die Beschwerdeführerin ist im August 2010 nach Wien gekommen, hat aber bereits nach 7 Monaten, ab März 2011 Mindestsicherung bezogen. Die Beschwerdeführerin war zwar von Mai 2012 bis Februar 2013 beschäftigt, wobei die Beschwerdeführerin aber im Mai 2012 noch und ab Jänner 2013 wieder im Mindestsicherungsbezug stand (solche Zeiten der Gewährung von Mindestsicherung sind bei der Berechnung des rechtmäßigen bzw. erlaubten Aufenthaltes gemäß Art 9 Abs. 3 des Fürsorgeabkommens nicht zu berücksichtigen).
Nach dem festgestellten Sachverhalt weist die Beschwerdeführerin nur im einen Zeitraum von 7 Monate (1.6.2012 bis 31.12.2012) rechtmäßigen bzw. erlaubten Aufenthaltes in Österreich mit Versicherungsschutz über die Mitversicherung beim Beschwerdeführer B. und ohne Sozialhilfebezug auf.
Allerdings – und das ist für die gegenständliche Sache wesentlich - lebt die Beschwerdeführerin mit dem Beschwerdeführer B. seit 2010 (durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien) in einer Lebensgemeinschaft. Sie ist auch seit 2011 beim Beschwerdeführer B. mitversichert.
Gemäß Punkt A. 6. des Schlussprotokolls zum Fürsorgeabkommen liegen Gründe der Menschlichkeit, die einer Rückschaffung gemäß Art. 8 Abs. 1 Fürsorgeabkommen entgegenstehen, insbesondere dann vor, wenn hiedurch enge Bindungen im Aufenthaltsstaat, vor allem eine Familiengemeinschaft, getrennt würden (zu dem verfassungsrechtlich gebotenen weiten Begriff des „Familienlebens“ vgl. etwa die Nachweise aus der Rechtsprechung de EGMR bei Mayer/Muzak, B-VG5, Anmerkung II 2 zu Art. 8 MRK).
Nun muss aber festgehalten werden, dass aufgrund der jahrelangen bestehenden Lebensgemeinschaft zwischen der Beschwerdeführerin und dem Beschwerdeführer B. davon ausgegangen werden muss, dass einer Ausweisung der Beschwerdeführerin Gründe der Menschlichkeit entgegenstehen. So darf der Beschwerdeführerin auch nach einem kürzeren (als einem einjährigen) erlaubten Aufenthalt in Österreich der Aufenthalt nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit verweigert werden, da Gründe der Menschlichkeit dagegen sprechen. So führen die Materialien (RV-1024 BLG NR XI, GP, S. 18) zu der Bestimmung des Artikels 8 Abs. 1 zweiter Satz Fürsorgeabkommen unter anderem aus:
„Hier wird der Grundsatz des Verzichtes auf die fremdenpolizeiliche Heimschaffung allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit näher umschrieben. Danach soll aus diesem Grund allein einem Hilfsbedürftigen weder eine begehrte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung versagt, noch gegen ihn mit fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen (Aufenthaltsverbot) vorgegangen werden.“
Gründe der Menschlichkeit sprechen somit gegen die Versagung des Aufenthaltsrechts der Beschwerdeführerin allein wegen deren Mittellosigkeit. Der Beschwerdeführerin kommt daher ein Anspruch auf Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung zu.
Da somit feststeht, dass die Beschwerdeführerin aufgrund des Umstandes, dass ihr ein Aufenthaltsrecht in Österreich aus Gründen der Menschlichkeit nicht versagt werden darf, österreichischen Staatsbürgern im Sinne des § 5 Abs. 2 WMG gleichgestellt ist, hat sie somit grundsätzlich Anspruch auf Zuerkennung von Mitteln aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war in der Hauptsache die Klärung, ob die Beschwerdeführerin österreichischen Staatsangehörigen gleichgestellt ist. Die Behörde wird somit im fortgesetzten Verfahren nunmehr die Höhe des Anspruchs der Beschwerdeführerin ab Antragstellung zu ermitteln haben und hat sie auch zu überprüfen, ob und inwieweit die Beschwerdeführerin bzw. der Beschwerdeführer B. Anstrengungen zur Erlangung einer vollwertigen Erwerbstätigkeit entfalten, bzw. überhaupt entfalten können.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.
Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:
Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Personenkreis; Erwerbstätigeneigenschaft nicht erhalten geblieben; Fürsorgeabkommen; Gründe der MenschlichkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.141.021.14423.2019.EZuletzt aktualisiert am
14.09.2020