TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/29 W184 2157565-1

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Veröffentlicht am 29.10.2019
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Entscheidungsdatum

29.10.2019

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W184 2157565-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.03.2017, Zl. 1066145305/150422425, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.10.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005, §§ 52, 55 FPG und § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, ein - damals noch minderjähriger - männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 26.04.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

"I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.

Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst:

Die beschwerdeführende Partei habe bei der Erstbefragung am 26.04.2015 angegeben, dass er aus Kabul stamme und der tadschikischen Volksgruppe angehöre. Als Fluchtgrund habe er angeführt, dass ihn ein Polizist habe entführen wollen.

Bei der Einvernahme durch das Bundesamt am 07.10.2016 habe die beschwerdeführende Partei ausgesagt: Er sei in Kabul geboren und aufgewachsen und habe von 2005 bis 2014 die Schule besucht. In Kabul leben noch sein Vater, seine Mutter, ein Bruder, zwei Schwestern und ein Onkel. Im Jahr 2010 sei die Familie von Kabul nach Baghlan übersiedelt, weil der Vater dort ein neues Geschäft aufgemacht habe. Die beschwerdeführende Partei habe circa im Jahr 2012 auf der Hochzeit eines Nachbarn getanzt und sei dabei von XXXX , dem Befehlshaber der Miliz Arbaki in Baghlan, und dessen Leuten gesehen worden. Dieser sei dafür bekannt, dass er Buben sexuell missbrauche. Als die beschwerdeführende Partei in der Folge mehrmals von den Leuten XXXX auf dem Schulweg beobachtet worden sei, sei die Familie im Jahr 2012 nach Kabul zurückgekehrt. Ende 2014 sei er zufällig wieder den Leuten XXXX begegnet und von diesen erkannt worden. Diese hätten dann mehrmals im Geschäft des Vaters nach der beschwerdeführenden Partei gefragt, weshalb er aus Afghanistan geflüchtet sei.

Die beschwerdeführende Partei habe als Beweismittel unter anderem eine Schulbesuchsbestätigung (betreffend Oktober 2015 bis Juli 2016), Bestätigungen über Kurse und Freiwilligenarbeit sowie mehrere Empfehlungsschreiben vorgelegt.

Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen und die Beweiswürdigung.

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung wurde schließlich zu den einzelnen Spruchpunkten dargelegt, dass der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt werden könne, weil ein asylrelevantes Vorbringen nicht glaubhaft gemacht worden sei. Auch eine refoulementrelevante Gefährdung bestehe nicht, weil die Sicherheitslage in mehreren Provinzen stabil sei. Die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK und für eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz lägen nicht vor, weshalb eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage mangels besonderer Umstände zwei Wochen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere die Beweiswürdigung beanstandet wurde.

Mit Schriftsatz vom 28.02.2019 gab die beschwerdeführende Partei bekannt, dass das Geschäft seines Vaters in Kabul abgebrannt sei und er seitdem keinen Kontakt mehr zu seiner Familie habe. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan unzureichend und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.10.2019 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, RI = Richter, BF = beschwerdeführende Partei, BFV = Vertreter der beschwerdeführenden Partei, BehV = Behördenvertreter):

"Der BFV legt vor: ein ÖSD Zertifikat A2 (glaublich aus dem Jahr 2016); einen Aufnahmevertrag vom 22.10.2019 zur Ausbildung für Sozialbetreuungsberufe und Altenarbeit, dauert drei Jahre, begonnen am 09.09.2019, damit ist auch ein Praktikum verbunden; eine Schulbesuchsbestätigung vom 13.09.2019; drei Empfehlungsschreiben; eine Bestätigung über ehrenamtliche Arbeit; eine Bewerbung als Greenkeeperlehrling bei einem Golfclub.

RI: Sie sind jetzt seit viereinhalb Jahren in Österreich. Was haben Sie in dieser Zeit gemacht, um sich beruflich zu integrieren?

BF (antwortet größtenteils in sehr gutem Deutsch und teilweise in Dari): Ich war zuerst in der XXXX , das ist ein Gymnasium, ich war außerordentlicher Schüler. Danach war ich von 2016 bis 2017 in der XXXX in XXXX . Ich habe über beide Schulbesuche schon Zeugnisse übermittelt. Nach 2017 habe ich nichts gemacht. Ich habe viele Bewerbungen verschickt für eine Lehrstelle. Vor einer Woche habe ich die B1-Prüfung abgelegt, ich habe noch kein Zeugnis. Ich kann jetzt nach der geltenden Rechtslage nicht als Lehrling beginnen.

RI: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren?

BF: Ich habe Angst, dass ich wieder verfolgt werde wie beim ersten Mal. Außerdem gibt es jetzt wieder Taliban. Ich habe jetzt keinen Kontakt mehr zu meiner Familie, und zwar seit letztem Jahr.

RI: Warum haben Sie keinen Kontakt mehr?

BF: Unser Geschäft in Kabul ist verbrannt. Mein Vater meinte, dass das wegen dieser Leute passiert ist. Danach hat mein Vater mich angerufen und gesagt, dass das alles meinetwegen passiert ist. Er meinte, ich sei schuld, dass er alles verloren hat.

RI: Was war zwischen 2014 und 2018?

BF: Da habe ich regelmäßig Kontakt gehabt.

RI: Ist Ihre Familie damals bedroht worden?

BF: Das weiß ich nicht. Sie haben mir nichts darüber erzählt. Ich hatte nur die Nummer von meinem Vater, sonst hatte ich keinen Kontakt.

RI: Wie ist das abgelaufen, dass Ihr Geschäft abgebrannt wurde?

BF: Das weiß ich auch nicht genau. Er hat mich nur angerufen und gesagt, dass ich schuld sei. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich glaube selbst auch nicht, dass mein Vater mich sozusagen verstoßen hat.

RI: Sie haben den Grund für Ihre Flucht ausführlich beim BFA geschildert. Warum ist Ihre Familie damals überhaupt von Kabul nach Baghlan gegangen?

BF: Mein Vater wollte ein neues Geschäft in Baghlan eröffnen.

RI: Warum gerade in Baghlan?

BF: Ich weiß es nicht. In dem Geschäft in Kabul ist mein Onkel geblieben, er ist immer noch dort. Zuletzt habe ich im vergangenen Jahr Kontakt mit meinem Vater gehabt.

RI: Stammt Ihre Familie ursprünglich aus Baghlan?

BF: Nein, aus Kabul. Ich weiß nicht, warum mein Vater nach Baghlan wollte, vielleicht um Geld zu verdienen.

RI: Schildern Sie mir den Beginn der Entführung.

BF: Wir waren in Baghlan, dann war eine Hochzeit. Da habe ich getanzt und da haben mich diese Leute gesehen. Damals war alles okay, bis ich auf dem Schulweg diese Leute wiedergesehen habe.

RI: Ist es üblich, dass auf einer Hochzeit zwölfjährige Jungen tanzen?

BF: Ja, das ist normal.

RI: Welchen Tanz haben Sie da getanzt?

BF: Es waren verschiedene Tänze. Ich habe in einer Gruppe getanzt. Auf einer Hochzeit tanzen alle, aber Männer und Frauen getrennt.

RI: Das Brautpaar tanzt aber schon zusammen?

BF: Ja, aber im Frauenbereich. Bei unserer Hochzeit waren in einem Haus nur Männer und in dem anderen Haus nur Frauen.

RI: Wer hat geheiratet?

BF: Unser Nachbar XXXX . Wir waren eingeladen.

RI: Haben Sie in Mädchen- oder in Bubenkleidern getanzt?

BF: Normale männliche Kleidung.

RI: Und woher können Sie diese Tänze?

BF: Das ist bei uns ganz üblich. Jedes Kind lernt das in seiner Kindheit auf Hochzeiten.

RI: Wie heißt diese Person, die Sie entführen wollte?

BF: XXXX .

RI: Welche Stellung hatte XXXX damals?

BF: Er war ein bekannter Mann. In ganz Baghlan kannte man ihn. Er gehörte auch zu der bewaffneten Gruppierung der Arbaki. Jeder sagte, dass er auch ein Kommandant sei in dieser Gruppierung. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber ich weiß nur, dass man ihn als Kommandanten kannte.

RI: Nach meinen Informationen war XXXX damals nicht in Baghlan, sondern in Kunduz.

BF: Sie meinen in dieser bestimmten Zeit der Hochzeit?

RI: Ja, 2010.

BF: Er war im ganzen Norden tätig mit seiner Gruppierung.

RI: Was wissen Sie noch von seinen Aktivitäten?

BF: Ich habe das nur so gemeint, weil Sie von Kunduz gesprochen haben, er war in allen nördlichen Provinzen tätig. Er konnte praktisch in diesem Zeitraum in allen nördlichen Provinzen sein, und zwar speziell im Jahr 2010.

RI: In welchem Jahr war die Hochzeit?

BF: Das genaue Datum kann ich nicht sagen.

RI: Wo hält sich XXXX jetzt auf und welche Stellung hat er jetzt?

BF: Das weiß ich nicht.

RI: Diese Vorfälle sind jetzt schon rund fünf Jahre her und Sie sind jetzt schon 19 Jahre alt. Jetzt hat vermutlich XXXX kein Interesse mehr an Ihnen.

BF: Vielleicht schon.

RI: Warum?

BF: Es gibt Leute, die über 20 sind und noch immer missbraucht werden. Es gibt darüber Videos und Berichte im Internet.

RI: Zu welcher Volksgruppe gehört XXXX ?

BF: Das weiß ich nicht. Ich habe selber keine Informationen über XXXX .

RI: Sie haben uns vor ein paar Monaten ein Schreiben geschickt über den Brandanschlag auf das Geschäft Ihres Vaters. Ist dieser Brandanschlag damals bei der Polizei angezeigt worden?

BF: Ich denke schon, dass er angezeigt wurde.

RI: Haben Sie eine Bestätigung über diese Anzeige?

BF: Ja, das habe ich.

BFV legt eine Kopie vor.

BF: Das hat mir ein Freund geschickt.

RI: Steht da irgendetwas über XXXX darin?

BF: Ich glaube nicht.

RI: Es könnte ja auch wer anderer gewesen sein?

BF: Das ist möglich. Diese Bestätigung hat mir ein guter Freund geschickt, weil ich zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mit meiner Familie gehabt habe. Dieser Freund lebt in Kabul.

RI: Wie haben Sie die Bestätigung bekommen?

BF: Per E-Mail vom 26.02.2019.

RI: Was hat Ihnen dieser Freund sonst noch erzählt, was los ist in Ihrer Heimat?

BF: Über etwas Anderes haben wir nicht gesprochen. Ich habe ihm nur eine E-Mail geschickt, dass ich eine Bestätigung brauche.

RI: Warum schicken Sie dem Freund nicht eine E-Mail und fragen ihn, ob Sie gesucht werden oder bedroht werden, etc.?

BF: In diesem Zusammenhang, nämlich mit den Bacha Bazi, kann uns auch die Polizei nicht helfen. Er ist nur ein Schulfreund von mir und er wohnt auch nicht in der Nähe meines Elternhauses, deshalb habe ich ihn sonst nichts gefragt.

RI: Was ist nach dieser Hochzeit passiert?

BF: Nach der Hochzeit war ich einmal unterwegs in die Schule. Ich habe diese Leute noch einmal gesehen, dieselben wie bei der Hochzeit. Auf dem Schulweg war XXXX persönlich nicht da, aber seine Leute, die ich zusammen mit XXXX auf der Hochzeit gesehen habe. Ich habe diese Leute drei bis vier Tage nacheinander auf diesem Weg gesehen. Ich habe große Angst gehabt, deswegen habe ich die ganze Geschichte meinem Vater erzählt. Nachdem mein Vater jene Informationen bekommen hat, mit denen mein Vater wusste, was XXXX für ein Mensch sei und dass er Bacha Bazi praktiziere und sogar junge Leute entführen würde, da wusste mein Vater, dass die Provinz Baghlan zu gefährlich für uns wäre. Deshalb hat er entschieden, dass wir nach Kabul zurückziehen. Bis zum Jahr 2014 ist alles normal gewesen, ich konnte auch in die Schule gehen. Gegen Ende 2014 bin ich einmal von der Schule zum Geschäft meines Vaters gegangen. Mein Vater sagte mir, dass ich vom Bazar XXXX Getränke holen sollte. Als ich mich im Bazar befand, habe ich genau jene Leute wiedergesehen, die ich schon zwei Jahre davor in Baghlan gesehen habe. Sie haben mich auch bemerkt und gesehen.

RI: Sind Sie bedroht worden?

BF: Sie haben zwar nichts gesagt, aber ich hatte trotzdem große Angst. Dann bin ich wieder zum Geschäft meines Vaters gegangen. Ich habe diese Begegnung meinem Vater erzählt. Dann hat mein Vater mich nach Hause gebracht.

RI: Haben Sie das Haus dann noch einmal verlassen?

BF: Ja, ich habe versucht, weiterhin in die Schule zu gehen. Ich musste auch hingehen, es war das Jahreszeugnis schon nahe und ich wollte es nicht verpassen, aber ich muss dazu sagen, dass ich nach diesem Ereignis nicht mehr zu dem Geschäft zurückgegangen bin, weil mein Vater der Meinung war, dass ich nicht mehr ins Geschäft kommen brauche. Wie ich von meinem Vater mitbekommen habe, sind diese Leute ein paar Mal zu meinem Vater ins Geschäft gekommen und ein- oder zweimal ist es passiert, dass sie gestritten haben.

RI: Sind Sie zu dieser Zeit allein in die Schule gegangen?

BF: Nein, mit meinem Onkel zusammen. Er hat mich immer mit dem Auto in die Schule gebracht und wieder zurück nach Hause.

RI: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass jemand einen 20-Jährigen entführt, um ihn für sich tanzen zu lassen.

BF: Das ist Ihre Meinung.

RI: Und was ist Ihre?

BF: Ich muss dazu sagen, diese Sache ist nicht altersabhängig. Nach Bestätigung von YouTube, usw. gibt es Leute, die schon über 25 sind, und manche Leute lassen diese für sich tanzen. Ich wollte damals meine Schule beenden und Pilot werden und habe das nicht ausführen können wegen dieser Bedrohung.

BFV: Hat Ihr Vater irgendwelche anderen Probleme mit anderen Leuten gehabt?

BF: Das weiß ich nicht, aber, soweit ich weiß, hat mein Vater nie Feinde gehabt.

RI: Sie haben immer nur geschildert, dass Sie diese Männer immer nur gesehen haben, aber nicht, dass jemand zu Ihnen gesagt hat, Sie sollen mitkommen.

BF: Ich habe diese Männer nur gesehen und bin immer gleich weggelaufen.

Stellungnahme des BehV: Bezüglich der Integration wird auf den unsicheren Aufenthaltsstatus und die entsprechende Judikatur verwiesen, z. B. Ra 2019/18/0049."

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung an. Er stammt aus der Stadt Kabul, wo er die Schule besuchte und außerdem im Lebensmittelgeschäft seines Vaters mitarbeitete.

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

Die von der beschwerdeführenden Partei behauptete Bedrohung in Afghanistan durch den Kriegsherrn XXXX wegen dessen Suche nach Tanz- und Lustknaben (bacha bazi) kann mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden.

Zur Rückkehrsituation der beschwerdeführenden Partei wird Folgendes festgestellt:

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Insbesondere ist im Herkunftsstaat in mehreren Landesteilen die Sicherheitslage ausreichend und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet, z. B. in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Scharif.

Die beschwerdeführende Partei ist 19 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Er arbeitete bereits als Jugendlicher im Lebensmittelgeschäft seines Vaters mit und auch in Österreich stellte er durch seine Ausbildungserfolge seine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit unter Beweis.

Die beschwerdeführende Partei hat mehrere nahe Angehörige in Kabul, die ihn unterstützen können, nämlich seinen Vater, seine Mutter, einen Bruder, zwei Schwestern und einen Onkel.

Zum Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei reiste im April 2015 illegal nach Österreich ein und hält sich seither viereinhalb Jahre aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet auf.

Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich kein Familienleben, sondern nur ein Privatleben. Er besuchte von Oktober 2015 bis Juli 2016 ein Gymnasium und von 2016 bis 2017 eine Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe (HBLW). Die beschwerdeführende Partei erwarb im Jahr 2016 das ÖSD Zertifikat A2, absolvierte in der Folge noch mehrere andere Kurse und trat im Oktober 2019 zur B1-Prüfung an, worüber es noch kein Zeugnis gibt. Auch in der Verhandlung, die größenteils auf Deutsch geführt werden konnte, demonstrierte die beschwerdeführende Partei sehr gute aktive und passive mündliche Deutschkenntnisse auf B1-Niveau. Im September 2019 begann er eine Ausbildung für Sozialbetreuungsberufe und Altenarbeit. Außerdem hat die beschwerdeführende Partei in Österreich viele Freunde gewonnen. Die beschwerdeführende Partei stand noch nicht in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und ist nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bezieht laufend Leistungen der Grundversorgung, zeitweise verrichtete er gemeinnützige Arbeiten. Die beschwerdeführende Partei ist strafgerichtlich unbescholten.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

"Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 29.06.2018

Kurzinformation vom 22.1.2019 ...

Bei einem Anschlag auf einen Stützpunk des afghanischen Sicherheitsdienstes (NDS, National Directorate of Security) in der zentralen Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) kamen am 21.1.2019 zwischen zwölf und 126 NDS-Mitarbeiter ums Leben (TG 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019). Quellen zufolge begann der Angriff am Montagmorgen, als ein Humvee-Fahrzeug der U.S.-amerikanischen Streitkräfte in den Militärstützpunkt gefahren und in die Luft gesprengt wurde. Daraufhin eröffneten Angreifer das Feuer und wurden in der Folge von den Sicherheitskräften getötet (TG 21.1.2019; vgl. NYT 21.1.2019). Die Taliban bekannten sich zum Anschlag, der, Quellen zufolge, einer der tödlichsten Angriffe auf den afghanischen Geheimdienst der letzten 17 Jahre war (NYT 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019). Am selben Tag verkündeten die Taliban die Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den U.S.-amerikanischen Vertretern in Doha, Katar (NYT 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019, Tolonews 21.1.2019).

Am Vortag, dem 20.1.2019, war der Konvoi des Provinzgouverneurs der Provinz Logar, Shahpoor Ahmadzai, auf dem Autobahnabschnitt zwischen Kabul und Logar durch eine Autobombe der Taliban angegriffen worden. Die Explosion verfehlte die hochrangigen Beamten, tötete jedoch acht afghanische Sicherheitskräfte und verletzte zehn weitere (AJ 20.1.2019; vgl. IM 22.1.2019).

Des Weiteren detonierte am 14.1.2019 vor dem gesicherten Green Village in Kabul, wo zahlreiche internationale Organisationen und NGOs angesiedelt sind, eine Autobombe (Reuters 15.1.2019). Quellen zufolge starben bei dem Anschlag fünf Menschen und über 100, darunter auch Zivilisten, wurden verletzt (TG 21.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019, RFE/RL 14.1.2019). Auch zu diesem Anschlag bekannten sich die Taliban (TN 15.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019).

Quellen:

AJ - Al Jazeera (20.1.2019): Taliban attack in Afghanistan's Logar kills eight security forces ...;

IM - Il Messaggero (22.1.2019): Afghanistan, sangue sul disimpegno Usa: autobomba dei talebani contro scuola militare, 130 vittime ...;

NYT - The New York Times (21.1.2019): After Deadly Assault on Afghan Base, Taliban Sit for Talks With U.S. Diplomats ...;

Reuters (15.1.2019): Afghan Taliban claim lethal car bomb attack in Kabul ...;

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (14.1.2019): Four Killed, 90 Wounded In Kabul Car-Bomb Attack ...;

TG - The Guardian (21.1.2019): Taliban kill 'more than 100 people' in attack on Afghan military base ...;

TN - The National (15.1.2019): Kabul attack: Taliban Claims truck bomb and warns of more to follow ...;

Tolonews (21.1.2019) US, Taliban Hold Talks In Qatar With Peace Still Distant ...

Kurzinformation vom 23.11.2018 ...

Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt kamen am 20.11.2018 ca. 55 Menschen ums Leben und ca. 94 weitere wurden verletzt (AJ 21.11.2018; vgl. NYT 20.11.2018, TS 21.11.2018, LE 21.11.2018). Der Anschlag fand in der Hochzeitshalle "Uranus" statt, wo sich Islamgelehrte aus ganz Afghanistan anlässlich des Nationalfeiertages zu Maulid an-Nabi, dem Geburtstag des Propheten Mohammed, versammelt hatten (AJ 21.11.2018; vgl. TS 21.11.2018, TNAE 21.11.2018, IFQ 20.11.2018, Tolonews 20.11.2018). Quellen zufolge befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion zwischen 1.000 und 2.000 Personen, darunter hauptsächlich Islamgelehrte und Mitglieder des Ulemarates, aber auch Mitglieder der afghanischen Sufi-Gemeinschaft und andere Zivilisten, in der Hochzeitshalle (AJ 21.11.2018; vgl. LE 21.11.2018, NYT 20.11.2018, DZ 20.11.2018, IFQ 20.11.2018). Gemäß einer Quelle fand die Detonation im ersten Stock der Hochzeitshalle statt, wo sich zahlreiche Geistliche der afghanischen Sufi-Gemeinschaft versammelt hatten. Es ist nicht klar, ob das Ziel des Anschlags das Treffen der sufistischen Gemeinschaft oder das im Erdgeschoss stattfindende Treffen der Ulema und anderer Islamgelehrten war (LE 21.11.2018; vgl. TNAE 21.11.2018). Weder die Taliban noch der Islamische Staat (IS) bekannten sich zum Angriff, der dennoch von den Taliban offiziell verurteilt wurde (LE 21.11.2018; vgl. AJ 21.11.2018, IFQ 20.11.2018).

Am 12.11.2018 kamen bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt ca. sechs Personen ums Leben und 20 weitere wurden verletzt (Tolonews 12.11.2018; vgl. DZ 12.11.2018, ANSA 12.11.2018). Anlass dafür war eine Demonstration in der Nähe des "Pashtunistan Square" im Stadtzentrum, an der Hunderte von Besuchern, darunter hauptsächlich Mitglieder und Unterstützer der Hazara-Gemeinschaft, teilnahmen, um gegen die während des Berichtszeitraums anhaltenden Kämpfe in den Provinzen Ghazni und Uruzgan zu demonstrieren (Tolonews 12.11.2018; vgl. DZ 12.11.2018, KP 12.11.2018). Der IS bekannte sich zum Anschlag (DZ 12.11.2018; vgl. AJ 12.11.2018).

Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul-Stadt kamen am 31.10.2018 ca. sieben Personen ums Leben und weitere acht wurden verletzt (Dawn 1.11.20181; vgl. 1TV 31.10.2018, Pajhwok 31.10.2018). Unter den Opfern befanden sich auch Zivilisten (Pajhwok 31.10.2018; vgl. 1TV 31.10.2018). Die Explosion fand in der Nähe des Kabuler Gefängnisses Pul-i-Charkhi statt und hatte dessen Mitarbeiter zum Ziel (Dawn 1.11.2018; vgl. 1TV 31.10.2018, Pajhwok 31.10.2018). Der IS bekannte sich zum Anschlag (Dawn 1.11.2018, vgl. 1TV 31.10.2018).

Quellen:

1TV (31.10.2018): Suicide attack kills seven outside Kabul prison ...;

AJ - Al Jazeera (21.11.2018): 'Brutal and barbaric': Victims recount horror of Kabul attack ...;

AJ - Al Jazeera (12.11.2018): Kabul: Suicide bomber targets protesters demanding security ...;

ANSA - Agenzia Nazionale Stampa Associata (12.11.2018): Afghanistan: 67 morti in 24 ore ...;

Dawn (1.11.2018): Seven killed in suicide attack near Kabul prison ...;

DZ - Die Zeit (20.11.2018): Mehr als 50 Tote bei Anschlag in Kabul ...;

DZ - Die Zeit (12.11.2018): Mehrere Tote bei Anschlag nahe Anti-Taliban-Demo ...;

IFQ - Il Fatto Quotidiano (20.11.2018): Afghanistan. attacco kamikaze a Kabul durante incontro religioso: almeno 50 morti e 80 feriti gravi ...;

KP - Khaama Press (12.11.2018): Protesters gather near Presidential Palace in Kabul over recent wave of violence ...;

LE - L'Express (21.11.2018): Attentat a Kaboul: la lecture de verset du Coran soudain interrompue. raconte un blesse ...;

NYT - New York Times (20.11.2018): At Leas 55 Killed in Bombing of Afghan Religious Gathering ...;

Pajhwok Afghan News (31.10.2018): Suicide blast in front of Pul-i-Charhi prison leave 6 people dead ...;

SS - Stars and Stripes (20.11.2018): Suicide bomb attack in Kabul kills at least 43. wounds 83 ...;

TNAE - The National (21.11.2018): Kabul reels in grief after wedding hall attack ...;

Tolonews (20.11.2018): Death Toll Rises To 50 In Kabul Wedding Hall Explosion ...;

Tolonews (12.11.2018): Mol Confirms 6 Death In Kabul Explosion ...;

TS - Tagesschau (21.11.2018): Deutschland verurteilt Anschlag in Kabul ...

Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o.D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga, auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o.D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z. B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u. a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (5.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan ...;

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan's Paradoxical Political Party System: A new AAN report ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (12.4.2018): Afghanistan Election Conundrum (6): Another new date for elections ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (25.11.2017): A Matter of Registration: Factional tensions in Hezb-e Islami ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (11.10.2017): Mehwar-e Mardom-e Afghanistan: New opposition group with an ambiguous link to Karzai ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (21.8.2017): The Ghost of Najibullah: Hezb-e Watan announces (another) relaunch ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (4.5.2017): Hekmatyar's Return to Kabul: Background reading by AAN ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (3.5.2017): Charismatic, Absolutist, Divisive: Hekmatyar and the impact of his return ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (22.1.2017): Afghanistan's Incomplete New Electoral Law: Changes and Controversies ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (18.12.2016): Update on Afghanistan's Electoral Process: Electoral deadlock - for now ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President's CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document) ...;

AAN - Afghanistan Analysts Network (o.D.): The 'government of national unity' deal (full text) ...;

AB - Afghan Bios (18.11.2017): Understanding Council of Political Currents of Afghanistan ...;

AB - Afghan Bios (29.5.2017): New National Front of Afghanistan (NNF) ...;

AB - Afghan Bios (15.1.2016): National Congress Party ...;

AE - Afghan Embassy (o.D.): Islamic Republic of Afghanistan, The Constitution of Afghanistan ...;

AJ - Al Jazeera (19.5.2018): Taliban pledge not to target army, police who leave "enemy ranks" ...;

AM - Asia Maior (2015): Afghanistan 2015: the national unity government at work: reforms, war, and the search for stability ...;

BFA Staatendokumentation (7.2016): Dossier der Staatendokumentation, AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur ...;

BFA Staatendokumentation (3.2014): Afghanistan; 2014 and beyond ...;

Casolino, Ugo Timoteo (2011): "Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, PhD thesis, Università degli studi di Tor Vergata - Roma ...;

CRS - Congressional Research Service (13.12.2017): Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy ...;

CRS - Congressional Research Service (12.1.2017): Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy ...;

DW - Deutsche Welle (29.9.2016): Friedensabkommen in Afghanistan unterzeichnet ...;

DW - Deutsche Welle (30.9.2014): Understanding Afghanistan's Chief Executive Officer ...;

DZ - Die Zeit (7.3.2018): Wir sind besiegt ...;

HDN - Hürriyet Daily News (10.6.2018): Taliban agrees to unprecedented Eid ceasefire with Afghan forces ...;

IPU - Inter-Parliamentary Union (27.2.2018): Afghanistan - Meshrano Jirga (House of Elders) ...;

MPI - Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan ...;

NZZ - Neue Zürcher Zeitung (28.2.2018): Die afghanische Regierung macht den Taliban ein konkretes Angebot ...;

NYT - The New York Times (11.3.2018): An Unprecedent Peace Offer to the Taliban ...;

Reuters (7.6.2018): Afghanistan announces ceasefire with Taliban, until June 20 ...;

Reuters (5.6.2018): Afghan President backs suicide bomb fatwa after 14 killed ...;

RFE/RL - Radio Free Europe Radio Liberty (5.6.2018): Ghani Says Kabul Attack 'Against Values Of Islam', Backs Suicide Bomb Fatwa ...;

TD - The Diplomat (24.3.2018): Uzbekistan's Afghanistan Peace Conference: What to Expect ...;

TD - The Diplomat (7.3.2018): A Way Forward for Afghanistan After 2nd Kabul Process Conference ...;

TH - The Hindu (10.6.2018): Taliban agrees to ceasefire during Id ...;

Tolonews (9.6.2018): Taliban Orders Three-Day Eid Ceasefire ...;

Tolonews (7.6.2018): Afghan Govt Announces Ceasefire With Taliban ...;

Tolonews (29.4.2018): Six Wounded in Blast Close to Registration Center ...;

Tolonews (16.4.2018): Taliban Rejects Ghani's Call For Them To Take Part In Elections ...;

Tolonews (11.4.2018): Taliban Discussing Peace Offer, Says Former Member ...;

Tolonews (14.3.2018): Hizb-e-Islami Dismisses Three Senior Members ...;

Tolonews (19.12.2017): Special Interview With Arghandiwal - Head of Hizb-e Islami ...;

TS - Der Tagesspiegel (28.2.2018): Präsident Ghani macht den Taliban ein Friedensangebot ...;

USDOS - U.S. Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Afghanistan ...;

USDOS - U.S. Department of State (15.8.2017): International Religious Freedom Report for 2016 - Afghanistan ...;

USIP - United States Institute of Peace (3.2015): Political Parties in Afghanistan ...

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

...

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

...

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016 ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

...

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und die Luftwaffe sowie verstärkten Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen, gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen, wie der Islamische Staat (IS), verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeitern von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).

Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018).

Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).

Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).

Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).

Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u. a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).

Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u. a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).

Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer und vier Afghanen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster: Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017).

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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