TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/9 L509 2144387-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.08.2019
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Entscheidungsdatum

09.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L509 2144387-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Ewald HUBER-HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.12.2016, Zl. 635457910-2332845, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.06.2019, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte nach illegaler Einreise am 26.06.2013 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. In der Erstbefragung am 26.06.2013 machte er geltend, dass er an den Kundgebungen in Istanbul am "Gezipark" teilgenommen hätte und dass die Polizei deswegen nach ihm suchen würde. Es seien bei den Kundgebungen mehrere seiner Freunde festgenommen worden und diese hätten die Adresse des BF der Polizei gegenüber bekanntgegeben. Hinzu käme, dass er alevitischer Kurde sei und er sich als Angehöriger eine Minderheit gesellschaftlich ausgegrenzt und benachteiligt fühle.

2. Am 05.12.2016 erfolgte die erste asylbehördliche Einvernahme des BF zu seinem Antrag auf internationalen Schutz. Dabei bekräftige er sein Vorbringen, das er bereits anlässlich der Erstbefragung erstattet hatte. Er ergänzte, dass nach der Teilnahme an der Demonstration die Polizei drei Mal bei ihm zu Hause gewesen wäre und nach ihm gefragt hätte. Er gab weiters an, dass er in der Türkei weder verhaftet noch verurteilt wurde und nicht vorbestraft ist. Verfolgt werde er nur im Zusammenhang mit der Teilnahme an den "Gezipark"-Demonstrationen. Die Polizei sei gewaltsam gegen die Demonstranten vorgegangen. Aleviten hätten kein einfaches Leben in der Türkei, sie würden nur unter Aleviten Arbeit finden. Bei einer Rückkehr würde er unter Polizeibeobachtung gestellt und er könnte "jederzeit für alles herangezogen" werden.

3. Mit Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14.12.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz in Spruchpunkt I. hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten, sowie in Spruchpunkt II. hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde dem BF in Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung des BF in die Türkei für zulässig erklärt. Mit Spruchpunkt IV. wurde für die freiwillige Ausreise eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung erteilt.

Das BFA kam nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens zu dem Ergebnis, dass es nicht glaubhaft sei, dass dem BF im Herkunftsstaat Verfolgung drohe, weiters habe der BF kein Abschiebungshindernis darlegen können und sei ein solches auch bei der Prüfung der Rückkehrsituation nicht hervorgekommen. Der BF käme weder in eine extreme Notlage noch hätte er eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu befürchten. Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen würden nicht vorliegen und die Rückkehrentscheidung sei nach Abwägung der privaten gegen die öffentlichen Interessen zulässig bzw. sei der dadurch stattfindende Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben wegen überwiegender öffentlicher Interessen gerechtfertigt. Im Fall der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sei die Abschiebung in die Türkei zulässig.

4. Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde eingebracht. Mit der Beschwerde wird der Bescheid zur Gänze angefochten und werden die Anträge gestellt, den Bescheid zu beheben und dem BF Asyl oder zumindest subsidiären Schutz zu gewähren, in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen und die Rückkehrentscheidung sowie den Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei aufzuheben.

Nach Wiederholung von wesentlichen Teilen der Bescheidbegründung wird bekräftigend ausgeführt, es ergebe sich bereits aus den Länderinformationen, dass ein Betroffener, dem Handeln gegen die Regierung vorgeworfen wird oder der Angehöriger von religiösen oder ethnischen Minderheiten ist, mit massiven Eingriffen und Polizeigewalt zu rechnen hätte. Minderheiten würden keine ausreichenden Rechte gewährt und ihnen würde kein effizienter staatlicher Schutz geboten. Es sei nachvollziehbar, dass der BF als Teilnehmer an den Demonstrationen, wo er laut eigenen Angaben identifiziert worden wäre, von der Polizei gesucht wird und er sich wohlbegründet vor einer Verfolgung aus politischen Gründen fürchtet. Dazu käme als erschwerend, dass er alevitischer Kurde sei.

5. Das Beschwerdeverfahren wurde zunächst der Gerichtsabteilung (GA) L504 zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 11.01.2017 wurde das Beschwerdeverfahren der GA L504 abgenommen und der GA L514 zugewiesen. Mit weiterer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 27.06.2018 wurde die Rechtssache der GA L514 abgenommen und der GA L509 zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht in den erstinstanzlichen Akt Einsicht genommen und eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt. Zu der Beschwerdeverhandlung sind weder der BF noch ein Vertreter der belangten Behörde erschienen. Die belangte Behörde hat mit Schreiben vom 21.06.2019 (nachträglich) auf die Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung verzichtet. Der BF, dem die Ladung persönlich mittels RSa zugestellt wurde, ist - ungerechtfertigt - zur Beschwerdeverhandlung nicht erschienen. In der Ladung war die Durchführung der Beschwerdeverhandlung in Abwesenheit bei ungerechtfertigtem Fernbleiben von der Verhandlung angedroht.

Zur Beurteilung der gegenwärtigen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 18.10.2018 - mit am 28.01.2019 zuletzt integrierten Kurzinformationen - herangezogen.

1. Feststellungen:

1.1. Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist ein Staatsangehöriger der Türkei und stammt aus XXXX . Er bezeichnet sich der Volksgruppe der Kurden zugehörig und bekennt sich zur Religion der Aleviten, ist ledig und hat keine Kinder. Der BF lebte in der Türkei bei seiner Familie in XXXX und verdiente sich seinen Lebensunterhalt in der Türkei als Koch. Seine Eltern und Geschwister leben nach wie vor in der Türkei.

1.2. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war oder er im Falle der Rückkehr einer solchen ausgesetzt sein wird. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte für die Annahme ergeben, dass der BF im Falle der Rückkehr in eine aussichtslose Notlage geraten oder am Leben oder der körperlichen Unversehrtheit gefährdet ist. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung aus berücksichtigungswürdigen Gründen liegen nicht vor. Die öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung des BF, der als Fremder illegal eingereist ist und einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wiegen höher als das private Interesse an seinem weiteren Verbleib in Österreich, zumal er auch kein tatsächliches Familienleben in Österreich führt und auch sonst keine ausreichenden Gründe für die Annahme einer bereits erfolgten nachhaltigen Integration bestehen.

1.3. Der BF wurde am 04.01.2017 im Zuge einer Kontrolle durch die Finanzpolizei bei der illegalen Ausübung einer Beschäftigung betreten.

1.4. Zur im gegenständlichen Fall relevanten Lage im Herkunftsland Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern

Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in

den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen.

Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder

zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom

15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile

der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins

ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit,

die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale

Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko

von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber

auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte

gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA

19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder

militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb

des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

.BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 13 von 98

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von

Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der

Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen

Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3

des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari,

Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen

zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und

Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu

Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im

Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016

von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen

schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil

schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für

die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend

kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP

1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien

terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen

Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten

Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer

Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA

3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter

Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen

Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von

Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die

Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen

denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich

bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als

terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so

genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als

terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter

Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit

dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine

Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat,

Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und

.BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 14 von 98

auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen

Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet

und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Republik Türkei

- AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/

Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018

- BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei

- Sicherheit und Kriminalität,

https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff

9.10.2018

- CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016):

Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in

South-Eastern [CommDH (2016)39],

https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-

en.pdf, Zugriff 19.9.2018

- EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153

final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-

turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

- EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018):

Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/

tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018

- MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://

www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff

20.9.2018

- OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on

the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update

on the South-East; January - December 2017, März 2018,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-secondohchr-

turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018

- SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten -

Stand August 2016,

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tursicherheitslage-

suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017

Sicherheitsbehörden

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).

Quellen:

?AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

?AM - Al Monitor (17.7.2018): Erdogan makes major security changes as he starts new term, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey--revamping-national-security-apparatus.html, Zugriff 18.9.2018

?Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 18.9.2018

?EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016)366 final], http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 18.9.2018

?FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 18.9.2018

?HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main- opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx? pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018

?HDN - Hürriyet Daily News (8.7.2018): Over 18,500 Turkish public workers dismissed with new emergency state decree, http://www.hurriyetdailynews.com/over-18-500-turkish-public-workers-dismissed-with-new-emergency-state-decree-134290, Zugriff 18.9.2018

?Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workers-emergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html, 18.9.2018

?NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 18.9.2018

?ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).

Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (IHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt gegen Personen angewendet, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer .BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (IHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (IHD 6.4.2018).

Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).

Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018).

Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).

Quellen:

?AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 24.8.2018

?HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html, Zugriff 24.8.2018

?IHD - Insan Haklari Dernegi (6.4.2018): 2017 BALANCE - SHEET OF HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY - The year that Passed under State of Emergency, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_report-2.pdf, Zugriff 18.9.2018

?ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

?OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 24.8.2018

?OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID= Berichten 22718&LangID=E, Zugriff 18.9.2018

?SRF - Schweizer Radio und Fernsehen (1.3.2018): Foltervorwürfe an Türkei - Schläge, Elektroschocks, Eiswasser, sexuelle Übergriffe, https://www.srf.ch/news/international/foltervorwuerfe-an-tuerkei-schlaege-elektroschocks-eiswasser-sexuelle-uebergriffe, Zugriff 18.9.2018

Allgemeine Menschenrechtslage

Die Türkei gehört dem Europarat an und ist Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, des 1. Zusatzprotokolls (Grundrecht auf Eigentum) sowie des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, des 11. (obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), des 13. (uneingeschränkte Aufhebung der Todesstrafe) und des 14. Zusatzprotokolls. Allerdings hat die türkische Regierung unter Berufung auf den Notstandsfall den Europarat am 22.07.2016 über eine allg. Derogation nach Art. 15 EMRK notifiziert sowie über eine entsprechende Derogation vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Eine Notifizierung über die Rücknahme der Derogation nach Aufhebung des Notstandes steht noch aus. Die Türkei ist weiterhin Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Sie gehört neben dem Europarat auch der OSZE an. Für sie gelten die menschenrechtsrelevanten Dokumente dieser Organisationen, vor allem das Kopenhagener Dokument von 1990. Der Europarat ist im Rahmen von Justizprojekten in der Türkei tätig. Darüber hinaus gehört die Türkei zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (11.05.2011), das für die Türkei zum 01.08.2014 in Kraft getreten ist (AA 03.08.2018).

Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt. Davon waren u. a. Journalisten politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt, doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung. die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden, gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).

Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche. die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen. die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. (OHCHR 3.2018).

Die türkische Menschenrechtsvereinigung (IHD) verlautbarte am 23.1.2017, dass 2016 ein katastrophales Jahr für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gewesen sei, da fast 50.000 Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden, vor allem seit der Erklärung des Notstandes nach dem gescheiterten Staatsstreich. Besonders betroffen waren die südöstlichen Provinzen der Türkei (TP 24.1.2017). Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen verstärkt vor. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt (AA 03.08.2018).

Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte. einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017).

In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).

Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands bis zur Aufhebung am 18.7.2018 hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt - von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vgl. ZO 20.3.2018).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Der EGMR sieht nunmehr Beschwerden aus der Türkei erst dann als zulässig an, wenn der nationale Rechtsweg einschließlich Individualbeschwerde ausgeschöpft wurde, was zu einer deutlichen Verringerung der Neuverfahren vor dem EGMR führte. Allerdings ist es fraglich, ob es bei dieser Einschätzung des EGMR bleiben wird, da ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.01.2018, in dem es die Freilassung der sich Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay anordnete, von den Instanzengerichten nicht umgesetzt wurde; u.a. mit dem Argument, das Verfassungsgericht habe seine Kompetenzen überschritten und wie eine Tatsacheninstanz agiert (AA 03.08.2018). Seit September 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 75 Fällen eine oder mehrere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt, die vor allem das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, friedliche Versammlungsfreiheit, Verbot der Diskriminierung und Schutz des Eigentums. Insgesamt wurden 2.075 neue Anträge einem Entscheidungsgremium zugeteilt, wodurch die Zahl der anhängigen Anträge auf 7.982 anstieg. Die EU hat die Türkei aufgefordert, ihre Anstrengungen zur Umsetzung aller Urteile des EGMR zu intensivieren. Die Türkei hat 938 Fälle im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens anhängig (EC 9.11.2016).

Die EMRK ist aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar. EMRK und Rechtsprechung des EGMR werden jedoch bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht ausreichend berücksichtigt. Das türkische Justizministerium bemüht sich gemeinsam mit EU und Europarat auch durch Fortbildungen für Richter und Staatsanwälte um Abhilfe. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats mit der Türkei aufgrund nicht umgesetzter Urteile wie Ülke/Türkei (Wehrdienstverweigerung) oder Xenides-Arestis/Türkei (Eigentumsfragen in Nord-Zypern) (AA 03.08.2018).

11. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Der Geltungsbereich der im Rahmen der Notverordnungen erlassenen restriktiven Maßnahmen hat sich im Laufe der Zeit entgegen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf viele oppositionelle Stimmen in den Medien und in der Wissenschaft ausgedehnt. Die Meinungsfreiheit ist ernsthaft unter Druck geraten. Gesetzgebung und Praxis entsprechen nicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Strafverfahren gegen Journalisten, Menschenrechtsanwälte, Schriftsteller oder Nutzer sozialer Medien, die Schließung zahlreicher Medien oder die Ernennung von Treuhändern durch die Regierung zu deren Verwaltung sind besorgniserregend. Diese beruhen meist auf einer selektiven und willkürlichen Anwendung des Gesetzes. Insbesondere die übermäßige Anwendung des Konzepts der terroristischen Propaganda bzw. der Unterstützung einer terroristischen Organisation, einschließlich von Aussagen, die eindeutig nicht zu Gewaltanwendung führen, und die Kombination mit einer übermäßigen Interpretation des Begriffes der Verleumdung haben die Türkei auf einen gefährlichen Weg gebracht. 150 Journalisten sind nach wie vor inhaftiert. Das Internetgesetz und die allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen es der Exekutive weiterhin, Online-Inhalte ohne Gerichtsbeschluss aus unangemessen vielen Gründen zu sperren (EC 17.4.2018; CoE- CommDH 15.2.2017).

Das fortdauernde Muster von Verletzungen der Meinungsfreiheit aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung durch die Gerichte erfüllen nicht die in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen. Die Türkei ist Gegenstand der höchsten Zahl von Urteilen des Gerichtshofs zu Artikel 10 der Konvention. Die Mehrzahl der Strafverfahren gegen Journalisten wurde auf der Grundlage unbegründeter Vorwürfe und ohne sachliche Beweise außer ihrer rein journalistischen Tätigkeit eingeleitet. Es besteht eine mangelnde Berücksichtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei der Beurteilung durch das Gericht und überdies eine offensichtlich unplausible Einschätzung, wonach die Angeklagten zugleich sowohl Propaganda für die Gülen-Bewegung als auch für die Kurdische Arbeiterpartie (PKK) betrieben hätten, zwei Organisationen, die in Gegnerschaft zueinander stehen. Zudem fehlen sachliche Beweise, die irgendeinen Zusammenhang zwischen den Verdächtigen und diesen Organisationen herstellen, abgesehen von kritischen Zeitungsartikeln zu Fragen, die von öffentlichem Interesse sind. Maßnahmen, die mit Freiheitsentzug gegen Journalisten verbunden sind nicht nur ungerechtfertigt und unverhältnismäßig, sondern tragen auch zu einem Klima der Selbstzensur bei. Journalisten werden in den meisten Fällen auf der Grundlage fadenscheiniger Anschuldigungen und mit sehr wenig oder gar keinem Prima-Facie-Beweis festgenommen (CoE-CommDH 10.10.2017).

Viele türkische Bürgerinnen und Bürger äußern ihre Meinung weiterhin offen unter Freunden und Verwandten, inzwischen sind sie jedoch vorsichtiger gegenüber dem, was sie online veröffentlichen oder öffentlich sagen. Nicht jede regierungskritische Äußerung wird bestraft, aber die Willkür der Strafverfolgung, die oft zu Untersuchungshaft führt und das Risiko langer Haftstrafen birgt, schafft zunehmend eine Atmosphäre der Selbstzensur (FH 1.2018). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren oder Ermittlungen einzugehen. Die Regierung beschränk auch Äußerungen von Einzelpersonen, die mit gewissen religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten sympathisieren. Viele, die zu sensiblen Themen schreiben oder sich äußern oder die Regierung kritisieren, riskieren behördliche Untersuchungen (USDOS 20.4.2018).

Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin funktionieren, sind sie einem enormen politischen Druck ausgesetzt und werden regelmäßig strafrechtlich verfolgt. Die Versuche der Regierung, Nachrichtenseiten und andere Online-Informationsquellen zu blockieren, wurden 2017 fortgesetzt (HRW 18.1.2018; RSF 2018). Die Mainstream-Medien, insbesondere das Fernsehen, spiegeln Regierungspositionen wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen (FH 1.2018). Den meisten Zeitungen und Fernsehsendern fehlt es an Unabhängigkeit und sie fördern die politische Linie der Regierung (HRW 18.1.2018).

Die überwiegende Mehrheit der inhaftierten Journalisten werden Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Zahlreiche Journalisten kehrten aus Angst vor Verhaftungen nicht in die Türkei zurück. Hunderte weitere blieben ohne Arbeit, nachdem die Regierung Medien geschlossen hatte (USDOS 20.4.2018).

Im Jahr 2017 begannen mehrere große, politisch motivierte Prozesse gegen Journalisten wegen terroristischer Anschuldigungen. Die Beweise bestanden aus schriftlichen Beiträgen und der Berichterstattung der Journalisten selbst, die nicht für Gewalt eintraten, sowie aus unbewiesenen Behauptungen über Verbindungen zu terroristischen Organisationen oder die Beteiligung am Putschversuch vom Juli 2016. Diese Verfahren wurden trotz des Fehlens glaubwürdiger Beweise fortgesetzt (HRW 18.1.2018). Journalisten sitzen mitunter mehr als ein Jahr bis zum Prozessbeginn im Gefängnis, und lange Gefängnisstrafen werden zur neuen Norm - in einigen Fällen werden Journalisten zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung verurteilt. Inhaftierten Journalisten und geschlossenen Medien wird jeder wirksame Rechtsweg verwehrt. Selbst Verfassungsgerichtsurteile werden nicht mehr automatisch umgesetzt. Die Türkei rutschte im World Press Freedom Index 2018 um zwei Plätze [1.Rang = bester Wert] nach unten und belegt Rang 157 von 180 Ländern (RSF 2018).

Die missbräuchliche Anwendung des Art. 299 hinsichtlich der Beleidigung des Staatspräsidenten führte zu einer unangemessenen Einschränkung der Meinungsfreiheit. Der türkische Außenminister rief Staatsbürger im Ausland dazu auf, entsprechende Fälle dem Präsidenten zu melden, damit im Ausland Klagen erhoben werden können (PACE 22.6.2016).

Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG in Syrien kritisiert haben. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erließ Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilten, wurden Untersuchungen eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavu§oglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin- Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige würden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (Anadolu 27.1.2018). Allein in den ersten zehn Tagen der am 20.1.2018 gestarteten "Operation Olivenzweig" wurden 311 Personen, darunter Journalisten, Politiker und Aktivisten, verhaftet, weil sie auf irgendeine Weise etwas Kritisches über den Militärschlag gesagt oder geschrieben hatten. Im Sprachgebrauch des Innenministeriums waren sie alle Terrorpropagandisten. 170 Autoren, Schauspieler, Hochschullehrer, Journalisten und ehemalige Politiker richteten gleich zu Beginn der Offensive einen offenen Brief an das Parlament, in dem sie zum Frieden aufriefen. Das machte sie zu Zielscheiben der Regierung. Die Zahl der Festgenommenen stieg nach amtlichen Angaben auf 786 (Die Welt 19.2.2018).

Angesichts des Währungsverfalls im August 2018 sprach Staatspräsident Erdogan von "Wirtschaftsterroristen", die der Türkei durch die Verbreitung falscher Berichte Schaden zufügen. Diese würden die volle Kraft des Gesetzes spüren. Laut Innenministerium wurden 346 Social-Media-Konten identifiziert [Stand 13.8.2018], die durch ihre Kommentare eine negative Wahrnehmung der türkischen Wirtschaft erzeugten. Das Ministerium kündigte nicht weiter definierte rechtliche Maßnahmen an. Die Staatsanwaltschaften von Istanbul und Ankara haben zudem Ermittlungen gegen Personen eingeleitet, die im Verdacht stehen, an Aktionen beteiligt zu sein, die die wirtschaftliche Sicherheit der Türkei bedrohen (Reuters 13.8.2018, vgl. WZ 13.8.2018).

12. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (AA 3.8.2018). Der Rechtsrahmen im Bereich der Versammlungsfreiheit entsprach bis zum Putschversuch 2016 im Großen und Ganzen den europäischen Standards (ÖB 10.2017). Bereits seit den regierungsfeindlichen Demonstrationen im Sommer 2013 wurde die Versammlungsfreiheit allmählich eingeschränkt. Nach dem Putschversuch ist sie noch weiter eingeschränkt worden (BTI 2018). Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 3.8.2018; vgl. FH 1.2018).

Während Pro-Regierungskundgebungen durchgeführt werden dürfen, werden z.B. die Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und Arbeitergruppen, Veranstaltungen sexueller Minderheiten, Proteste von Opfern der staatlichen Säuberungen und Versammlungen der Oppositionsparteien eingeschränkt. In der Praxis werden bei pro-kurdischen oder politischen Versammlungen des linken Spektrums regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Betroffen von Versammlungsverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind auch immer wieder Gewerkschaftsmitglieder. Die Behörden in Ankara verhängten Ende September 2017 ein pauschales Demonstrationsverbot, das später verlängert wurde und bis zum Jahresende 2017 in Kraft blieb (FH 1.2018; vgl. EC 17.4.2018). Auf Grundlage von während des Ausnahmezustandes eingeräumten Befugnissen (Ausweitung der Befugnisse von Gouverneuren, Sicherheitsbeamten, Staatsanwälten etc.) wurden Demonstrationen in einigen Provinzen und Bezirken völlig verboten (ÖB 10.2017; vgl. EC 17.4.2018). Im Dezember 2017 hob der Verfassungsgerichtshof auf Antrag einer Oppositionspartei mehrere Beschränkungen für Zusammenkünfte und Märsche auf (EC 17.4.2018).

Die Organisation von Demonstrationen ist fast unmöglich geworden, da die Sicherheitskräfte regelmäßig massive Gewalt anwenden, um "illegale" Versammlungen zu verhindern (BTI 2018). Es gab eine erhöhte Anzahl von Strafen für Teilnehmer an nicht genehmigten Veranstaltungen, die ebenfalls abschreckend wirkten. Die unbefugte Abhaltung solcher Demonstrationen führte mitunter zu einer gewaltsamen Auflösung durch die Polizeikräfte (EC 17.4.2018). Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeilicher Ingewahrsamnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen nicht selten vor. Nicht genehmigte Versammlungen werden häufig unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst (AA 3.8.2018). Sicherheitsbeamte haben willkürliche und unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten angewendet, inklusive des Einsatzes von Wasserwerfern, Plastikkugeln und scharfer Munition (ÖB 10.2017).

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015).

Mit Beendigung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 trat ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Demnach können Gouverneure die Bewegungsfreiheit von Personen für einen Zeitraum von 15 Tagen einschränken, die im Verdacht stehen, die öffentliche Ordnung an bestimmten Orten zu stören. Die Gouverneure können das Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einzuschränken sowie Einzelpersonen verbieten, ihre auch lizenzierten Waffen oder Munition zu tragen oder zu transportieren. Sie werden befugt, außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen zu verkünden. Im neuen Gesetz wird in einem vorläufigen Artikel, der dem türkischen Anti-Terror-Gesetz hinzugefügt wurde, die Haftdauer bei terroristischen Verbrechen auf 48 Stunden festgelegt, obwohl sie bei kollektiver Begehung auf vier Tage verlängert werden kann. Dieser Artikel hat eine Gültigkeit von drei Jahren ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens. Die Haftdauer kann bei Bedarf zweimal verlängert werden (TM 25.7.2018). Eine UN-Expertengruppe hielten den türkischen Behörden im Juli 2017 vor, ständig Sicherheitsüberlegungen ins Treffen zu führen, um Dissens und Kritik ins Visier zu nehmen. Dies hat zur Folge, dass das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt wird (OHCHR 14.7.2018).

Während das Gesetz die Vereinigungsfreiheit vorsieht, gibt es hier zunehmend Einschränkungen. Laut Gesetz müssen die Behörden zwar nicht über die Gründung einer Vereinigung informiert werden, doch müssen die Behörden im Voraus in Kenntnis gesetzt werden, wenn es zu einem Interagieren mit internationalen Organisationen kommt. Bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland muss den Behörden eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt werden, was laut Verbänden und Vereinen eine Last für deren Wirken darstellt (USDOS 20.4.2018). Nach dem gescheiterten Militärputsch wurden mehrere Dekrete erlassen, die u. a. auch die Schließung von Vereinen vorsahen. Per Dekret wurden von den insgesamt 110.000 Vereinen in der Türkei 1.495 geschlossen (ÖB 10.2017; vgl. USDOS 20.4.2018).

12.1. Opposition

Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Die links-kurdische Partei HDP steht im Zuge von Anklagen gegen 57 ihrer 59 Abgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten im Juni 2016 (auch Abgeordnete anderer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung betroffen) politisch unter Druck. Zahlreiche HDP-Abgeordnete der vorangegangenen Legislaturperiode befinden sich in Untersuchungshaft, darunter der ehemalige Ko-Vorsitzende Selahattin Demirta§. Das Parlament hat neun Abgeordneten der HDP nach rechtskräftiger Verurteilung ihr Mandat entzogen. Den HDP-Abgeordneten wird zu großen Teilen Terrorismus-Unterstützung (PKK) vorgeworfen. Damit drohen ihnen im Falle von Verurteilungen lange Haftstrafen sowie ein fünfjähriges Politikverbot und damit der Verlust ihrer Mandate (AA 3.8.2018; vgl. EC 17.4.2018). Neun HDP-Parlamentarier befanden sich Ende 2017 im Gefängnis. 278 Verfahren wurden gegen 41 HDP-Abgeordnete eingeleitet (SCF 1.2018). Selahattin Demirtas wurde Anfang September 2018 wegen seiner Äußerungen während der kurdischen Neujahrsfeiern im März 2013 zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ein Gericht befand ihn der Terrorpropaganda schuldig. Im Hauptverfahren drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Zusammen mit ihm wurde der frühere HDP-Abgeordnete Sirri Sürreya Önder zu drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (DW 7.9.2018).

Nebst der Verhaftung von hochrangigen Politikern, wurden auch mindestens 5.000 Mitglieder der HDP - darunter 80 Bürgermeister - inhaftiert (TM 1.5.2018). Zwischen November 2014 und November 2017 wurden 93 Bürgermeister und Vizebürgermeister ihrer Ämter enthoben und verhaftet, von denen 22 nach einem Verfahren wieder freigelassen wurden und 71 noch im Gefängnis sind. Elf lokale Verwalter wurden wegen terroristischer Anschuldigungen zu insgesamt 89 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt (EC 17.4.2018). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, die von ihrer Schwester-Partei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), bestellt werden, und Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018). Die Regierung versucht, den Einfluss der HDP bzw. ihrer regionalen Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird zahlreichen DBP-Mitgliedern die Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete sind insgesamt 51 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 3.8.2018). Während des Wahlkampfes 2018 haben die türkischen Behörden einige der Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen. Darüber hinaus hat die Partei physische Angriffe von Unbekannten während einiger ihrer Kampagnen erlitten (ICG 13.6.2018).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018).

Das Europäische Parlament verurteilt im Februar 2018 den Beschluss des türkischen Parlaments aufs Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben (HDN 9.2.2018).

Der Parlamentsabgeordnete und Vize-Parteichef der sekularen, kemalistischen CHP, Enis Berberoglu, erhielt im Juni 2017 vor einem Gericht in Istanbul wegen angeblicher Spionage eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Er soll der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugearbeitet haben (SO 14.6.2017). Das Berufungsgericht ordnete zwar im Oktober 2017 einen neuen Prozess an, lehnte jedoch die Freilassung Berberoglus ab (DS 10.10.2017). Am 20.9.2018 bestätigte das Kassationsgericht in seinem Urteil die im Februar 2018 auf fünf Jahre und zehn Monate reduzierte Haftstrafe, verfügte jedoch gleichzeitig seine Freilassung bis zum Ende der parlamentarischen Legislaturperiode, denn Berberoglu konnte bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 sein Abgeordnetenmandat wiedererlangen (HDN 20.9.2018). Im Juni 2018 ist Eren Erdem, ein früherer CHP-Abgeordneter, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in Istanbul wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" festgenommen worden. Erdem drohen bis zu 22 Jahre Haft (ZO 29.6.2018, vgl. BBC 29.6.2018). Im Juli hat Staatspräsident Erdogan eine Strafanzeige gegen den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kiligdaroglu, und 72 weitere CHP-Parlamentarier wegen Beleidigung durch die Verbreitung eines Cartoons auf Twitter eingereicht (HDN 18.7.2018).

Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdogan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die iYi-Partei, alles Oppositionspartein (OSCE/ ODIHR 25.6.2018).

Das letzte Verbot gegen eine politische Partei wurde 2009 gegen die pro-kurdische DTP (Demokratik Toplum Partisi) verhängt, deren Nachfolgepartei BDP (Baris ve Demokrasi Partisi) jedoch spätestens mit Beginn des Lösungsprozesses zwischen der Regierung und PKK Chef Öcalan Ende 2012 als etablierte Partei im türkischen Parlament anerkannt war. Ende April 2014 traten die BDP-Parlamentsabgeordneten mehrheitlich zur Schwesterpartei HDP (Halklarin Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker) über, die als "Dachpartei" weitere linksgerichtete Organisationen umfasst und über das kurdische Spektrum hinaus weitere Wählerschichten ansprechen soll. Für die Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Lösungsprozess. Sie wurde am 07.06.2015 erstmals als Partei ins Parlament gewählt (zuvor war sie mit unabhängigen Kandidaten vertreten), am 01.11.2015 sowie am 24.06.2018 gelang ihr mit 10,8 bzw. 11,7 % der Stimmen die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament.

Teilen der Basis der HDP / BDP wird nachgesagt, Verbindungen zur PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans, auch in Deutschland als ausländische Terrororganisation eingestuft) sowie zu deren politischer Dachorganisation KCK (Koma Ciwaken Kürdistan, Union der Gemeinschaften Kurdistans) zu pflegen. Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK betrifft insofern teilweise auch Mitglieder der HDP/ BDP. In diesem Rahmen wurden seit April 2009 nach Schätzungen unabhängiger Beobachter (u.a. der Europäischen Union) über 2.000 Personen in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger der BDP. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Die KCK hat nach Auffassung der türkischen Behörden zum Ziel, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen. Bei diversen Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert. Seit dem Militäreinsatz in Afrin verhafteten Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit öffentlichen Äußerungen gegen diesen Einsatz über 700 Personen wegen Terrorpropaganda (AA 03.08.2018).

Gegen Politiker der größten Oppositionspartei, der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) wird ebenfalls vorgegangen. Anfang November hatte Staatspräsident Erdogan Strafanzeige wegen Beleidigung gegen alle 133 Abgeordneten der CHP erstattet. Vorausgegangen waren regierungskritische Äußerungen bei einer Versammlung der CHP (Spiegel 8.11.2016). Für den CHP-Parlamentarier Enis Berberoglu forderte die Staatsanwaltschaft am 11.1.2017 lebenslange Haft, weil dieser vertrauliche Informationen des türkischen Geheimdienstes MIT veröffentlicht hätte, wodurch bewaffnete Terrororganisationen begünstigt wurden. Die Anklage ist Teil des Prozesses, der gegen die beiden Cumhuriyet-Journalisten, Gül und Dünder, geführt wird, die Waffenlieferungen des Geheimdienstes MIT nach Syrien im Jahr 2014 publik machten (TP 11.1.2017).

14. Todesstrafe

Die Türkei ist Vertragspartei des Protokolls Nr. 13 der EMRK zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen. Die problematischste Situation besteht nach wie vor im Südosten des Landes angesichts der mangelnden Untersuchungen der gemeldeten Tötungen durch Sicherheitsorgane im Kontext von Sicherheitsoperationen und PKK- Angriffen (EC 17.4.2018).

Zwar gab es nach dem Putschversuch eine immer wieder aufflammende Debatte um ihre Wiedereinführung. Diese ist aller Voraussicht nach derzeit nicht zu erwarten (AA 03.08.2018). Anlässlich einer Konferenz zum 12. Welttag gegen die Todesstrafe (2014) unterzeichnete der türkische Außenminister den Appell zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe (WCADP 9.10.2014).

15. Religionsfreiheit

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, 77,5% davon sind schätzungsweise Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Es gibt einen beträchtlichen Anteil an Aleviten. Die Aleviten-Stiftung geht von 25 bis 31% der Bevölkerung aus. Die schiitische Dschafari-Gemeinde schätzt ihre Anhängerschaft auf 4% der Einwohner. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen bestehen nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römische Katholiken und 16.000 Juden. Darüber hinaus sind 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zume

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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