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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z12Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache der X Y in Z, vertreten durch MMag.a Marion Battisti, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Februar 2020, I403 2180466-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die im Jänner 1999 geborene Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Nigerias, stellte am 19. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Sie brachte vor, ihre Eltern seien im Jahr 2014 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Nach dem Tod ihrer Großmutter habe sie ihr Heimatland verlassen.
2 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 17. November 2017 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht, das eine Verhandlung durchgeführt hatte, die Beschwerde, soweit sie sich gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides, womit der Revisionswerberin die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten verweigert wurde, wendete, als unbegründet ab. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. gab das Bundesverwaltungsgericht statt, erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine auf die Dauer eines Jahres befristete Aufenthaltsberechtigung. Die übrigen Spruchpunkte des bekämpften Bescheides behob das Bundesverwaltungsgericht ersatzlos.
4 Die Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass die Revisionswerberin zwar glaubhaft dargelegt habe, dass sie Opfer von „Menschenhandel und sexueller Ausbeutung“ geworden sei. Es könne aber nicht davon ausgegangen werden, dass Frauen und Mädchen in Nigeria generell dem Risiko unterlägen, Opfer von Frauenhandel zu werden. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass nach Nigeria zurückkehrende Opfer von Frauenhandel „automatisch der Verfolgung durch jene Menschenhändler“ ausgesetzt wären, die sie nach Europa gebracht hätten. Im Fall der Revisionswerberin könne eine Vergeltungshandlung nicht ausgeschlossen werden, weil das Menschenhandelsnetzwerk mit der Mutter der Revisionswerberin in Kontakt gewesen sei. Die Revisionswerberin habe aber nie von einer Bedrohung der Mutter berichtet. Auch liege die Anwerbung durch und die Flucht vor der Menschenhändlerin bereits fünf Jahre zurück. Manche Rückkehrerinnen bekämen Probleme, aber nicht alle. Eine Beurteilung der Gefährdung durch Vergeltungsmaßnahmen sei schwierig. Grundlegend stelle sich aber die Frage, ob die Revisionswerberin als Mitglied der sozialen Gruppe „der nach Nigeria zurückkehrenden Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und die sich hievon befreit hätten“, angesehen werden könne. Selbst wenn man davon ausgehe, dass diese Frauen als Opfer von Frauenhandel durch ihre sexuelle Ausbeutung einen gemeinsamen Hintergrund aufweisen würden, der nicht verändert werden könne, ergebe sich aus den - vom Bundesverwaltungsgericht dazu getroffenen - Länderfeststellungen, dass eine deutlich abgegrenzte Identität, die dazu führte, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden, nicht vorliege.
5 Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig und begründete dies unter Hinweis auf Judikatur aus anderen europäischen Ländern und Länderberichte zusammengefasst damit, dass keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage vorliege, ob „nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und die sich hievon befreit hätten“, als soziale Gruppe im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen seien.
6 In diesem Sinn wird auch in der Revision geltend gemacht, es fehle Rechtsprechung zur Frage, ob und wenn ja, aufgrund welcher Kriterien nach Nigeria rückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und sich davon befreit hätten, eine soziale Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK darstellten. Weiters fehle Rechtsprechung zur Frage der deutlich abgegrenzten Identität sowie zur Frage, ob diese Frauen einen gemeinsamen Hintergrund hätten, welcher nicht verändert werden könne, und ob eine Verfolgung dieser Gruppe aufgrund geschlechterbezogener Aspekte zu bejahen sei. Zudem fehle Rechtsprechung, ob die beiden in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Weiteren: Status-RL) genannten Kriterien des gemeinsamen Hintergrunds und der deutlich abgegrenzten Identität immer kumulativ vorliegen müssten, oder ob eines dieser Kriterien ausreichend sei.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Auch in der ordentlichen Revision hat der Revisionswerber von sich aus die maßgeblichen Gründe der Zulässigkeit der Revision darzulegen, wenn er der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichtes für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht, oder er andere Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet (vgl. VwGH 10.12.2019, Ro 2018/22/0015, mwN).
11 Soweit die Revision das Fehlen von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Existenz einer - näher bezeichneten - sozialen Gruppe speziell in Bezug auf Nigeria geltend macht, ist ihr zu erwidern, dass eine einheitliche Rechtsprechung zu den hier entscheidungswesentlichen Kriterien vorhanden ist, die für die Prüfung und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe maßgeblich sind, und sich diese nicht als länderspezifisch unterschiedlich darstellen.
12 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, dass glaubhaft ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, mwN).
13 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH folgende Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. erneut VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, mwN).
14 Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 Status-RL). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295).
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem Fall mit Bezug auf rückkehrende Opfer von Menschenhandel in seinem Erkenntnis vom 11. Dezember 2019, Ra 2019/20/0295, auf deren Begründung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, festgehalten, dass es sich bei dem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Asylgrund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ um einen Auffangtatbestand handelt, der sich in weiten Bereichen mit den Gründen „Rasse, Religion und Nationalität“ überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten (vgl. VwGH 20.10.1999, 99/01/0197; 26.6.2007, 2007/01/0479). Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479, mit weiteren Hinweisen, u. a. auf die UNHCR-Richtlinie zum Internationalen Schutz: Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ vom 7. Mai 2002; vgl. weiters VwGH 29.6.2015, Ra 2015/01/0067).
16 Das Bundesverwaltungsgericht ist seiner Pflicht, den vorliegenden Fall im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung zu prüfen, in einer nicht zu beanstandenden Weise nachgekommen. Es traf umfangreiche Feststellungen zur Situation von Frauen in Nigeria, zum Menschenhandel in Nigeria und den davon betroffenen Opfern, zu den staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels sowie zu den staatlichen und nichtstaatlichen Unterstützungsmaßnahmen für Opfer von Menschenhandel und für rückkehrende Frauen. Auf Basis dieser Feststellungen ist das Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar zum Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen, um die Existenz einer sozialen Gruppe bejahen zu können, im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind. Anhand der Ausführungen in der Revision ist nicht zu sehen, dass dem Bundesverwaltungsgericht vorzuwerfen wäre, es hätte sich bei seiner Beurteilung von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien entfernt oder diese in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht. Darauf, dass sich der Verwaltungsgerichtshof zu einem bestimmten Staat oder zu einer von einem Asylwerber als soziale Gruppe geltend gemachten Einheit noch nicht geäußert hat, kommt es nicht entscheidungswesentlich an.
17 Weder vom Bundesverwaltungsgericht noch von der Revisionswerberin werden somit Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 14. August 2020
Gerichtsentscheidung
EuGH 62012CJ0199 VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020140002.J00Im RIS seit
30.09.2020Zuletzt aktualisiert am
30.09.2020