TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/26 L526 2190059-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.07.2019
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Entscheidungsdatum

26.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L526 2190069-1/28E

L526 2190072-1/14E

L526 2190059-1/14E

L526 2190062-1/14E

L526 2190063-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Taner Önal, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.2.2018, Zahl XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am 6.6.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , geb. XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Taner Önal, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.2.2018, Zahl XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am 6.6.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , geb. XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Taner Önal, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.2.2018, Zahl XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am 6.6.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , geb. XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Taner Önal, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.2.2018, Zahl XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am 6.6.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , geb. XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Taner Önal, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.2.2018, Zahl XXXX , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung am 6.6.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

I.1.1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz als "BF" oder gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als "BF1" bis"BF5" bezeichnet) sind türkische Staatsangehörige. BF1 ist die Mutter der minderjährigen, männlichen BF2 bis BF5. BF1 bis BF5 reisten zusammen mit dem Ehemann der BF1 und dem Vater der BF2 bis BF5 nach Österreich ein und brachten am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Der Ehemann der BF1 und Vater der BF2 bis BF5 ist mittlerweile verstorben. Zum Grund für das Verlassen des Heimatlandes gab BF1 anlässlich der Erstbefragung nach dem Asylgesetz an, dass es in der Türkei immer schön gewesen sei, es in letzter Zeit aber viele Sicherheitskontrollen gegeben habe. Ihr Mann sei krank und bekomme in der Türkei keine Behandlung. Die Kinder hätten aufgrund der Probleme zwischen Kurden und Türken nicht mehr in die Schule gehen können. Im Falle einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Mann festgenommen werde, weil sie geflüchtet seien; möglicherweise würde auch sie festgenommen werden und sie habe auch Angst, dass die Kinder nicht mehr in die Schule gehen könnten. Zu ihrem Wohnsitzt gab BF1 an, dass dieser in XXXX sei. Die Reise hätten sie von XXXX aus begangen, wo sie seit vierzehn Jahren gelebt hätten. Zu ihren Familienangehörigen in der Türkei gab sie an, dass dort ihre Eltern sowie drei Brüder und eine Schwester leben würden. Diese hießen alle XXXX mit Nachnamen und lebten alle in der Türkei.

I.1.2. Am 2.8.2017 wurde BF1 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als nunmehr belangte Behörde (in weiterer Folge auch kurz "BFA" oder "bB" genannt) einvernommen und gab dort zusammengefasst an, dass ihr Mann im Krankenhaus sei. Bis zu ihrer Ausreise hätten die BF in XXXX gewohnt. 15 Jahre hätten sie im Viertel XXXX gelebt, wo die meisten Kurden wohnen. BF1 habe zuvor in Syrien gelebt. Die Familienangehörigen der BF1 würden nun in Deutschland leben, die ihres verstorbenen Mannes würden vorwiegend in XXXX in der Türkei leben. Die Familie in der Türkei käme "so über die Runden". Sie würden arbeiten und zur Miete wohnen. Die Frage, ob die BF wieder in der Türkei bei ihrer Familie leben könnte, beantwortete sie dahingehend, dass sie nicht wisse, ob diese sie unterstützen können. In Österreich habe sie eine Cousine und einen Cousin zweiten Grades; diese hätten einen Aufenthaltstitel in Österreich. Ansonsten hätten sie hier keine Verwandten. Mit den Verwandten in Österreich habe die BF1 vornehmlich telefonischen Kontakt.

Als Kurden sei ihr und ihrem Mann nichts passiert, aber die Kinder seien von den türkischen Mitschülern ausgegrenzt worden. Die Lehrer und Direktoren seien türkischer Herkunft gewesen und hätten nichts gegen die Ausgrenzung unternommen. Sie hätte Angst gehabt um die Kinder. Wo sie herkäme würden die Kinder schon mit Messern in die Schule gehen. Die Kinder sollten in Österreich in die Schule gehen, Sport betreiben und das machen, was sie wollen. Zudem müsste sie auch Angst haben, wenn ihre Kinder ins "militärfähige" Alter kommen.

Weiter gab BF1 an, dass sie aus der Türkei geflüchtet seien, da sie Kurden sind. Alle in Europa wüssten, dass der Druck auf die Kurden in der Türkei sehr schlimm sei. Sie habe wollen, dass ihre Kinder leben können und auch die Zukunft ihrer Kinder abgesichert sei. Daher hätten sie um Asyl angesucht.

Zur Frage, was genau passiert sei, sodass sie sich gesagt hätte, sie verlasse nun die Türkei gab BF1 an, dass ihr Mann krank geworden sei und man gesagt hätte, dass es trotz Behandlung keine Hoffnung auf Genesung gäbe. Zweitens hätte sie wollen, dass ihre Kinder eine bessere Zukunft hätten. In der Türkei würden Kurden unterdrückt. In dem Haus, in dem sie gelebt hätten, habe es eine Polizeiinspektion gegeben und manchmal hätte man Steine geworfen oder auch Pfefferspray benutzt, um sie loszuwerden. Deshalb seien sie hierher gekommen. Das Haus stehe dort nicht mehr und sie seien Gott sei Dank rechtzeitig weggegangen. Der Sohn des Onkels ihres Mannes sei im Gefängnis und einmal seien sie zum Arbeitsplatz des Schwagers gekommen und hätten ihn geschlagen und mitgenommen, weil er Kurde sei. Sie hätten dem Schwager auch gedroht, dass man ihn beobachten würde und wenn etwas passieren würde, dann würde man ihn gleich mitnehmen. Angeblich hätte er auf Facebook geschrieben, man solle für seinen Cousin beten, da dieser eingesperrt ist. Wenn sie in die Türkei zurückmüsste, wisse sie nicht, was passieren würde. Konkret sei weder ihr, ihrem Mann oder ihren Kindern etwas passiert. Ihr Ehemann habe die gleichen Fluchtgründe, ebenso ihre Kinder. Nachgefragt gab sie an, dass sie primär wegen ihres Mannes nach Österreich gekommen seien, an zweiter Stelle stünden die Zukunft und ein besseres Leben für die Kinder. Im Falle einer Abschiebung in die Türkei würde sie sterben und die Kinder würden ohne Mutter zurückbleiben. Es gäbe dort so viele Häuser, die zerstört worden seien und sie wisse nicht, was sie dort machen solle. Auch die Schwiegermutter sage, dass die Kurden in der Türkei in Gefahr seien. Es würde sie niemand töten, aber sie würde vor Kummer und Angst um ihre Kinder sterben. Sie wisse nicht, was aus diesen werden soll, wenn sie eingesperrt würde. Dies würde wohl passieren, da sie nach Österreich gegangen sei. Das sei so, wenn man zurückkehre; wahrscheinlich würde sie für sechs Jahre eingesperrt. Sie selbst habe auch keine Familienangehörigen mehr in der Türkei und auch nicht in Syrien.

Zu ihrer Integration brachte BF1 vor, dass sie seit vier Monaten in einen Deutschkurs ginge. Für ehrenamtliche Tätigkeiten habe sie keine Zeit. Sobald der Jüngste in den Kindergarten komme, habe sie wieder mehr Zeit und sie würde auch arbeiten gehen. Da sie selten aus dem Haus komme, habe sie auch keine österreichischen Freunde. Sie habe jedoch Kontakte mit Türkinnen.

Neuerlich nach ihren Verwandten in der Türkei befragt, gab BF1 an, diese würden sie wohl nicht vor die Tür setzen, allerdings wisse sie nicht, ob sie sie weiter unterstützen können. Das Haus, in welchem sie in XXXX gelebt hätten, sei dem Erdboden gleichgemacht. Die Regierung habe entschieden, dieses abzureißen.

Im Akt finden sich mehrere Dokumente in türkischer Sprache, Empfehlungsschreiben, Schul- und Kursbesuchtsbestätigungen, medizinische Unterlagen, eine Übersetzung eines Auszuges aus dem zivilen Personenstandsregister aus XXXX in der Provinz XXXX der arabischen syrischen Republik betreffend Frau XXXX sowie ein Familiendokumentationsauszug aus dem nationalen zivilen Register für syrische Araber.

Im Akt findet sich auch eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in der Türkei. Dieser Anfragebeantwortung zufolge ist die Frauenbeschäftigungsquote in der Türkei die niedrigste im ganzen OECD-Raum und seien Frauen überwiegend im Niedriglohnsektor des Dienstleistungs- und Agrarsektors beschäftigt oder im "informellen Bereich". Ferner geht aus dem Dokument hervor, dass alleinstehende Frauen in der Türkei grundsätzlich keine spezielle Unterstützung außerhalb des Familienverbandes fänden. Das Familien- und Sozialministerium habe einen Hilfsfond für verwitwete Frauen eingerichtet, der Betroffenen derzeit cirka 70 Euro pro Monat zugestehe. NGOs, die finanzielle Hilfe für alleinstehende Frauen/Witwen anbieten, gibt es in der Türkei keine.

I.2. Die Anträge der BF auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheid der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status der Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates stellte die bB fest, dass keine Gründe vorgebracht wurden, die auf eine persönliche Verfolgung der BF im Sinne der GFK hinweisen würden. Beweiswürdigend stützt sich die bB dabei auf das Vorbringen der BF1.

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen.

Zur Situation im Falle der Rückkehr hält die bB fest, dass BF1 jung, gesund und arbeitsfähig sei und ihre Familie sie finanziell und mit Sachleistungen unterstützen könne. Die Familie ihres Ehemannes würde nach wie vor in der Türkei leben und es sei der BF zuzumuten, sich dort wieder niederzulassen. Sie habe auch zwei Jahre vor ihrer Ausreise aus der Türkei ohne die Arbeitsleistung ihres Ehemannes und mit Unterstützung ihrer Familie in der Türkei leben können und könne sich die BF1 auch eine Arbeit suchen, um ihre Familie zu unterstützen. Aus denn Länderfeststellungen gehe hervor, dass die Existenzgrundlage auch für sie als Rückkehrerin gesichert sei. Die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfes sei in der Türkei gegeben. Es sei auch weder eine lebensbedrohliche Erkrankung der BF noch ein sonstiger außergewöhnlicher Umstand behauptet oder bescheinigt worden, der ein Abschiebehindernis im Sinne des Art. 3 EMRK rechtfertige. Den Länderinformationen könne auch nicht entnommen werden, dass sie als Rückkehrerin in eine gefährliche Lage kommen könnte.

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorgekommen wäre. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben. Die Rückkehrentscheidung stelle auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar, da die BF in Österreich lediglich weitschichtige Verwandte habe, mit denen sie telefonischen Kontakt halte. Auch die privaten Interessen und die Integrationsbemühungen der BF seien nicht ausreichend, um daraus ein Überwiegen der persönlichen Interessen der BF, in Österreich zu bleiben, für eine Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK ableiten zu können.

I.3. Gegen den genannten Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde in vollem Umfang erhoben.

Unter Zitierung verschiedener Berichte wurde darin im Wesentlichen ausgeführt, dass BF1 ihre Fluchtgründe schlüssig geschildert habe und der Antrag als ausreichend substantiiert betrachtet werden könne. Zur Sicherheitssituation in der Türkei sei festzustellen, dass sich die Lage seit dem Putschversuch gegen Recep Erdogan massiv verschlechtert habe. Betroffen davon seien insbesondere Kurden in der Türkei und insbesondere auch deren politische Einrichtungen und Parteien.

Bei BF1 handle es sich um eine vierunddreißig-jährige, alleinerziehende, verwitwete Frau und Mutter von vier minderjährigen Kindern und somit um eine Angehörige einer in Konflikten besonders vulnerablen Gruppe. Unter Bezugnahme auf einen Artikel über die Situation der Frauen in der Türkei wurde ferner dargelegt, dass die BF in der Türkei auf sich alleine gestellt wäre und vor dem Hintergrund der Eskalation des Konflikts zwischen den türkischen Regierungskräften und den Kurden sowie der offenbar stetig zunehmenden "Patriarchalisierung der türkischen Gesellschaft" mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verletzung ihrer in Art. 2 und 3 EMRK verbrieften Rechte ausgesetzt wäre. Eine Möglichkeit, adäquaten Schutz durch staatliche Stellen zu erhalten bestehe für die BF nicht.

Zur rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde wurde ausgeführt, dass die bB bei richtiger Beweiswürdigung und vollständiger Feststellung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes zu einem günstigeren Ergebnis für die BF hätte kommen müssen.

Zur Integration der BF in Österreich wurde ausgeführt, dass diese seit Oktober 2015 in Österreich trotz der vergleichsweise kurzen bisherigen Aufenthaltsdauer bereits gut in Österreich integriert seien. Auf die der Behörde vorgelegten Empfehlungsschreiben sowie die Bestätigungen über die Teilnahme am Deutschunterricht und dem Engagement für das " XXXX " wurde verwiesen. BF5 sei auch sportlich engagiert, BF3 und BF4 besuchten die Schule und BF2 sei für den Kindergarten angemeldet. Der Lebensunterhalt der BF in Österreich wäre gesichert, da BF1 über eine Einstellungszusage verfüge. Abschließend wurde noch auf die in Österreich und Deutschland aufhältigen Verwandten der BF hingewiesen.

Dem Beschwerdeschreiben wurden folgende Unterlagen beigeschlossen:

- Eine Bestätigung über die Teilnahme der BF1 an einem Deutschkurs

- Eine Bestätigung über die Mitgliedschaft beim Verein " XXXX "

- Fünf Empfehlungsschreiben

- Eine Einstellungszusage für BF1

- Ein Konvolut an Ablichtungen von Ausweisen und Aufenthaltsberechtigungskarten verschiedener Personen

I.4 Am 12.4.2019 wurde eine Anfrage an die Staatendokumentation in Bezug auf die Rückkehrsituation einer Witwe mit Kindern in die Türkei gestellt.

I.5. Zusammen mit der Einladung zur mündlichen Verhandlung wurden den BF folgende Dokumente übermittelt:

- Aktuelle länderkundliche Informationen zur Lage in der Türkei vom 18.10.2018, Stand 14.3.2019

- Bericht des British Home Office, September 2018: Country Policy and Information Note Turkey, Kurds

- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in der Türkei

I.6. Mit schriftlicher Eingabe vom 23.5.2019 wurde eine Stellungnahme zu den vorab übermittelten Länderinformationen die Türkei betreffend abgegeben. In dieser wurde grob zusammengefasst insbesondere darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund der übermittelten Länderinformationen von einer Gefährdung der BF im Falle ihrer Rückkehr auszugehen sei und vor dem Hintergrund der in der Anfragebeantwortung vom 8.1.2018 zu den Arbeitsmöglichkeiten für Frauen dargelegten Situation kaum Aussicht auf Erwirtschaftung des für die BF1 und ihre Familie notwendigen Lebensunterhaltes bestehen werde. Ferner wurden Ausführungen zur Integration der BF und deren Rückkehrbefürchtungen, insbesondere im Hinblick auf die Wiedereingliederung der BF3 bis BF5 in das türkische Schulsystem bzw. in die türkische Gesellschaft des erst vierjährigen BF2 getätigt.

Dieser Stellungahme wurden folgende Urkunden beigeschlossen:

- Verschiedene Empfehlungsschreiben

- Schulnachrichten

- Schreiben des Klassenvorstandes von BF5

- Schreiben des FC XXXX für BF5

- Bestätigung über die Teilnahme der BF1 an einem Deutschkurs

- Bestätigungen über eine Teilnahme am Deutsch-Förderunterricht und an einer Lerngruppe für BF3

- Beschreibung des Charakters des BF3 durch eine Klassenlehrerin

I.7. Am 6.6.2019 wurde eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für Kurdisch-Kurmanji sowie dem gewillkürten Vertreter der BF abgehalten, zu welcher auch die zu dieser Verhandlung nicht geladenen, minderjährigen BF2 bis BF5 erschienen und beantragten, zu ihrer Integration selbst befragt zu werden. In dieser Verhandlung wurde das bisherige Vorbringen in Bezug auf die Ausreisegründe und Rückkehrbefürchtungen im Wesentlichen aufrechterhalten. Ferner artikulierte BF1 die Befürchtung, sie werde wegen ihrer Tätigkeit und Funktion bei einem kurdischen Verein in Österreich der Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei ausgesetzt sein. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass BF1 als alleinerziehende Mutter von vier Minderjährigen besonders vulnerabel sei, von der Familie ihres verstorbenen Ehemannes in der Türkei auch keine Unterstützung zu erwarten hätte und würden BF2 bis BF5 aufgrund von möglichen Wiedereingliederungschancen in das türkische Schulsystem Benachteiligungen erfahren.

In der Verhandlung wurde den BF folgendes Dokument ausgehändigt und wurde ihnen zur Stellungnahme eine Frist von vierzehn Tagen eingeräumt:

Artikel des Deutschen Auswärtigen Amtes zum Bildungssystem in der Türkei (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/kultur/202098)

Die BF legten im Zuge dieser Verhandlung folgende Dokumente vor:

- Ein Auszug aus einem Familienbuch samt Übersetzung aus dem Arabischen

- Ein Dienstvorvertrag für BF1

- Ein Dienstvorvertrag für BF5

- Ein Bescheid des Arbeitsmarktservice gemäß § 20 Abs. 3 AuslBG

- Ein Terminkalender für logopädische Einheiten im Kindergarten betreffend BF2

I.8. Mit Stellungnahme vom 12.6.2019 brachten die BF zusammengefasst vor, dass sich aus dem in der mündlichen Verhandlung übergebenen Artikel zum Bildungssystem in der Türkei, wonach die Schulpflicht unter der aktuellen Regierung auf zwölf Jahre ausgedehnt worden sei, ableiten ließe, dass BF5 in der Türkei nicht mehr zur Schule gehen könne, was sich auf die beruflichen Möglichkeiten höchst negativ auswirken könnte. Für die anderen schulpflichtigen BF gelte das in ähnlicher Weise, als ihnen die gesamte Grundschule fehle und wäre ein Wechsel in das für sie vollkommen fremde Schulsystem ihrer Laufbahn in höchstem Maße abträglich und widerspräche dies auch den in Art. 28 und 29 den in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Grundsätzen. In Bezug auf den vierjährigen BF2 sei auszuführen, dass dieser den größten Teil seiner Sozialisierung in Österreich erfahren habe. Ferner sei davon auszugehen, dass insbesondere BF3 und BF4 die schriftliche Artikulationsfähigkeit fehle, da ihnen die Jahre abgehen, die sie im österreichischen Schulsystem verbracht hätten. Im Falle des neunjährigen BF3 sei zu beachten, dass dieser in der Türkei noch keine Schule besucht habe. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich im Falle der BF daher insgesamt als auf Dauer unzulässig.

I.9. Am 25.6.2019 langte die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.6.2019 in Bezug auf die Rückkehrsituation einer Witwe mit Kindern ein. Diese wurde den BF mit Note vom selben Tag übermittelt und wurden die BF eingeladen, binnen einer Woche dazu Stellung zu beziehen.

I.10. Mit Stellungnahme vom 27.6.2019 brachten die BF im Wesentlichen vor, dass die in der zuvor genannten Anfragebeantwortung festgestellten Unterstützungsleistungen den BF ein Leben über der offiziellen Armuts- und Hungergrenze in der Türkei nicht ermöglichen würden. Unter den zu erwartenden Umständen im Falle einer Rückkehr verletze eine Rückführung der BF die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte, insbesondere das Recht auf Leistungen gemäß Art. 26 und jenes auf Anerkennung eines angemessenen Lebensstandards gemäß Art. 27. Angesichts der drohenden prekären Lebensumstände in der Türkei drohe den BF2 bis BF5 auch die Gefahr, jede erdenkliche Arbeit annehmen zu müssen, um die Existenzgrundlage der Familie zu erwirtschaften, was die Gefahr eines Verstoßes der in Art. 32 der Konvention festgelegten Rechte des Kindes nach sich zu ziehen drohe.

I.11. Am 9.7.2019 wurden die vom Bundesverwaltungsgericht angeforderten Satzungen des "Verein XXXX " zum Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichtes genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF führen den im Spruch ersichtlichen Namen, sind Staatsangehörige der Türkei, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und bekennen sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung.

BF1 ist zusammen mit ihrem Ehemann sowie ihren vier Söhnen, BF2 bis BF5, am 14.10.2015 in Österreich illegal eingereist. Der Ehemann der BF1 und Vater der BF2 bis BF5 verstarb in Österreich. BF1 beherrscht Kurdisch Kurmanji sowie Türkisch in Wort und Schrift. BF3 bis BF5 sprechen ebenfalls Kurdisch Kurmanji sowie Türkisch.

BF1 wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren und hat die Grundschule absolviert. Mit siebzehn oder achtzehn Jahren hat sie in der Türkei geheiratet und lebte bis zu ihrer Ausreise nach Österreich zusammen mit ihrer Familie in der Türkei.

Es ist nicht feststellbar, an welchen Orten die BF in der Türkei lebten und wie lange sie dort jeweils lebten.

In der Türkei, in XXXX , leben gegenwärtig die Mutter, vier Brüder und zwei Schwestern des verstorbenen Mannes der BF1 und Vaters der BF2 bis BF5. Diese wohnen zur Miete. Die Brüder des verstorbenen Ehemannes der BF1 arbeiten als Schneider, als Kellner und als Hilfsarbeiter. Es leben auch noch viele weitere Verwandte des verstorbenen Ehemannes der BF1 und Vaters der BF2 bis BF5 in der Türkei, beispielsweise in XXXX , XXXX oder XXXX .

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie der BF1 aus Syrien stammt und alle Familienmitglieder nunmehr in Deutschland leben.

Anfang Oktober 2015 verließen die BF die Türkei mit dem Flugzeug in Richtung Bosnien und reisten schlepperunterstützt von Bosnien auf dem Landweg weiter bis nach Österreich und von Österreich weiter nach Deutschland, von wo aus die BF wieder nach Österreich zurückgewiesen wurden.

1.2. Die BF und der verstorbene Ehemann der BF1 bzw. Vater der BF2 bis BF5 gehörten keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatten in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihres Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Die BF gehören nicht der Gülen-Bewegung an und waren nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt. Die BF und der verstorbener Ehemann der BF1 und Vater der BF2 bis BF5 haben in der Türkei auch keine Straftaten begangen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Die BF unterliegen bei einer Rückkehr in die Türkei nicht der Gefahr einer staatlichen Verfolgung im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie. Die BF unterliegen bei einer Rückkehr in die Türkei außerdem nicht der Gefahr einer Strafverfolgung oder Inhaftierung im Zusammenhang mit einem ihnen unterstellten Naheverhältnis zur Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) oder der Gülen-Bewegung.

BF1 unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung aufgrund ihrer Aktivitäten und ihrer Funktion im "Verein XXXX " in Österreich.

Im Fall einer Rückkehr in die Türkei kommt aufgrund der in der Türkei gesetzlich vorgesehenen allgemeinen Wehrpflicht eine Einberufung der BF im wehrfähigen Alter bzw. sobald sie dieses erlangen zu den türkischen Streitkräften in Betracht. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall einer Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zielgerichtet gegen die kurdische Zivilbevölkerung oder gegen kurdische Kämpfer eingesetzt würden oder sie sich im Rahmen ihres Wehrdienstes an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müssten. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass sich in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen ereignen oder eine Mobilmachung stattfindet. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass den BF - sollten sie sich weigern, den Militärdienst abzuleisten - eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder BF1 aufgrund ihres Geschlechts Defiziten beim Zugang zu staatlichem Schutz oder zu einer zur Existenzgefährdung führenden Restriktionen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Systemen der sozialen Sicherheit in der Türkei ausgesetzt wären bzw. wäre.

1.3. Den BF droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

1.4. Alle BF sind gesund. Sie verfügen über famililäre bzw. verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Den BF ist eine Kontaktaufnahme mit den oben bezeichneten Familien und den übrigen Verwandten in der Türkei möglich und zumutbar. Die BF werden im Falle der Rückkehr auch wieder Aufnahme in den Familienverband und Unterstützung durch diese finden. Ferner stehen den BF die Systeme der Sozialen Sicherheit in der Türkei offen.

Darüberhinaus ist sowohl BF1 als auch BF5 die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung des Auskommens der Familie möglich und zumutbar.

BF1 ist eine gesunde, anpassungs- und arbeitsfähige Frau mittleren Alters. Sie verfügt über grundlegende Schulbildung. Bei BF5 handelt es sich um einen jungen, gesunden, anpassungs- und arbeitsfähigen Mann. BF5 hat einen Pflichtschulabschluss in Österreich.

Die minderjährigen BF2 bis BF4 verfügen in ihrem Heimatland über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage, ferner ist eine hinreichende Betreuung durch die Mutter und/oder den Familienverband und eine hinreichende Absicherung in ihren altersentsprechenden Grundbedürfnissen gegeben. Den minderjährigen, schulpflichtigen BF steht ferner kostenfreier und nichtdiskriminierender Zugang zum öffentlichen Schulwesen sowie leistbarer und nichtdiskriminierender Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung in der Türkei zur Verfügung.

Es kann daher nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall einer Rückkehr in die Türkei einer existentiellen Notlage ausgesetzt wären und die minderjährigen BF jedwede erdenkliche Arbeit annehmen müssten.

1.5. Die BF halten sich seit 14.10.2015 in Österreich auf. Sie reisten rechtswidrig in Österreich ein, sind seither Asylwerberin und verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.

1.6. BF1 ist verwitwet und pflegt normale soziale Kontakte, vornehmlich zu türkischen, aber auch zu österreichischen Personen. Sie lebt seit der Einreise mit ihren Söhnen in einer Unterkunft in XXXX .

Im Bundesgebiet halten sich drei Cousins der BF1 auf, zu welchen BF1 in telefonischem Kontakt steht. In den Sommerferien verbringen die BF manchmal Zeit bei den Cousins der BF1 in XXXX . Eine befreundete Familie, zu welcher die BF Kontakt haben, wohnt in XXXX . Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere Nahebeziehung der BF zu diesen Personen.

BF1 hat bislang keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Sie engagiert sich im kurdischen Verein " XXXX ". Seit 9.5.2019 ist sie "Obmann Stellvertreterin" dieses Vereines. BF1 ist nicht legal erwerbstätig. Ihr wurde eine Vollzeit-Beschäftigung bei " XXXX " sowie bei " XXXX " in Aussicht gestellt, wobei die Entlohnung für die zugesagte Stelle aus der Absichtserklärung der " XXXX " nicht hervorgeht und sie bei " XXXX " 1440 Euro brutto verdienen würde.

Die BF besuchte sprachliche Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache. Sie kann sich in der Deutschen Sprache jedoch lediglich auf niedrigem Niveau ausdrücken. Anderweitige Integrationsschritte hat die BF nicht ergriffen.

BF3 bis BF5 besuchen die Schule in Österreich. BF5 hat die Pflichtschule in Österreich abgeschlossen und befindet sich nun in einer "Übergangsklasse". BF5 spielt auch Fußball im FC XXXX . BF2 geht in den Kindergarten. Die minderjährigen BF haben sich einen Freundeskreis in Österreich aufgebaut. BF3 bis BF5 sprechen gut und verständlich Deutsch.

BF5 verfügt über eine Einstellungszusage im Gastgewerbe und würde aufgrund dieses Beschäftigungsverhältnisses 385 Euro brutto verdienen.

1.7. Die BF sind Österreich strafrechtlich unbescholten. Ihr Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz (relevant für die Abschnitt: 10. Wehrdienst)

Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 ?) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen.

Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Sirnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).

KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul, (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage und 13.1.Opposition)

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019).

Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019).

Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).

Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).

KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.

Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.

Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

2. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

3. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal ga

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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