Entscheidungsdatum
04.05.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2142864-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Benno Wageneder, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2016, Zahl 1051937600-150172297, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.03.2020 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 14.02.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 15.02.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Traiskirchen, Erstaufnahmestelle (EAST), gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX , Distrikt Ghizab, Provinz Uruzgan, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er habe fünf Jahre die Grundschule besucht. Er sei mit seiner Mutter, seinem Bruder und vier Schwestern in diesem Jahr zum Onkel mütterlicherseits in den Iran gezogen, nur sein Vater sei in Afghanistan zurückgeblieben.
Der BF machte recht genaue Angaben zu seiner Reise.
Als Fluchtgrund gab er an, dass sein Vater beim Glückspiel viel Geld an einen Paschtunen verloren habe, der daraufhin seine Schwester XXXX mitgenommen habe. Der BF sei zu diesem Paschtunen gegangen und habe seine Schwester befreit, indem er dem Paschtunen einen Stein gegen den Kopf geschlagen habe. Dann sei die Familie in den Iran geflüchtet. Warum ihn sein Onkel nun nach Österreich geschickt habe, wisse er nicht.
1.3. Das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Urfahr vom 09.07.2015 mit der Obsorge für den damals minderjährigen BF betraut und übertrug diese am 30.03.2016 der NGO SOS Menschenrechte.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 28.09.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein einer Vertrauensperson des BF und eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen Folgendes an:
Er nannte sein Geburtsdatum sowohl nach afghanischem, als auch nach gregorianischem Kalender. Er könne keine Tazkira (afghanisches Personaldokument) vorlegen, da sich diese in Afghanistan befinde und er dort niemanden mehr habe.
Der BF schilderte die Umstände seiner Flucht aus Afghanistan und seine Lebensumstände in Afghanistan und im Iran. Seine Reise nach Europa habe sein Onkel oder sein Vater organisiert.
Auf Befragung schilderte der BF sein Fluchtvorbringen betreffend die im Glückspiel verlorene und vom BF befreite Schwester näher. Er sei auf Bitten seiner Mutter zu dem Paschtunen gegangen. Der BF schilderte die Umstände, als er dem Paschtunen mit einem Stein auf den Kopf geschlagen habe. Die Frau des Paschtunen habe ihn dabei mit dem Messer verletzt. Dann sei die Familie schnellstens geflohen.
Nähere Fragen zu dem angegebenen Vorfall beantwortete der BF. Ob der Paschtune noch lebe, wisse er nicht.
Der BF gab an, er besuche in Österreich regelmäßig eine Gesprächstherapie, und legte mehrere Belege für seine Integrationsbemühungen vor (Teilnahmebestätigungen Lesewettbewerb, Deutschkurs, Schulbesuch Realgymnasium, Deutschzertifikat B1, mehrere Empfehlungsschreiben).
Dem BF wurden "die aktuellen Länderinformationsblätter zu Afghanistan" ausgehändigt und eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt.
1.5. Mit Schreiben seines damaligen Vertreters vom 05.10.2016 nahm der BF Stellung und verwies auf Berichte von UNHCR und diverser Medien. Die Lage in Afghanistan sei insbesondere für minderjährige Personen und für Angehörige der Volksgruppe der Hazara so gefährlich, dass der BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzbedrohende ausweglose Notlage geraten würde, zumal er aufgrund seiner psychischen Situation in Österreich seit 16.06.2016 wöchentlich psychotherapeutisch behandelt werde (eine Bestätigung darüber wurde vorgelegt).
Mit Schreiben vom 23.11.2016 legte der BF eine Bestätigung über seine Bemühungen zum Nachholen eines positiven Pflichtschulabschlusses vor.
1.6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 29.11.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 14.02.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seinen angegebenen Fluchtgrund beurteilte das BFA als unglaubhaft und begründete dies mit mehreren angeführten Unplausibilitäten und Unstimmigkeiten (etwa sei es unwahrscheinlich, dass der BF genau in jenem Moment in das Haus des Paschtunen eingetreten sei, als dieser gerade auf die Schwester des BF eingeschlagen habe, u.a.m.).
Die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz begründete das BFA im Wesentlichen damit, dass der BF ein gesunder, volljähriger und arbeitsfähiger junger Mann sei und ihn zudem sein Onkel, der ihm bereits bei seiner Reise nach Europa behilflich gewesen wäre, unterstützen könne, auch wenn er nicht in Afghanistan lebe.
1.7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigen Rechtsberaters vom 15.12.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und "infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die beweiswürdigenden Ausführungen des BFA großteils bloß auf Mutmaßungen beruhten und daher willkürlich getroffen erschienen.
Der BF gehöre der Volksgruppe der Hazara und dem schiitischen Glauben an. Er sei kurz vor Erlassung des Bescheides noch in jugendlichem Alter gewesen und bedürfe psychotherapeutischer Behandlung. Seine Familienangehörigen befänden sich zwischenzeitlich im Iran, auch in Kabul habe er kein soziales Netzwerk.
Dem BF hätte daher Asyl, jedenfalls aber zumindest subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen.
1.8. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor und beantragte nicht, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
1.9. Mit Schreiben seines damaligen Vertreters vom 03.07.2017 erstattete der BF eine Beschwerdeergänzung und teilte mit, dass er seit 10.12.2016 den Glaubensunterricht der Stadtpfarre Linz besuche, da er beabsichtige, zum römisch-katholischen Glauben zu konvertieren.
Der Eingabe lagen eine Bestätigung der Stadtpfarre Linz darüber vom 14.01.2017, weitere Belege betreffend die Integrationsbemühungen des BF (Pflichtschulabschlusskurs, Ausbildung zum Rettungssanitäter beim Samariterbund) sowie eine Vielzahl von diversen Berichten zu Afghanistan bei.
Mit Schreiben vom 23.10.2017 wurde eine Bestätigung über den Besuch einer Bundesfachschule für Informationstechnik im Schuljahr 2017/18 vorgelegt.
Mit Schreiben vom 19.12.2017 wurde eine Einstellungszusage eines Gastronomiebetriebes für den BF vorgelegt.
Mit E-Mail vom 11.01.2018 legte der BF seinen Taufschein der Stadtpfarre Linz vom 18.11.2017 vor.
Mit Schreiben vom 14.03.2018 legte der BF eine Schulnachricht vom 16.02.2018 bezüglich seines Besuchs einer Höheren technischen Bundeslehranstalt für das Schuljahr 2017/18 vor.
1.10. Das BVwG beraumte für 09.03.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an.
Mit vorbereitenden Schriftsätzen teilte der nunmehrige anwaltliche Vertreter des BF seine Bevollmächtigung mit. Der BF legte eine Bestätigung über die Aufnahme eines Lehrverhältnisses als Elektrotechniker, Hauptmodul: Anlagen- und Betriebstechnik ab 01.09.2018 sowie ein Referenzschreiben seines Lehrherrn vom 30.01.2020 vor.
Das BFA übermittelte dazu dem BVwG eine Kopie eines Schreibens an den BF, mit dem diesem mitgeteilt wurde, dass für den Fall, dass eine Rückkehrentscheidung "erlassen" werde, der Beginn der Frist für die freiwillige Ausreise bis zur Beendigung des Lehrverhältnisses, also voraussichtlich bis 28.02.2022, gehemmt sein werde.
1.11. Das BVwG führte am 09.03.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines Vertreters und dreier Vertrauenspersonen sowie ein Mitarbeiter des BFA erschienen.
Dabei beantwortete der BF Fragen zu seinen Lebensumständen, insbesondere zu seiner Integration in Österreich, zu den Gründen für seine Ausreise aus dem Herkunftsstaat und zu seiner Konversion.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, er habe aufgrund seiner Konversion zum Christentum alle seine afghanischen Freunde - bis auf drei - verloren. Er habe hauptsächlich christliche Freunde, feiere mit ihnen Feste und trinke auch Alkohol (Bier). Er habe sich schon immer nicht als Moslem gefühlt und sei auch nicht beschnitten; er habe dies - obwohl er schon 15 Jahre alt gewesen sei - trotz Zwang verweigert. Der Islam, den er zuhause kennengelernt habe, sei von Anfang an mit Gewalt und Krieg verbunden. In Griechenland habe er zum ersten Mal eine Kirche besucht und sich Gedanken darüber gemacht. Der Hauptgrund der Religion sei Liebe. Jesus habe gesagt, liebe deinen Nächsten wie dich selbst. In Österreich sei er anfangs ein paar Mal mit anderen Asylwerbern mit in die Moschee gegangen, aber dann habe er seine Konversion begonnen.
Der BF beantwortete Fragen des erkennenden Richters und des BFA nach seinen Beweggründen und seinem Wissen bezüglich des Christentums und konnte darlegen, wie er sich in einer Kirche verhält und wie er etwa das "Vater Unser" betet.
Auszug aus der Verhandlungsschrift:
"BF: Mittwochs oder freitags besuche ich eine Jugendkirche, dort sind österreichische Jugendliche, und wir sehen uns einen Film an und/oder diskutieren. In dieser Jugendkirche lesen wir auch in der Bibel oder kochen zusammen. Wenn das Wetter schön ist, gehen wir auch nach draußen. Wir suchen uns manchmal ein Thema aus der Bibel aus und diskutieren es."
Auch die als zusätzliches Auskunftsmittel gemäß § 46 AVG befragten anwesenden Vertrauenspersonen, die den BF gut kennen, bestätigten auf Nachfrage des Richters die Angaben des BF, seine Ernsthaftigkeit der Religionsausübung und führten dies näher aus.
Auch zu seinem ursprünglich angegebenen Fluchtgrund wurde der BF von BFA und Richter befragt und machte dazu im Wesentlichen mit seinen bisherigen Aussagen übereinstimmende Angaben.
Belege bezüglich seiner Gesundheit oder seines ursprünglichen Fluchtvorbringens legte der BF nicht vor.
Das BFA führte abschließend aus, dass der BF in Afghanistan keiner asylrelevanten Verfolgung im Sinne des GFK ausgesetzt sei. Insbesondere sei auch eine Konversion, der innere Entschluss für den Übertritt zum Christentum, nicht ersichtlich. Aus Sicht des BFA sei dies aus asyltaktischen Gründen vorgebracht worden, nachdem der BF einen negativen Asylbescheid erhalten hatte. In Bezug auf die Rückkehrsituation des BF sei anzuführen, dass es sich beim BF um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt. Er habe in Afghanistan fünf Jahre lang die Schule besucht. In Österreich stehe er in einem aufrechten Lehrverhältnis. Aus Sicht des BFA sei eine Rückkehr in die laut Länderinformationsblatt als sicher und stabil geltenden Städte Mazar-e Sharif und Herat möglich. Der BF habe in Österreich kein Familienleben. Das Privatleben bestehe seit 14.02.2015. Es werde nicht verkannt, dass der BF in Österreich Integrationsschritte gesetzt habe. Festzuhalten bleibe aber dennoch auch, dass der Aufenthalt des BF durch "illegale" Einreise begründet worden sei und zudem lediglich auf einem unberechtigten Asylantrag beruhe.
Der Vertreter des BF verwies auf die Verhandlungen zwischen US-Regierung und Taliban. Die Zukunft Afghanistans sei vor einem Abkommen zwischen der Regierung Ghani und den Taliban ungewiss, nach seiner Einschätzung dürfte sich aber der Einfluss der Taliban insgesamt erhöhen, damit werde auch das islamistische Element gestärkt.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BF wurde eine Kopie der Verhandlungsschrift ausgefolgt. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 15.02.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 28.09.2016, die vorgelegten Belege zur Konversion des BF sowie zu seinen Integrationsbemühungen, den angefochtenen Bescheid sowie die Beschwerde vom 15.12.2016
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 260 bis 329)
* Einvernahme des BF als Partei sowie Befragung dreier Vertrauenspersonen als zusätzliches Auskunftsmittel gemäß § 46 AVG im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 09.03.2020 sowie Einsichtnahme in weitere im Beschwerdeverfahren vorgelegte Belege und Bestätigungen zur Konversion und zu den Integrationsbemühungen des BF (insbesondere den Taufschein der römisch-katholischen Stadtpfarre Linz vom 18.11.2017)
*
Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und in der Provinz Uruzgan, zur Religionsfreiheit und zur Lage der Hazara (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, bekannte sich früher zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam und bekennt sich nunmehr zum römisch-katholischen Christentum. Er hat fünf Jahre die Grundschule besucht. Die Muttersprache des BF ist Dari, in Österreich hat er auch etwas Farsi, Englisch und recht gut Deutsch (B1) gelernt.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF stammt aus XXXX , Distrikt Ghizab, Provinz Uruzgan, Afghanistan. Er ist im Jahr 2014 aus angegebenen Gründen mit seiner Mutter, seinem Bruder und vier Schwestern zum Onkel mütterlicherseits in den Iran gezogen, nur sein Vater blieb anfangs in Afghanistan zurück und kam später nach.
3.1.3. Der BF tätigt außerordentliche Anstrengungen um seine Integration in Österreich. Er hat eine Ausbildung als Rettungssanitäter beim Samariterbund gemacht und mehrere Schulen besucht (Bundesfachschule, Realgymnasium, HTL) und steht seit 01.09.2018 in einem Lehrvertrag als Elektrotechniker, Hauptmodul Anlagen- und Betriebstechnik. Er hat zahlreiche soziale Kontakte und betreibt Sport.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF verließ seinen Herkunftsstaat wegen angegebener Probleme (sein Vater hätte beim Glücksspiel mit einem Paschtunen diesem seine Tochter XXXX ausfolgen müssen, die der BF mit Gewalt befreit hätte). Die Familie sei hernach in den Iran zum Onkel mütterlicherseits geflüchtet, der Vater sei einige Zeit später nachgekommen.
Dann reiste der BF über angegebene weitere Länder bis nach Österreich, wo er am 14.02.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.2.2. In Österreich wurde der BF nach über zehnmonatiger Vorbereitungszeit am 18.11.2017 in der römisch-katholischen Stadtpfarre Linz christlich getauft.
Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner Konversion vom Islam zum Christentum von anderen Personen getötet zu werden, weil er nach der dort allgemein vorherrschenden Ansicht als Moslem nicht die Religion wechseln hätte dürfen. Der BF ist jedoch gewillt, auch im Fall der Rückkehr seinen christlichen Glauben offen und nach außen hin erkennbar auszuüben, seine Konversion zum Christentum nicht zu widerrufen und nicht wieder zum Islam überzutreten.
Der BF hatte schon in Afghanistan Zweifel am moslemischen Glauben und ließ sich nicht beschneiden. In Griechenland kam er erstmals mit dem Christentum in Kontakt. In Österreich nahm er ab 10.12.2016 am persischsprachigen Glaubensunterricht der Stadtpfarre Linz teil und wurde am 14.01.2017 in den Katechumenat aufgenommen.
Der BF besucht seither regelmäßig ca. einmal wöchentlich den Gottesdienst. Mittwochs und freitags besucht er oft die Jugendkirche mit österreichischen Jugendlichen, wo sowohl religiöse (Bibelstellenbesprechungen) als auch soziale Aktivitäten gesetzt werden.
Der BF konnte seinen in Österreich gesetzten Nachfluchtgrund glaubhaft darlegen.
3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist oder nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
3. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
[...]
Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
[...]
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
[...]
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) - Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LW 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Berichten zufolge besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.02.2019; vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.09.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.09.2017; AAN 19.02.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.02.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.06.2019; vgl. CSR 12.02.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte, die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.07.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.02.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.01.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.06.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.02.2019; vgl. UNAMA 24.02.2019; AAN 24.02.2019; CTC 12.2018; UNGASC 07.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.02.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.02.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.07.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CSR 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.01.2019).
[...]
3.1. Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
[...]
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.03.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den "jüngsten Einwanderern" (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölk