Entscheidungsdatum
06.11.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L504 2225026-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2019, Zl. 161382907-190884580, zu Recht erkannt:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrenshergang
Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte im Zuge einer Sicherungsmaßnahme am 29.08.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Es handelt sich dabei um einen Mann, welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger der Türkei mit muslimischem Glaubensbekenntnis ist und der Volksgruppe der Türken angehört.
Aus dem unbestritten gebliebenen Verfahrensgang des angefochtenen Bescheides ergibt sich Folgendes:
„[…]
Sie gaben an seit kurz nach Ihrer Geburt fast durchgehend im österreichischen
Bundesgebiet aufhältig zu sein. Das genaue Datum Ihrer Einreise kann nicht
festgestellt werden.
- Sie stellten seit 31.03.2009 fortlaufend Anfragen auf Aufenthaltstitel, die Ihnen bis
17.09.2015 gewährt wurden.
- Am 17.05.2017 wurde gegen Sie eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gestartet.
- Am 08.06.2018 wurde gegen Sie ein Aufenthaltsverbot in der Dauer von 5 Jahren
erlassen.
- Mit Bescheid des BFA vom 11.06.2019 wurde Ihr Antrag auf Wiedereinsetzung
abgewiesen.
- Am 29.08.2019 wurden Sie im Zuge einer Sicherungsmaßnahme von Beamten der
LPD Wien einvernommen und gaben zu den Gründen Ihres Antrags auf internationalen
Schutz Folgendes an:
„Mich hat damals niemand gefragt. Meine Eltern lebten schon vor meiner Geburt in
Österreich. Ich wurde nur in der Türkei geboren und war im Anschluss immer in Österreich.
Ich kann mich nicht mal in Türkisch verständigen. Meine ganze Familie ist in Österreich.
Ich habe niemanden und nichts in der Türkei. Ich habe hiermit alle meine Gründe und die
dazugehörenden Ereignisse angegeben, warum ich nach Österreich gereist bin! Ich habe
keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung.
[…]“
Im Zuge der folgenden Einvernahme beim Bundesamt brachte die bP zur Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz Folgendes vor:
„Ich werde in der Türkei nicht verfolgt und habe keine Asylgründe. Ich bin hier in Österreich aufgewachsen.“
Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (I.).
Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (II.).
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (III.).
Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (IV.).
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (V.).
Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (VI.).
Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über Ihren Antrag auf internationalen Schutz komme gem. § 18 Abs 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (VII.).
Gem. § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG werde ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (VIII.).
Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht vorgebracht bzw. glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus allgemeinen Lage im Herkunftsstaat keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Abschiebungshindernisse lägen demnach nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen und wurde daher eine Rückkehrentscheidung verfügt. Die gegenständliche Straffälligkeit der bP würde das angeführte Einreiseverbot und die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigen.
Das Bundesamt traf dabei ua. folgende Feststellungen zur Person:
„[…]
? Zu Ihrer Person:
Ihre Identität steht fest. Sie sind türkischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und
Angehöriger der Volksgruppe der Türken.
Sie sind Ihren Angaben nach seit Ihrer Geburt fast durchgehend im österreichischen
Bundesgebiet aufhältig. Das genaue Datum Ihrer Einreise kann nicht festgestellt werden.
Sie sind in Österreich wiederholt straffällig geworden. Sie wurden rechtskräftig verurteilt.
Im Strafregister der Republik Österreich - geführt von der Landespolizeidirektion Wien -
scheinen folgende Verurteilungen auf:
01) LG KORNEUBURG 62 A XXXX vom 20.10.2000 RK 20.10.2000 PAR
142/2 StGB Freiheitsstrafe 4 Monate Freiheitsstrafe 8 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe Vollzugsdatum 01.10.2001 zu LG KORNEUBURG 62 A
XXXX RK 20.10.2000 Der bedingt nachgesehene Teil der
Freiheitsstrafe wird widerrufen LG KORNEUBURG XXXX vom 20.02.2001
02) LG KORNEUBURG XXXX vom 20.02.2001 RK 20.02.2001 PAR
127 129/1 U 2 130 15 PAR 146 147/2 StGB Freiheitsstrafe 3 Monate Zusatzstrafe gemäß §§
31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG KORNEUBURG XXXX RK 20.10.2000 Vollzugsdatum 01.10.2001 zu LG KORNEUBURG XXXX
RK 20.02.2001 zu LG KORNEUBURG XXXX RK 20.10.2000
Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 01.10.2001, bedingt, Probezeit 3 Jahre Anordnung der
Bewährungshilfe LG KORNEUBURG XXXX vom 28.09.2001 zu LG
KORNEUBURG XXXX RK 20.02.2001 zu LG KORNEUBURG XXXX
RK 20.10.2000 Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre LG
KORNEUBURG XXXX vom 23.09.2002 zu LG KORNEUBURG XXXX
RK 20.02.2001 zu LG KORNEUBURG XXXX RK 20.10.2000 Aufhebung der Bewährungshilfe LG KORNEUBURG XXXX
vom 10.08.2005 zu LG KORNEUBURG XXXX RK 20.02.2001 zu LG
KORNEUBURG XXXX RK 20.10.2000 Aus der Freiheitsstrafe
entlassen, endgültig Vollzugsdatum 01.10.2001 LG KORNEUBURG XXXX vom
18.12.2006
03) LG KORNEUBURG XXXX vom 23.09.2002 RK 27.09.2002 PAR 127 129/1
StGB Freiheitsstrafe 6 Monate Vollzugsdatum 17.12.2002 zu LG KORNEUBURG XXXX
RK 27.09.2002 Rest der Freiheitsstrafe nachgesehen, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Beginn
der Probezeit 17.12.2002 gemäß Entschließung des Bundespräsidenten vom 12.12.2002
Erlass des BMVRDJ Zahl XXXX JUSTIZANSTALT KORNEUBURG 19638 vom
16.12.2002 zu LG KORNEUBURG XXXX RK 27.09.2002 Rest der Freiheitsstrafe
nachgesehen, endgültig
Vollzugsdatum 17.12.2002 LG KORNEUBURG XXXX vom 15.03.2006
04) LG KORNEUBURG XXXX vom 22.07.2008 RK 28.07.2008 PAR 27 ABS 1/1
(7.8. FALL) U ABS 3 SMG PAR 15 146 PAR 107/1 StGB PAR 27 ABS 1/1 (1.2. FALL) SMG
Datum der (letzten) Tat 28.06.2008 Freiheitsstrafe 8 Monate Vollzugsdatum 28.02.2009
05) BG GAENSERNDORF XXXX vom 17.09.2008 RK 06.11.2008 PAR 50 ABS 1/2
WaffG Datum der (letzten) Tat 01.11.2006 Freiheitsstrafe 1 Woche, bedingt, Probezeit 3
Jahre Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG KORNEUBURG
XXXX RK 28.07.2008 Vollzugsdatum 06.11.2008 zu BG GAENSERNDORF 7 U
XXXX RK 06.11.2008 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum
06.11.2008 BG GAENSERNDORF XXXX vom 14.05.2012
06) LG F.STRAFS.WIEN XXXX vom 16.05.2011 RK 19.05.2011 PAR 223/2 224
StGB Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre Vollzugsdatum 19.05.2011 zu
LG F.STRAFS.WIEN XXXX RK 19.05.2011 Probezeit verlängert auf insgesamt
5 Jahre BG GAENSERNDORF XXXX vom 17.10.2012 zu LG F.STRAFS. XXXX
RK 19.05.2011 (Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig Vollzugsdatum
19.05.2011 LG F.STRAFS.WIEN XXXX vom 02.01.2017
07) BG GAENSERNDORF XXXX vom 17.10.2012 RK 23.10.2012 § 125 StGB
Datum der (letzten) Tat 31.03.2012 Geldstrafe von 80 Tags zu je 4,00 EUR (320,00 EUR) im
NEF 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe Vollzugsdatum 17.07.2014
08) LG KORNEUBURG XXXX vom 19.06.2013 RK 25.06.2013 § 146 StGB Datum
der (letzten) Tat 18.12.2012 Freiheitsstrafe 3 Monate Vollzugsdatum 31.07.2019
09) BG GAENSERNDORF XXXX vom 27.04.2016 RK 07.03.2017 § 198 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 26.04.2016 Freiheitsstrafe 6 Wochen Vollzugsdatum 21.09.2017
10) LG F.STRAFS.WIEN XXXX vom 16.10.2017 RK 16.03.2018 § 50 (1) Z 3
WaffG §§ 223 (2), 224 StGB § 229 (1) StGB § 136 (1) StGB Datum der (letzten) Tat 17.04.2017
Freiheitsstrafe 8 Monate Vollzugsdatum 01.05.2019
? zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftslandes:
Sie haben weder bei Ihrer Erstbefragung bei der LPD Wien noch bei Ihrer Einvernahme im
BFA Asylgründe in Ihrem Herkunftsstaat Türkei geltend gemacht.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass Sie in der Türkei asylrelevanter Verfolgung oder
Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt waren bzw. sind oder
Sie pro futuro asylrelevante Verfolgung in der Türkei ausgesetzt sein werden.
Es können keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass Sie Gefahr
liefen, in der Türkei einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw.
einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.
? zu Ihrer Situation im Fall der Rückkehr:
Sie sind im arbeitsfähigen Alter und haben in Österreich als Koch gearbeitet.
Sie sprechen die Landessprache der Türkei.
Festgestellt wird, dass im Entscheidungszeitpunkt Ihre Zurückweisung, Zurück- oder
Abschiebung in die Türkei keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK
oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für Sie als Zivilperson eine
ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im
Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen könnte.
Eine Rückkehr in die Türkei ist für Sie möglich. Es gibt keine Gründe, die gegen eine Rückkehr
ihrerseits in die Türkei sprechen. Es ist Ihnen zuzumuten, dass Sie sich in der Türkei den
Lebensunterhalt durch eigene Arbeit und gegebenenfalls Unterstützung Ihrer Familie sichern.
Sie werden auch in Österreich von Ihrem Vater und einem Bruder finanziell unterstützt.
? zu Ihrem Privat- und Familienleben:
Entsprechend Ihren eigenen Angaben lebt Ihre Kernfamilie in Österreich.
Sie leben in Österreich in einer Lebensgemeinschaft mit einer slowakischen Staatsbürgerin.
Sie sind nicht verheiratet. Sie sind für 4 minderjährige Kinder unterhaltspflichtig.
Außer Ihrer hier ansässigen Familie konnten Sie keine Integration in Österreich geltend
machen. Sie sind in Österreich mehrfach straffällig geworden, gehen seit mehr als 10 Jahren
keiner Beschäftigung nach, sind kein Vereinsmitglied und nicht ehrenamtlich tätig.
Wie eine am 01.10.2019 getätigte Abfrage des Hauptverbands der österreichischen
Sozialversicherungsträger zeigt, gingen Sie zuletzt im März 2009 einer angemeldeten
Berufstätigkeit nach. Sie waren mehrmals unsteten Aufenthalts im Bundesgebiet.
? zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes
Sie wurden in Österreich mehrfach straffällig und rechtskräftig verurteilt.
Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung
und Sicherheit dar.
[…]“
Dagegen wurde seitens der bP durch ihre gewillkürte Vertretung innerhalb offener Frist gegen die Spruchpunkte III.- VIII. Beschwerde erhoben. Die Spruchpunkte I. und II. wurden somit rechtskräftig und sind nicht Gegenstand dieser Beschwerde. Moniert wird im Wesentlichen, dass
? es das Bundesamt unterlassen habe sich mit der konkreten Rückkehrsituation des Beschwerdeführers zu befassen; die beschwerdeführende Partei habe in der Türkei keine familiären und sozialen Anknüpfungspunkte;
? die beschwerdeführende Partei die Türkei als Kleinkind verlassen habe und seither im Bundesgebiet lebe; die gesamte Kernfamilie würde in Österreich wohnen;
? es das Bundesamt unterlassen habe hinsichtlich der Intensität des Familienlebens konkrete Ermittlungen zu tätigen;
? das Bundesamt unterlassen habe sich mit der Situation der minderjährigen Kinder auseinanderzusetzen; die beschwerdeführende Partei habe vier minderjährige Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren im Bundesgebiet, mit welchen er – obwohl er mit der Mutter der gemeinsamen Kinder, eine slowakische Staatsbürgerin, nicht mehr in einer Beziehung lebe – mindestens einmal die Woche Kontakt habe und betreue diese auch in der Ferienzeit über längere Zeit;
? die beschwerdeführende Partei sich in der Türkei nicht einmal auf Türkisch verständigen könne;
? es die Behörde unterlassen habe sich damit auseinanderzusetzen ob die beschwerdeführende Partei die Unterstützung der Familie auch im Ausland erlangen könne;
? die Behörde unterlassen habe sich hinsichtlich der Möglichkeit in der Türkei einen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu sichern; die Beschwerdeführende Partei habe nämlich keine abgeschlossene Ausbildung und spreche auch die türkische Sprache nicht fließend;
? aus den Länderberichten gehe hervor dass die Arbeitslosigkeit ein gravierendes Problem bleibe
Der Verwaltungsakt langte samt Beschwerde (AS 1-199) am 05.11.2019 bei der zuständigen Geschäftsabteilung des BVwG ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde Beweis erhoben.
1. Feststellungen (Sachverhalt)
Das BFA hat im angefochtenen Bescheid die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes für die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot unterlassen und ergibt sich dieser auch nicht aus dem Inhalt des Verwaltungsaktes. Eine ergänzende Einvernahme der bP und jedenfalls eine zeugenschaftliche Einvernahme der Mutter der gemeinsamen 4 Kinder sind erforderlich. Weiters bedarf es einer Herbeischaffung der verfahrensgegenständlichen 10 Gerichtsurteile und eine Auseinandersetzung mit den wesentlichen Punkten im Bescheid.
2. Beweiswürdigung
Der für diese Entscheidung maßgebliche Sachverhalt ergibt sich daraus zweifelsfrei.
3. Rechtliche Beurteilung
§ 28 VwGVG
(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
(4) Hat die Behörde bei ihrer Entscheidung Ermessen zu üben, hat das Verwaltungsgericht, wenn es nicht gemäß Abs. 2 in der Sache selbst zu entscheiden hat und wenn die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder abzuweisen ist, den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
(5) Hebt das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid auf, sind die Behörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.
(6) [….]
(7) [….]
(8) [….]
Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG 2014 bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
Ergänzend zu obigen Ausführungen ist aber auch die jüngste Judikatur des EuGH zu erwähnen, der in seinem Urteil vom 14.6.2017, C-685 EU:C:2017:452 sich ua. mit der Frage, ob nationale Bestimmungen, welche dem Verwaltungsgericht die amtswegige Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts (anstelle der Behörde) – bei entsprechender Untätigkeit der Behörde - der in der europarechtlichen Judikatur geforderten Objektivität bzw. Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Gerichts entgegenstehen.
Nach seiner Ansicht können die Gerichte nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C 390/12, EU:C:2014:281) diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben.
Der EuGH führte weiter aus, dass die Art. 49 und 56 AEUV, wie sie insbesondere im Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C 390/12, EU:C:2014:281), ausgelegt wurden, im Licht des Art. 47 der Charta dahin zu interpretieren sind, dass sie einer nationalen Verfahrensregelung, nach der in Verwaltungsverfahren das Gericht, bei der Prüfung des maßgeblichen Sachverhalts die Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache von Amts wegen zu ermitteln hat, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung nicht zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht eine entsprechende Prüfung durchführen kann. Hinsichtlich des Rechts nach Art. 47 Abs. 2 der Charta auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht umfasst der Begriff der „Unabhängigkeit“, die der Aufgabe des Richters innewohnt, nämlich zwei Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteilens ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreite gefährden könnten (Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C?222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der „Unparteilichkeit“ in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C?222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was das Zusammenspiel zwischen der den nationalen Gerichten nach dem nationalen Recht obliegenden Pflicht, in den bei ihnen anhängigen Rechtssachen den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, und dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C?390/12, EU:C:2014:281), anbelangt, ist in den Rn. 50 bis 52 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen worden, dass die nationalen Gerichte nach dem Unionsrecht eine Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird, auf der Grundlage der Beweise vornehmen müssen, die die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats vorgelegt haben.
Diese Gerichte können nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie – wie die Generalanwältin in den Nrn. 51 bis 56 und 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat – nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C?390/12, EU:C:2014:281), diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben.
Die Ausführungen des EuGH beziehen sich zwar auf ein Verwaltungsstrafverfahren, sie sind nach ho. Ansicht in ihren sich daraus ergebenden Grundsätzen zu der Rolle des Verwaltungsgerichtes im Verhältnis zu jener der ermittelnden Behörde jedoch auch im gegenständlichen Fall anwendbar.
Im Lichte einer GRC-konformen Interpretation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen, wonach das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden hat, finden diese demnach jedenfalls dort ihre Grenze, wenn das Gericht an die Stelle der zuständigen belangten Behörde zu treten hätte, der es eigentlich obliegt, dem Gericht die Beweise, iSd Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts, vorzulegen. Wird diese Grenze überschritten ist das Gericht ermächtigt – wenn nicht sogar iS obiger, vom EuGH aufgezeigter Grundsätze verpflichtet - eine kassatorische Entscheidung iSd § 28 Abs. 3 VwGVG zu treffen.
Fallbezogen ergibt sich Folgendes:
Richtig zitierte das Bundesamt die maßgebliche Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen ist und aufgrund konkreter Feststellungen eine Gefährlichkeitsprognose vorzunehmen ist. Bei dieser Beurteilung kommt es nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder des Vorliegens der sonstigen genannten Tatbestandsvoraussetzungen an, sondern auf „das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild“ (Verwaltungsgerichtshof 19. Februar 2013,2 1012/18/0230).
Im konkreten Fall belässt es das Bundesamt hier aber nur bei der Zitierung der Judikatur, ohne diese mit Sachverhaltssubstrat auszufüllen. Im Folgenden reiht die Behörde nur die Daten der 10 Verurteilungen aneinander. Welches Verhalten die bP bei diesen einzelnen Straftaten konkret gesetzt hat und letztlich zur Verurteilung führte bzw. welches Persönlichkeitsbild daraus ableitbar ist, lässt sich weder aus dem angefochtenen Bescheid noch aus dem von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakt entnehmen.
Richtigerweise führt die belangte Behörde in der Begründung weiters aus, dass bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes sich die Behörde nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen zurückziehen könne, sondern sei insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (Verwaltungsgerichtshof 7. November 2000 12,2 1012/18/0057).
Zu dieser Intensität der familiären Beziehungen, insbesondere zu den minderjährigen Kindern aber auch zur Lebensgefährtin und sonstigen Angehörigen, mangelt es an hinreichenden Ermittlungen, um eine ausreichende Basis für die Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes bzw. Beurteilung der Auswirkungen der Rückkehrentscheidung, insbesondere für die Vater-Kind Beziehung, zu haben bzw. inwiefern bisher ein Kontakt stattfand und ob bzw. inwieweit danach ein Kontakt der Kinder zu ihrem Vater möglich wäre. Zum dabei bei der Rückkehrentscheidung als auch bei der Bemessung des Einreiseverbotes grds. zu berücksichtigenden Kindeswohl vgl. zB VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0128-6.
Das Bundesamt hat nunmehr in Entsprechung der zitierten Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts eine ergänzende Einvernahme der bP zu den privaten und familiären Anknüpfungspunkten, insbesondere in Bezug auf die Lebensgefährtin und die 4 gemeinsamen Kinder vorzunehmen. Weiters wird für erforderliche erachtet, dass iSd Erforschung der materiellen Wahrheit diesbezüglich auch die zeugenschaftliche Einvernahme der Mutter bzw Lebensgefährtin der gemeinsamen 4 Kinder notwendig ist.
Weiters hat die Behörde nunmehr die von ihr zur Beurteilung herangezogenen 10 Urteile herbeizuschaffen und im Bescheid nachvollziehbar das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild darzustellen.
Wie die Ausführungen zeigen, wurde der maßgebliche Sachverhalt vom BFA nicht festgestellt. Dieser ist weder dem gegenständlich angefochtenen Bescheid, noch dem vorliegenden Akteninhalt zu entnehmen. Das BFA hat dadurch, dass wesentliche Punkte nicht ausreichend berücksichtigt wurden, essentielle Ermittlungen unterlassen, weswegen im gegenständlichen Fall entsprechend der Rechtsprechung des VwGH zu § 28 Abs. 3 VwGVG (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) davon auszugehen ist, dass genau solch gravierende Ermittlungslücken vorliegen, die zur Zurückweisung an die Verwaltungsbehörde (BFA) berechtigen, zumal die gegenständlichen Rechtsfragen nicht abschließend beurteilt werden können, ohne sich mit dem gesamten entscheidungsrelevanten Sachverhalt auseinandergesetzt zu haben.
Da im gegenständlichen Fall das den Kern des Vorbringens betreffende Ermittlungsverfahren vor das Bundesverwaltungsgericht verlagert wäre, käme dies einer Delegation des Verfahrens an das BVwG gleich. Es liegt auch nicht auf der Hand, dass die Ermittlungen und Entscheidung in der Sache durch das Bundesverwaltungsgericht rascher durchgeführt werden könnten oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wären.
Das BFA hat somit die aufgezeigten Mängel zu beheben bzw. den maßgeblichen Sachverhalt in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren festzustellen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und der Bescheid hinsichtlich der Spruchpunkt V. und VIII. aber auch die damit in rechtlichem Konnex stehenden Spruchpunkte III., IV. und VII. gemäß § 28 Abs 3 VwGVG an das BFA zurückzuverweisen.
Auf Grund gegebener Deutschkenntnisse konnte eine Übersetzung von Spruch und Rechtsmittelbelehrung entfallen.
Entfall einer Verhandlung
Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war, worunter nach hL auch eine Kassation des Bescheides subsumiert werden kann (vlg. Hengstschläger/Leeb, AVG Kommentar, Rz 22 zu §67d).
Schlagworte
Einreiseverbot Einvernahme Ermittlungspflicht Gefährlichkeitsprognose Kassation Kindeswohl mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und Familienleben Rückkehrentscheidung Straffälligkeit strafgerichtliche VerurteilungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:L504.2225026.1.00Im RIS seit
14.09.2020Zuletzt aktualisiert am
14.09.2020