Entscheidungsdatum
23.03.2020Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W177 2138469-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH - ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3.Stock, 1170Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom 17.10.2016, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz "BF"), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 21.07.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er in der Provinz Ghazni geboren worden und er im Heimatland sieben Jahre in die Schule gegangen sei. Er sei ledig und seine Muttersprache sei Dari. Er habe Afghanistan verlassen, weil sein Bruder drogensüchtig gewesen sei und jemanden erstochen habe. Sein Bruder sei verschwunden, weswegen der BF ständig von den Verwandten dieser Person bedroht worden sei. Da man ihn habe töten wollen, sei er aus Afghanistan geflohen. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.
3. Ein am 06.11.2015 erstelltes gerichtsmedizinisches Gutachten zur forensischen Altersschätzung ergab, dass der BF noch minderjährig sei und dieser aufgrund seiner angegebenen Daten mit 01.01.2016 die Volljährigkeit erreichen werde.
4. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz "BFA") am 05.10.2016 gab der BF an gesund zu sein. Er sei schiitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei in Afghanistan geboren worden und stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Ghazni, zuletzt habe er sich dort mit seiner Familie (Vater, Mutter und zwei Brüdern) in einem Haus aufgehalten. Er spreche Dari und ein wenig Paschtu. Zu seiner in Pakistan lebenden Schwester habe er keinen Kontakt. Er habe sieben Jahre in die Schule besucht und seinem Vater nebenbei bei der Landarbeit geholfen. Nach dem Abschluss seiner Schule im Jahr 2012 sei er zusammen mit seiner Familie bis Ende 2014 für 2,5 Jahre illegal in Pakistan gewesen. Seine Familie würde in Afghanistan ein Grundstück besitzen.
In Österreich werde er von der Bundesbetreuung versorgt und gehe keiner Beschäftigung nach. Er werde aber privat unterrichtet.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass in seiner Herkunftsregion die Taliban nahe gewesen seien. Wären Hazara zu den Kontrollpunkten der Taliban gekommen, wären sie getötet worden. Sein Bruder sei drogensüchtig gewesen und habe eines Tages in Pakistan einen seiner Freunde erstochen. Er sei nach der Tat sofort verwunden. Danach hätten ihm Freunde mitgeteilt, dass die Familie des Ermordeten diese Tat rächen wolle. Nach der Rückkehr nach Afghanistan habe die Familie Drohanrufe erhalten. Sein Vater sei bedroht worden und man habe ihm mitgeteilt, er solle seinen Sohn ausliefern, sonst würde sein jüngerer Sohn (Anm.: der BF) getötet werden. Nachdem diese Familie zu ihnen nach Hause gekommen sei und nach ihm und seinem Bruder gefragt habe, sei der BF in den Iran ausgereist. Im Iran habe er Probleme mit seinem Blinddarm bekommen, jedoch habe er dank der Hilfe seines Onkels dort operiert werden können. Nach zwei Monaten habe er den Iran verlassen. Er wisse weder, wie diese Familie heißen würde, noch wisse er, wie diese Personen aussehen würden. Persönlich bedroht sei der BF nie worden. 2012 habe seine Familie Afghanistan verlassen, weil die Taliban die Hazara verfolgt hätten.
Auf Nachfrage, woher die Bedroher die Telefonnummer des Vaters gehabt hätten, vermeinte der BF, dass man in Afghanistan alles kaufen könne und die Polizei korrupt sei. Seine Familie lebe nach wie vor in der Provinz Ghazni. Er selbst würde auch dort leben können, wenn sein Leben nicht in Gefahr wäre. Eine weitere Bedrohung fürchte der BF auch nicht. An einem anderen Ort in Afghanistan könnte der BF nicht leben, weil einerseits die Sicherheitslage schlecht sei, andererseits ihn diese Familie hinter ihm her sei und ihn töten würde, wenn sie ihn finde.
In anderen Staaten habe er keinen Asylantrag gestellt, weil dort entweder die Menschenrechte nicht eingehalten werden würden, er einen Landesverweis bekommen habe oder er vom Land an sich nichts mitbekommen habe. Auch wenn er schon längere Zeit hier lebe, habe es noch nicht die Möglichkeit für ihn gegeben, um Deutsch zu lernen. Er habe aber den Willen dazu. Strenggläubig sei er nicht, er finde die Freiheiten in puncto Religion gut und respektiere Frauen.
5. Mit Bescheid vom 17.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass die belangte Behörde erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF habe, zumal die Angaben zu den Verfolgungshandlungen einer ihm unbekannten Familie sehr vage und oberflächlich gewesen seien und der BF dieses Vorbringen auch mit keinerlei Beweisen habe untermauern können. Auch sei es nicht nachvollziehbar gewesen, dass sich der BF wegen angeblicher Korruption nicht an die Sicherheitsbehörden seines Landes gewandt habe. Eine allgemeine Bedrohung durch die Taliban oder die schlechte Sicherheitslage würden keinen in der GFK genannten Fluchtgrund darstellen.
Eine Rückkehr nach Afghanistan sei auf jeden Fall zumutbar, zumal innerstaatliche Fluchtalternativen vorhanden seien. Da der BF durch zahlreiche sichere Länder gereist sei und dort keinen Asylantrag gestellt habe, vermittelte er den Eindruck, dass er den Asylantrag in Österreich nur gestellt habe, um sich hier unter Umgehung der Aufenthaltsbestimmungen niederzulassen. Diese müsse auch unter Gesichtspunkt gesehen werden, dass die Kosten für die Schleppung auch für eine Neuansiedlung innerhalb des Herkunftsstaates verwendet hätten werden können. Bezüglich des Ausspruches einer Rückkehrentscheidung sei ein Überwiegen der öffentlichen Interessen festzustellen gewesen.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 17.10.2016 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 17.10.2016 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 28.10.2016 beim BFA eingelangte und mit diesem Datum fristgerecht erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass der BF einerseits die Verfolgung aufgrund einer Blutrache glaubwürdig vorgebracht und er als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, mangels Funktionierens eines staatlichen Schutzes, eine asylrechtlich relevante Verfolgung zu gegenwärtigen habe. Ebenso sei zu berücksichtigen gewesen, dass dem BF, aufgrund der in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage und seiner persönlichen Umstände, aber der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren gewesen wäre. In Bezug auf die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen den privaten Interessen des BF überwiegen.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz "BVwG") am 31.10.2016 vom BFA vorgelegt.
9. Mit Schreiben vom 19.02.2020 legte die rechtsfreundliche Vertretung des BF ein Konvolut an Unterlagen vor und beantragte die Einvernahme der Lebensgefährtin des BF als Zeugin, zum Beweis, dass der BF in Österreich ein Familienleben führe.
10. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 27.02.2020 im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung und ein Vertreter der belangten Behörde, persönlich teilnahmen. Eine Zeugin nahm an der Verhandlung ebenfalls teil.
Die rechtsfreundliche Vertretung legte zu Beginn der Verhandlung weitere Integrationsunterlagen vor, die als Sammelbeilage zum Akt genommen wurden. Zu seinem Fluchtgrund befragt, berief sich der BF auf seine bisherigen Fluchtgründe. Es habe sich aber in Bezug auf die Religion bei ihm etwas geändert. Er sei kein Muslim mehr und würde den christlichen Glauben annehmen wollen. Eine Austrittbestätigung aus der islamischen Glaubensgemeinschaft könne er nicht vorlegen, weil man ihn von der Bezirkshauptmannschaft seines Wohnbezirkes nach Wien verwiesen habe. Der Vertreter der belangten Behörde vermerkte diesbezüglich informativ, dass diese Angaben unwahrscheinlich seien. Er habe sich nicht vor dem Interview darum gekümmert, weil er sich für den Glaubenswechsel Zeit nehmen wolle und er sich um diesen nach der Einvernahme kümmern wolle. Der BF sei einige Male in der Kirche gewesen, jedoch hätten sich Personen nicht neben ihn gesetzt und seien lieber gestanden. Aus diesem Grund würde er seit Winter 2017 nicht mehr in die Kirche gehen. Er wechsle seinen Glauben nicht für das Asylverfahren, sondern er wolle diese Entscheidung von Herzen getroffen haben. Er wolle zusammen mit dem jüngsten Sohn seiner Lebensgefährtin getauft werden.
Er habe auch bereits mit dem Pfarrer gesprochen, der ihm mitgeteilt habe, dass er nach diesem Interview jeden Sonntag in die Kirche kommen, die Leute kennenlernen und etwas über die Religion wissen müsse. Würde ihm dies gelingen, dann würde er getauft werden. Den Namen des Pfarrers habe er vergessen, weil dieser einen schwierigen Namen habe. In Wien habe er Kontakt mit einer Kirche gehabt. Dort habe ihm ein Freund gesagt, dass es bedeute, dass Jesus sein Herz berührt habe, wenn er ein Licht gesehen habe. Lese er die Bibel, dann fühle er sich gut. Der BF lese seither eine iranische Bibel und hatte diese Erfahrung in einer iranischen Kirche gemacht. Er sei nur einmal dort gewesen. Er wisse nicht mehr, wann dies war. Er könne es auf ein Frühjahr einschränken und darauf, dass seine Einvernahme beim BFA schon stattgefunden gehabt habe. Danach habe er erst wieder Kontakt zur Religion gehabt, wie er seine Freundin kennengelernt habe. Mit ihr habe er sich dann über den Glauben unterhalten. Dies sei im Winter 2017 gewesen. Davor habe er nur aus der Bibel gelesen und Filme über Jesus Christus gesehen. Die Bibel habe er über seinen Freund erhalten, der mit ihm in die Kirche gegangen sei. Dieser habe auch 1,5 Jahre mit dem BF zusammengewohnt. Er habe auch mit seinem Vater über sein Interesse am christlichen Glauben gesprochen, jedoch habe dieser mit ihm geschimpft. Er habe dies immer im Zuge der alle paar Monate stattgefundenen Telefonate gemacht. Einmal habe er mit einer Person beim Umstellen der Möbel zu Mittag gegessen und dabei ein zehn minütiges Gespräch über die Religion geführt.
Der BF vermeint, dass es Religion gebe, um anderen zu helfen und ihnen Gutes zu tun. Eine Gesellschaft ohne Religion könne zwar existieren, jedoch würden dort Ungerechtigkeit und Uneinigkeit herrschen. Er kenne nur den Islam und das Christentum. Er wisse über die Existenz anderer Regionen, wie die Teufelsanbeter, die Feueranbeter und die Statuenanbeter, jedoch wisse er über die nichts. Im Christentum würde es Einigkeit, freundliches Umgehen, Respekt und Erbarmen geben. Die Nächstenliebe sei dessen wichtigste Botschaft. Alle Menschen seien gleich und allen Menschen solle geholfen werden. Anderen Personen würde er sagen, dass Jesus der Schlüssel zum Tor Gottes sei. Jesus habe sich für die Menschen geopfert, dass diese ein besseres Leben haben würden. Verglichen mit den islamischen Ländern, würde es den Menschen, die an Jesus glauben, gut gehen. Im Islam würde es keine Einigkeit, keine Freiheit und keine Gleichberechtigung geben. Er möchte auch selbst entscheiden, welchen Glauben er folge und diesen nicht vererbt bekommen haben. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor seinem Vater, weil ihn dieser an den Mullah übergeben würde. Dieser würde sich an die Worte des Mullahs halten, der sagt, dass Leute, die die Religion wechseln würden, Ungläubige seien, die bestraft werden müssten. Er habe sich nach der Beschwerde an das BVwG vom islamischen Glauben abgewandt und halte sich nicht mehr an die islamischen Gebote. An diese würde er sich auch nicht mehr im Falle einer Rückkehr halten können. Er wolle nicht täglich beten oder fasten sowie Leute töten, nur, weil sie anders aussehen würden. Der BF würde derzeit nur die Bibel lesen und ab jetzt regelmäßig in die Kirche gehen. Er wolle den Glaubenswechsel nicht für das Asylverfahren missbrauchen, jedoch führte er dies nun an, weil er gefragt worden sei, ob es etwas Neues gebe und er nicht lügen könne. In den letzten zwölf Monaten sei er zweimal in der Kirche gewesen und noch nicht in einer Liste der Taufinteressierten der römisch-Katholischen Kirche eingetragen.
Danach folgte die Einvernahme der Zeugin. Sie gab an den BF seit September 2017 zu kennen und mit diesem noch keinen gemeinsamen Wohnsitz begründet zu haben. Sie würden sich aber viermal die Woche sehen und auch über Nacht zusammen sein. Sie gehe regelmäßig in die Kirche zur Messe und der BF würde sie zu dieser auch begleiten. Es habe auch schon ein Gespräch mit dem Pfarrer gegeben, ob der BF zusammen mit dem jüngsten Sohn der Zeugin getauft werden könne. Sie selbst habe den Religionsunterricht besucht, bete aber nicht regelmäßig. Der BF habe sich, ihrer Meinung nach, ernsthaft dem Christentum zugewandt, weil er oft Berichte im Internet lese und Fragen an sie stelle. Außerdem würde er auch Schweinefleisch essen. Der BF habe ihr auch mitgeteilt, dass er sich von der islamischen Religion abwenden möchte.
Er würde sich auch viel mit ihren Kindern beschäftigen und Sachen übernehmen, die sonst nur eine Mutter tun würde. Als Paar würden sie die meiste Zeit daheim verbringen. Da sich der Kindesvater nicht um die Kinder kümmern würde, sei er für diese wie ein Vater. Der BF würde von ihrer Familie finanziell auch sehr viel unterstützt werden. Eine Hochzeit sei schwierig, weil der BF keine Geburtsurkunde habe. Sie wohne nicht mit dem BF zusammen, weil man ihr gesagt habe, dass dies erst möglich sei, wenn dieser einen Bescheid habe. Sie würden aber Sex miteinander haben.
Danach wurde mit dem BF die Rückkehrsituation erörtert. Er äußerte sich hierzu, dass in Mazar-e Sharif Krieg herrsche und es in Herat bestätigte Corona-Virus-Erkrankungen geben würde. Im Übrigen habe er in Afghanistan keine medizinische Versorgung, falls sich bei der Nachuntersuchung herausstellen würde, dass er Krebs habe. Die rechtsfreundliche Vertretung vermeinte, dass der BF augenscheinlich vom Islam abgefallen sei und sich in einer Lebensgemeinschaft mit einer Christin befinden würde. Dies sei nachhaltig, sodass ihm in Afghanistan strafrechtliche Konsequenzen bis zum Tod wegen Apostasie drohen würden.
Auf die Frage des Behördenvertreters, warum er seinen Vater immer wieder angerufen habe, antwortete der BF, dass seine Mutter kein Handy habe und er nur über seinen Vater mit der Familie in Kontakt treten könne.
Zu seiner Integration befragt, vermeinte der BF, dass er Deutsch gelernt habe, ohne einen Deutschkurs zu besuchen. Es sei schwer für ihn, weil er nicht arbeiten dürfe und er in einem abgelegenen Dorf wohne. Er wolle hier weiter Deutsch lernen, arbeiten, den Führerschein machen, heiraten und sich taufen lassen. Er liebe seine Freundin und deren Kinder seien ihm ans Herz gewachsen.
Danach erfolgte der Schluss der mündlichen Verhandlung samt Hinweis, dass die Verkündung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfällt.
11. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
* Ärztlichen Befund
* Ambulantes Befundblatt samt Wiedervorstellung und Entlassungsbrief eines Krankenhauses
* Lichtbilder, die den BF mit der Zeugin und deren Kinder zeigen
* Unterstützungsschreiben der Zeugin
* Unterstützungsschreiben der Eltern der Zeugin
* Nach der mündlichen Verhandlung: Austrittsbescheinigung der BH XXXX und Bestätigung der Pfarre XXXX
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren im Jahr XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wurde als Moslem schiitischer Glaubensrichtung erzogen. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.
Der BF wurde nach seinen Angaben den Provinz Ghazni geboren. Im Jahr 2012 ist der BF mit seiner Familie für rund 2,5 Jahren wegen der allgemeinen Sicherheitslage nach Pakistan gegangen. Davor ist er sieben Jahre lang in Afghanistan die Schule besucht. Daneben hat er auch Arbeitserfahrung als Landarbeiter gesammelt. Nach seiner Rückkehr nach Afghanistan Ende 2014 blieb der BF noch einige Monate in seinem Heimatland, ehe er dieses aus wirtschaftlichen Gründen verlies und er über den Iran und die Türkei nach Europa gelangte, wo er am 19.07.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Es wird festgestellt, dass die Familie des BF nach wie vor in Afghanistan aufhältig ist.
Der BF ist in seinem Heimatland auch nicht vorbestraft, hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv. Die Herkunftsregion seiner Familie ist die Provinz Ghazni. Der BF ist in Österreich strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und unbescholten.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan über den Iran und die Türkei nach Europa gereist, wo er schließlich in Österreich, das er seinem Befinden nach für gut erachtete, seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF stellte am 19.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass sein Bruder jemanden getötet hätte und er von der Familie des Angehörigen ständig bedroht worden sei, weshalb er Afghanistan verlassen habe. Vor dem BFA führte der BF an, Afghanistan nicht nur wegen der Blutrache verlassen zu haben, sondern auch deswegen, weil der Staat die Hazara nicht vor den Taliban schützen könne
In Zuge des Beschwerdeverfahrens gab der BF an, dass er vom Islam abgefallen sei und er Interesse am christlichen Glauben habe und er sich taufen lassen wolle.
Festgestellt wird, dass der BF als Moslem erzogen wurde. Aufgrund von Erzählungen eines Freundes interessierte sich der BF seit dem Jahr 2016 für das Christentum. Der BF besucht in Österreich sporadisch die Kirche und liest in der Bibel
Festgestellt wird, dass der BF nicht mehr der islamischen Glaubensgemeinschaft angehört. Der BF hat 3 Wochen nach der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Bestätigung über seine Taufvorbereitung vorgelegt. Eine kirchliche Taufe ist frühestens für Gründonnerstag des Jahres 2021 zu erwarten, insofern der BF die sonstigen kirchlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt. Aus heutiger Sicht ist er nicht kirchlich getauft.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der christliche Glaube wesentlicher Bestandteil der Identität des BF geworden ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF seinem derzeitigen Interesse für den christlichen Glauben im Falle der Rückkehr nach Afghanistan weiter nachkommen würde.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF sein derzeitiges Interesse für den christlichen Glauben im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nach außen zur Schau tragen würde.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die afghanischen Behörden und/oder das persönliche Umfeld des BF in Afghanistan von dessen Interesse für das Christentum und seinem Abfall vom Islam bei einer Rückkehr in sein Heimatland Kenntnis erlangen würden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Interesses für den christlichen Glauben und seiner Abkehr vom Islam psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es wird festgestellt, dass der BF nicht aus innerer Überzeugung die christlichen Werte verinnerlicht hat und er sich aus innerer Überzeugung vom Islam abgewandt hat.
Ebenso wird festgestellt, dass der BF aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit einer Verfolgung von asylrelevantem Ausmaß ausgesetzt ist.
Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.
Es kann festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Aufgrund seiner Angaben konnte die Provinz Ghazni als Herkunftsregion des BF ausgemacht werden. Aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser, ist einer Rückkehr in diese Provinz dem BF nicht zumutbar. Dem BF steht jedenfalls eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Herat und in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, auch wenn der BF noch nie in Mazar-e Sharif oder in Herat gelebt hat. Der BF kann sowohl Mazar-e Sharif als auch Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist gesund.
Der BF liefe im Falle einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er ist in der Lage, in Mazar-e Sharif oder Herat eine einfache Unterkunft zu finden bzw. am Erwerbsleben teilzunehmen. Zudem verfügt der BF über eine profunde Schulbildung und Arbeitserfahrung als Landarbeiter.
Der BF hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde im Verfahren über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.
In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat beim Aufbau einer Existenzgrundlage von Familienangehörigen nicht unterstützt wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ihn der in Afghanistan lebende Onkel wieder unterstützen würde und er finanzielle Zuwendungen von seiner österreichischen Lebensgefährtin erhalten würde.
Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.
Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, weil er in Afghanistan geboren wurde und er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Der BF hält sich seit Juli 2015 in Österreich auf.
Der BF keine weiteren Familienangehörigen in Österreich.
Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. Beziehungen, Lebensgemeinschaften) festgestellt werden. Zwar hat der BF eine Freundin und kümmert sich um deren drei Kinder, jedoch lebt er mit seiner Lebensgefährtin nicht zusammen. Auch wenn die beiden Partner eine seelische Gemeinschaft haben, entspricht diese Beziehung nicht den strengen Anforderungen an eine eheähnliche Lebensgemeinschaft, weil weder eine Wohngemeinschaft noch eine Wirtschaftsgemeinschaft besteht.
Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und war auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF kein Mitglied von Vereinen.
Der BF besuchte keine integrations- und Sprachkurse und kann diesbezüglich auch keine Teilnahmebestätigungen oder Zertifikate nachweisen. Er hat sich im Selbststudium über das Internet Deutsch beigebracht und ist daher jedenfalls in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf Deutsch zu kommunizieren. Er ist in seiner Freizeit jedoch nicht nachhaltig an einer Weiterbildung interessiert und war bisher in Österreich, abgesehen von Nachbarschaftshilfe, weder ehrenamtlich tätig noch erwerbstätig. Er ist strafrechtlich unbescholten und lebt von der Grundversorgung und ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.5.1. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
1.5.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige"