TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/5 L521 2213919-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.09.2019
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Entscheidungsdatum

05.09.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L5212213920-1/18E

L521 2213919-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias KOPF, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 09.04.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

I.

II. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias KOPF, LL.M. über die Beschwerde von XXXX XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2018, Zl. 1205101410-180990501, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 09.04.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um die minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin. Beide Beschwerdeführerinnen sind Staatsangehörige des Irak, der kurdischen Volksgruppe zugehörig und sunnitischen Glaubens. Die Verfahren des Ehegatten der Erstbeschwerdeführern bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX alias XXXX , geb. XXXX , und des Sohnes der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Bruders der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX alias XXXX , geb. XXXX , wurden bereits im Jahr 2016 gesondert zu den Zahlen L502 2111576-1 und L502 2111575-1 geführt.

2. Die Beschwerdeführerinnen erlangten am 10.10.2018 bei der Österreichischen Botschaft in Ankara ein vom 11.10.2018 bis zum 11.02.2019 gültiges Visum D. Unter Verwendung dieses Visums reisten sie am 13.10.2018 in Wien rechtmäßig in den Schengenraum ein, wo sie am 15.10.2018 einen Wohnsitz in 1200 Wien begründeten.

3. Die Beschwerdeführerinnen stellten im Gefolge ihrer rechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 17.10.2018 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien am Tag der Antragstellung gab die Erstbeschwerdeführerin an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehörige des Irak zu sein. Sie sei XXXX in Kirkuk geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin führte aus, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehörige des Irak zu sein. Sie sei XXXX in Kirkuk geboren.

Im Hinblick auf ihren Reiseweg brachten die Beschwerdeführerinnen zusammengefasst vor, am 13.10.2018 den Irak legal mit einem österreichischen Visum über Ankara und Istanbul nach Wien verlassen zu haben.

Zu den Gründen ihrer Antragstellung befragt, führten die Beschwerdeführerinnen aus, keine eigenen Fluchtgründe zu haben. Sie stellen einen Antrag auf internationalen Schutz, weil ihr Ehegatte (Erstbeschwerdeführerin) bzw. Vater (Zweitbeschwerdeführerin) in Österreich den Status eines subsidiär Schutzberechtigen (in der Niederschrift unrichtig: Asylberechtigten) erlangt habe und sie in Österreich denselben Schutz wie ihr Ehegatte bzw. Vater beantragen würden.

4. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich Außenstelle Wiener Neustadt, am 18.12.2018 im Beisein eines Dolmetschers in kurdischer Sprache vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.

Eingangs bestätigte die Erstbeschwerdeführerin, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben. Man habe bei der Erstbefragung ihre Angaben auch schriftlich festgehalten, die Niederschrift sei ihr aber nicht rückübersetzt worden.

Befragt, ob es der Wahrheit entspreche, keine eigenen Fluchtgründe zu besitzen und den Antrag gestellt zu haben, um denselben Schutz wie ihr Ehegatte zu erhalten, erwiderte die Erstbeschwerdeführerin auf die Wiederholung dieser Frage, dass sie von ihren Cousins bedroht worden sei, da ihr Ehegatte seine Religion aufgegeben hätte. Aus diesem Grunde dürfe sie nicht zu ihm ziehen. Dies sei in letzter Zeit passiert.

Sie habe in der Erstbefragung zu Protokoll gegeben, keine eigenen Ausreisegründe zu haben, weil sie diesbezüglich nicht gefragt worden sei.

Zur Person und ihren Lebensumständen befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, die Zweitbeschwerdeführerin und sie seien Angehörige der kurdischen Volksgruppe und Muslima sunnitischen Glaubens. Sie habe zwecks Familienzusammenführung vor etwa eineinhalb Jahren die Österreichische Botschaft in Amman und im August dieses Jahres die Österreichische Botschaft in der Türkei aufgesucht. Sie sei in der Stadt Kirkuk geboren und habe dort sechs Jahre die Schule besucht. Zunächst habe sie bei ihren Eltern im Stadtteil XXXX und nach ihrer Eheschließung in XXXX , einem Vorort von Kirkuk, gelebt. Nach einer vorübergehenden Zwangsübersiedlung der Bevölkerung nach Erbil sei sie im Jahr 2003 wieder in diesen Vorort zurückgekehrt, wo sie bis zur Flucht ihres Ehegatten verblieben sei. Anschließend sei sie mit ihren Töchtern nach XXXX zu Bekannten übersiedelt. Ihr Vater sei verstorben. Ihre Mutter wohne in diesem Vorort von Kirkuk bei den zwei Brüdern der Erstbeschwerdeführerin. Sie habe - außer der Zweitbeschwerdeführerin - drei weitere Töchter, wobei eine Tochter verheiratet sei und zwei Töchter bei ihren Schwiegereltern in diesem Vorort von Kirkuk aufhältig seien. Sie sei beruflich als Schneiderin tätig gewesen. Sie stehe mit ihrer in Sulaimaniyya befindlichen Schwester in Kontakt.

Zu den Gründen ihrer Antragstellung befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie dort getrennt von ihrem Ehegatten leben habe müssen. Sie sei nach Österreich gereist, um mit ihm gemeinsam zu leben. Ihr Ehemann sei Polizist gewesen und mit dem Tod bedroht worden. Nach dem 16. Oktober sei in Kirkuk sehr viel zerstört und XXXX bombardiert worden. In den vergangenen fünf Monaten hätten ihre Cousins im Rahmen telefonischer Gespräche von ihrem Ehegatten erfahren, dass dieser seine Religion aufgegeben habe. Aus diesem Grunde hätten ihr ihre Cousins untersagt, zu ihrem Ehegatten zu ziehen.

Nachgefragt zu weiteren Details führte die Erstbeschwerdeführerin unter anderem aus, dass ihr Ehegatte keine Religion habe. Er sei ohne Bekenntnis. Sie könne sich nicht erinnern, wann sie den Cousin letztmals gesehen haben. In der Woche vor ihrer Ausreise sei er zu ihnen nach Hause gekommen. Hiebei habe sie ihrem Cousin über ihre Absicht informiert, ihren Ehegatten aufzusuchen und das Land zu verlassen. Ihre Cousins seien Salafisten. Ihr Cousin habe ihr erklärt, dass sie nicht weggehen dürfe. Ihr Ehegatte wäre für sie nicht mehr halal.

Befragt, ob es eine Bedrohungssituation gegeben habe, gab die Erstbeschwerdeführerin zu Protokoll: "Nein. Als er bei uns war, wusste er nicht, dass ich ausreise. Dann hat er zu meiner Schwester gesagt, dass ich ohne Wissen zu Zustimmung von ihnen das Land verlassen habe und meine Tötung daher ist erlaubt."

Was die Reaktion ihrer Brüder auf das Verhalten ihrer Cousins betrifft, schilderte die Erstbeschwerdeführerin, dass ihre Brüder nicht strenggläubig seien. Ein Cousin sei bei ihnen verwandtschaftlich einem Bruder gleichgestellt.

In der Folge legte die Erstbeschwerdeführerin dar, dass ihre Cousins in ihrem ehemaligen Wohnort in der Nähe von Kirkuk leben würden. Letztmals sei ihr Ende September 2018 untersagt worden, zu ihrem Ehegatten zu reisen. Erstmals sei dies glaublich im Juni 2018 erfolgt. Zwischenzeitlich habe sich nichts ereignet. Ihr Cousin habe ihr lediglich gesagt, dass sie sich nach der Scharia verhalten müsse.

Bei einer Rückkehr wisse sie nicht, was passieren würde. Ihre Cousins hätten sie bedroht. Ihrer Schwester hätten sie mitgeteilt, dass ihre Tötung wegen ihrer Nachreise zu ihrem Ehegatten erlaubt wäre.

Im Gefolge dessen wurde der Erstbeschwerdeführerin auch die Möglichkeit geboten, in die allgemeinen länderkundlichen Feststellungen der belangten Behörde zur Lage im Irak Einsicht zu nehmen und hiezu zur Wahrung des Parteiengehörs eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Die Erstbeschwerdeführerin verzichtete auf diese Möglichkeit.

Abschließend wurden der Erstbeschwerdeführerin Fragen bezüglich ihrer Integration in Österreich gestellt.

Befragt, ob sie noch etwas für die Zweitbeschwerdeführerin vorbringen wolle, legte die Erstbeschwerdeführerin dar, dass diese keine eigenen Gründe habe, sondern von denselben Gründen betroffen sei.

5.1. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2018 wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde der Erstbeschwerdeführerin der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) sowie unter Anwendung des § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.07.2020 erteilt (Spruchpunkt III).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Erstbeschwerdeführerin und den Feststellungen zu deren Person aus, die Erstbeschwerdeführerin habe den Irak verlassen, um hier mit ihrem Ehegatten, der subsidiär schutzberechtigt sei, leben zu können. Das Vorbringen bezüglich einer von ihren Cousins ausgelösten asylrechtlich relevanten Bedrohungssituation sei nicht glaubhaft.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung ferner Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der Erstbeschwerdeführerin zugrunde (vgl. die Seiten 9 - 56 des angefochtenen Bescheides).

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass es glaubhaft sei, dass die Erstbeschwerdeführerin den Irak verlassen habe, um hier mit ihrem Ehegatten leben zu können. Was das sonstige Vorbringen betrifft, so habe die Erstbeschwerdeführerin erst im Zuge der Einvernahme vor dem belangten Bundesamt erstmals erwähnt, dass ihre Cousins nicht gewollt hätten, dass sie ihren Ehegatten aufsuche. Ferner sei nicht plausibel nachvollziehbar, dass die Widersacher der Erstbeschwerdeführerin nach deren Ausreise plötzlich Todesdrohungen ausgesprochen haben sollen, zumal diese bei einem ernsthaften Interesse, ein Zusammenleben der Erstbeschwerdeführerin mit ihrem Ehegatten zu verhindern, bereits zuvor mehrmals die Möglichkeit gehabt hätten, die Erstbeschwerdeführerin an einem Verlassen des Irak zu hindern, dies aber unterlassen hätten. Bezüglich der von ihrem Ehegatten in dessen Asylverfahren geschilderten Ausreisegründen wurde - unter Verweis auf das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.09.2016, L502 2111576-1/9E - abschließend festgehalten, dass diesen die Glaubwürdigkeit versagt worden sei, weshalb nunmehr auch nicht glaubhaft ist, dass die Erstbeschwerdeführerin in irgendeiner Form hievon betroffen sei.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, die Erstbeschwerdeführerin habe keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Aufgrund des Umstandes, wonach dem Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin mit Bescheid des belangten Bundesamtes der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, sei der Erstbeschwerdeführerin dessen ungeachtet ebenfalls der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

5.2. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2018 wurde der Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde der Zweitbeschwerdeführerin der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II) sowie unter Anwendung des § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.07.2020 erteilt (Spruchpunkt III).

Begründend führte die belangte Behörde nach den Feststellungen zur Person der Zweitbeschwerdeführerin aus, die Zweitbeschwerdeführerin habe den Irak verlassen, um hier mit ihrem Vater, der subsidiär schutzberechtigt sei, leben zu können.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung ferner Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der Zweitbeschwerdeführerin zugrunde (vgl. die Seiten 3 - 42 des angefochtenen Bescheides).

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass es glaubhaft sei, dass die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin mit dieser den Irak verlassen habe, um hier mit dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin leben zu können. Ebenso glaubhaft sei, dass die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe habe. Bezüglich der von ihrem Vater in dessen Asylverfahren geschilderten Ausreisegründen wurde - unter Verweis auf das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.09.2016, L502 2111576-1/9E - festgehalten, dass diesen die Glaubwürdigkeit versagt worden sei, weshalb nunmehr auch nicht glaubhaft ist, dass die Zweitbeschwerdeführerin in irgendeiner Form hievon betroffen sei. Selbiges gelte für die von der Erstbeschwerdeführerin geäußerten Rückkehrbefürchtungen hinsichtlich des Verhaltens ihrer Cousins.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, die Zweitbeschwerdeführerin habe keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Aufgrund des Umstandes, wonach dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin mit Bescheid des belangten Bundesamtes der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, sei der Zweitbeschwerdeführerin dessen ungeachtet ebenfalls der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

6. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.12.2018 wurde den Beschwerdeführerinnen gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

7. Gegen Spruchpunkt I der vorstehend angeführten, den Beschwerdeführerinnen am 27.12.2018 persönlich zugestellten, Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der bevollmächtigen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte - für die Beschwerdeführerinnen gemeinsam verfasste - Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit, mangelhafte bzw. unrichtige Bescheidbegründung und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den Spruchpunkt I der angefochtenen Bescheide jeweils dahingehend abzuändern, dass den Anträgen auf internationalen Schutz Folge gegeben und den Beschwerdeführerinnen der Status einer Asylberechtigten zuerkannt wird, hilfsweise Spruchpunkt I der angefochtenen Bescheide zu beheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neues Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anzuberaumen.

Ferner wird der bisherige Verfahrensgang wiederholt und dargelegt, dass die Beschwerdeführerinnen den Irak aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten. Mangels der Fähigkeit ihres Heimatlandes, sie vor Übergriffen zu schützen, seien sie Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention.

Des Weiteren wird moniert, dass seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl die Ermittlungspflichten nach §§ 37 ff AVG nicht erfüllt worden seien. Die Erstbeschwerdeführerin habe bereits ausführlich zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates berichtet. Diese halte sie für die Begründung der Beschwerde aufrecht. Als sich die Erstbeschwerdeführerin noch im Irak aufgehalten habe, habe ihr Ehegatte in Österreich seine islamische Religion aufgegeben. Nach Kenntnis von diesem Umstand durch ihre Cousins, sei ihr von diesen verboten worden, zu ihrem Ehegatten zu reisen. Die Beschwerdeführerinnen seien sodann im Geheimen und ohne Zustimmung der Cousins ausgereist, weshalb ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit im Falle einer Rückkehr in den Irak massiv in Gefahr seien.

Abschließend wird auszugsweise aus der Abschlussthese zur Erlangung der Bezeichnung Akademischer Orientalist, eingereicht von XXXX , "Ehen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Österreich" zitiert.

8. Die Beschwerdevorlage langte jeweils am 31.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssachen wurden in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.

9. Am 21.02.2019 richtete das Bundesverwaltungsgericht an die belangte Behörde ein Ersuchen um Übermittlung der Verwaltungsakte bezüglich des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin und des Sohnes der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Bruders der Zweitbeschwerdeführerin.

10. In Entsprechung dieses Ersuchens langten am 27.02.2019 beim Bundesverwaltungsgericht die Verwaltungsakte den Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Vater der Zweitbeschwerdeführerin und den Sohn der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Bruder der Zweitbeschwerdeführerin betreffend ein.

11. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 12.03.2019 wurden den Beschwerdeführerinnen seitens des Bundesverwaltungsgerichtes die aktuellen länderkundlichen Informationen zur Lage im Irak zur Kenntnis gebracht und ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich hiezu schriftlich innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung dieses Schreibens zu äußern.

12. Am 28.03.2019 langte eine mit Telefax eingebrachte Stellungnahme der Beschwerdeführerinnen zu den ihnen mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.03.2019 übermittelten länderkundlichen Berichten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

In dieser wird unter auszugsweiser Zitierung der an die Beschwerdeführerinnen übermittelten Länderberichte die Lage der Atheisten im Irak thematisiert. Ferner wird in diesem Zusammenhang erneut auszugsweise auf die Abschlussthese zur Erlangung der Bezeichnung Akademischer Orientalist, eingereicht von XXXX , "Ehen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Österreich" hingewiesen.

13. Am 09.04.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der Beschwerdeführerinnen, deren bevollmächtigter Rechtsberatungsorganisation und eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch Sorani durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den Beschwerdeführerinnen einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der den Beschwerdeführerinnen bereits zur Stellungnahme übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Vater der Zweitbeschwerdeführerin wurde als Zeuge einvernommen.

Seitens des Zeugen wurde eine Bescheinigung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich über dessen Nichtmitgliedschaft in der Islamischen Glaubensgemeinschaft und in Kopie eine Abschrift aus dem irakischen Familienbuch samt Übersetzung in Vorlage gebracht.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der Verhandlung entschuldigt ferngeblieben.

14. Mit E-Mail vom 24.04.2019 brachten die Beschwerdeführerinnen im Wege ihrer bevollmächtigen Rechtsberatungsorganisation - in Entsprechung des in der mündlichen Verhandlung seitens des erkennenden Richters erteilten Auftrages - Ablichtungen eines zwischen der Erstbeschwerdeführerin und einer Schwester in einem sozialen Netzwerk geführten Gesprächsverlaufes in Vorlage. Des Weiteren legten die Beschwerdeführerinnen mehrere in Schwarz-Weiß gehaltene Fotografien vor, die den Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Vater der Zweitbeschwerdeführerin und den Sohn der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Bruder der Zweitbeschwerdeführerin mit dem Sänger XXXX zeigen.

15. Die mit E-Mail vom 24.04.2019 vorgelegten Ablichtungen eines zwischen der Erstbeschwerdeführerin und einer Schwester in einem sozialen Netzwerk geführten Gesprächsverlaufes wurden vom Bundesverwaltungsgericht einer Übersetzung zugeführt.

16. Mit E-Mail vom 24.04.2019 brachten die Beschwerdeführerinnen im Wege ihrer bevollmächtigen Rechtsberatungsorganisation zudem eine Videodatei in Vorlage.

17. Mit Note vom 26.04.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht um Mitteilung binnen zwei Wochen, was mit den vorgelegten Fotografien und der vorgelegten Videodatei bewiesen werden soll bzw. was auf diesen Bescheinigungsmitteln Entscheidungserhebliches abgebildet sei.

18. Am 03.05.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine weitere E-Mail der Beschwerdeführerinnen ein, wobei sich die in dieser Nachricht angesprochenen Bescheinigungsmittel nicht im Anhang befanden.

19. In Entsprechung des Ersuchens des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.04.2019 langte am 09.05.2019 die diesbezügliche Äußerung beim Bundesverwaltungsgericht ein, wonach mit den Fotografien und der Videodatei belegt werden soll, dass der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Vater der Zweitbeschwerdeführerin mit dem Anti-Islam Sänger XXXX befreundet sei. Dieser habe auf seinem Facebook- und Instagram-Account auch einige Fotografien mit dem Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin und dem Sohn der Erstbeschwerdeführerin bzw. dem Bruder der Zweitbeschwerdeführerin gepostet. Personen im Irak, etwa auch Mitglieder der Familie und Schwiegerfamilie des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin, hätten diese Postings gesehen, was die familiären Probleme noch komplizierter und verschärft habe.

Dieser Stellungnahme sind drei weitere Ablichtungen angeschlossen, die das freundschaftliche Verhältnis des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin zu XXXX belegen sollen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , ist Staatsangehörige des Irak und Angehörige der kurdischen Volksgruppe sowie sunnitischen Glaubens. Die Identität der Erstbeschwerdeführerin steht fest.

Sie wurde am XXXX in der Stadt Kirkuk im gleichnamigen Gouvernement geboren und lebte dort zunächst bei ihren Eltern im Stadtteil XXXX . Nach ihrer Eheschließung wohnte die Erstbeschwerdeführerin in XXXX , einem Vorort der nordirakischen Stadt Kirkuk. Im Anschluss an eine vorübergehende Zwangsübersiedlung der Bevölkerung nach Erbil kehrte sie im Jahr 2003 wieder in diesen Ort zurück, wo sie bis zur Flucht ihres Ehegatten verblieb. Danach lebte sie mit ihren Töchtern in XXXX in einem gemieteten Haus bei Bekannten.

Die Erstbeschwerdeführerin besuchte im Irak sechs Jahre die Schule. Nach ihrer Eheschließung im Alter von 14 Jahren führte sie den Haushalt und arbeitete von zu Hause aus als Schneiderin.

Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet und Mutter von fünf Kindern (ein Sohn und vier Töchter). Außer der Zweitbeschwerdeführerin leben der Ehegatte und der Sohn der Erstbeschwerdeführerin in Österreich. Diesen beiden Personen wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ebenfalls rechtskräftig bis 14.07.2010 subsidiärer Schutz gewährt (siehe dazu unten 1.5.). Die drei anderen Töchter halten sich im Irak auf. Eine Tochter ist verheiratet und zwei Töchter leben bei ihren Schwiegereltern im Vorort XXXX der Stadt Kirkuk. Ihr Vater ist bereits verstorben und ihre Mutter ist im Vorort XXXX der Stadt Kirkuk bei zwei Brüdern der Erstbeschwerdeführerin aufhältig. Zudem verfügt die Erstbeschwerdeführerin noch über drei Schwestern im Irak.

Die Erstbeschwerdeführerin erlangte am 10.10.2018 bei der Österreichischen Botschaft in Ankara ein vom 11.10.2018 bis zum 11.02.2019 gültiges Visum D. Unter Verwendung dieses Visums reiste sie am 13.10.2018 gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin in Wien rechtmäßig in den Schengenraum ein, wo sie am 15.10.2018 einen Wohnsitz in 1200 Wien begründeten. Am 17.10.2018 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX , ist Staatsangehörige des Irak, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensrichtung und ledig. Sie ist die minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des XXXX alias XXXX (L502 2111576-1).

Die Identität der Zweitbeschwerdeführerin steht fest.

Sie wurde am XXXX im Gouvernement Erbil geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin verzog mit ihrer Familie im Jahr 2003 in das Dorf in der Nähe von Kirkuk, wo sie bis zur Flucht ihres Vaters verblieb. Danach lebte sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in XXXX in einem gemieteten Haus.

Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte im Irak zehn Jahre die Schule.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat vier Geschwister (einen Bruder und drei Schwestern). Außer der Erstbeschwerdeführerin leben der Vater und der Bruder der Zweitbeschwerdeführerin ihn Österreich. Diesen beiden Personen wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ebenfalls rechtskräftig bis 14.07.2020 subsidiärer Schutz gewährt. Die drei Schwestern halten sich im Irak auf. Eine Schwester ist verheiratet und zwei Schwestern leben bei ihren Großeltern väterlicherseits im Dorf in der Nähe von Kirkuk. Ihr Großvater mütterlicherseits ist verstorben und ihre Großmutter mütterlicherseits ist im Dorf in der Nähe von Kirkuk bei zwei Onkeln mütterlicherseits aufhältig.

Die Zweitbeschwerdeführerin erlangte am 10.10.2018 bei der Österreichischen Botschaft in Ankara ein vom 11.10.2018 bis zum 11.02.2019 gültiges Visum D. Unter Verwendung dieses Visums reiste sie am 13.10.2018 gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin in Wien rechtmäßig in den Schengenraum ein, wo sie am 15.10.2018 einen Wohnsitz in 1200 Wien begründeten. Am 17.10.2018 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.3. Die Beschwerdeführerinnen hatten in ihrem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Die Beschwerdeführerinnen gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an.

Die Zweitbeschwerdeführerin pflegt einen westlichen Lebens- und Kleidungsstil.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerinnen in ihrem Herkunftsstaat Drohungen aufgrund der religiösen Einstellung des Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin ausgesetzt waren.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerinnen vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer sonstigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

1.4. Die Beschwerdeführerinnen verfügen über ein irakisches Ausweisdokument (Reisepass) im Original.

1.5. Der Ehegatte der Erstbeschwerdeführrein bzw. Vater der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX , stellte am 24.01.2015 für sich sowie als gesetzlicher Vertreter auch für seinen mitgereisten minderjährigen Sohn XXXX , jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.07.2015, Zlen. 1050668704 und 1050668806, wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG wurde XXXX und XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Die gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 15.09.2016, L502 2111576-1/9E und L502 2111575-1/12E, als unbegründet ab. Begründend hielt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere fest, XXXX drohe im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine von den Milizen des Islamischen Staates oder Mitgliedern der Patriotischen Union Kurdistans ausgehende individuelle Verfolgung, ebensowenig drohe ihm im Fall eines unerlaubten Entfernens vom Dienst als Polizist im Rückkehrfall eine Sanktion, der Verfolgungscharakter zuzumessen sei.

1.6. Zur gegenwärtigen Lage im Gouvernement Kirkuk werden folgende Feststellungen getroffen:

Kirkuk (von 1976 bis 2006 at-Ta?mim) ist eines der 19 irakischen Gouvernement mit einer Fläche von 10.282 km² und einer Bevölkerung von 1,25 Millionen Menschen. Das Gouvernement Kirkuk ist in die vier Distrikte al-Hawidscha (Hawija), Daquq, Kirkuk-Stadt und Dibis gegliedert. Die Bevölkerung ist mehrheitlich kurdisch, daneben sind Araber, Turkmenen und Aramäer vertreten. Die Hauptstadt des Gouvernements ist die gleichnamige Stadt Kirkuk, wobei im Großraum Kirkuk-Stadt mit ca. 850.000 Einwohnern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt.

Nach dem Unabhängigkeitsreferendum am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent. Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region. Nach Zahlen von Barzanis KDP (Kurdistan Democratic Party) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit.

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Da dies nicht erfolgte, sperrte die irakische Regierung den Luftraum und ließ keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zu. Inlandsflüge waren davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion konnten über Bagdad stattfinden. Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Im März 2018 wurde die Sperre des Luftraumes wieder aufgehoben.

Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu entsenden, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem Islamischen Staat geflohen war. Am 15.10.2017 eröffneten die irakischen Sicherheitskräfte, Counterterrorism Services, die Bundespolizei und die vom Iran unterstützten PMF eine Offensive in Kirkuk mit dem Ziel, die K1 Militärbasis, den Flughafen Kirkuk und die Ölfelder in Kirkuk von den kurdischen Peschmerga einzunehmen. Zuvor war ein Ultimatum der irakischen Armee an die kurdischen Kämpfer abgelaufen, sich auf ihre Stellungen zurückzuziehen, die sie vor dem 06.06.2014 hielten. Nach offiziellen kurdischen Angaben kamen bei den Gefechten etwa 30 Peschmerga-Kämpfer ums Leben. Auch die arabischen Kämpfer der Regierungskräfte sollen hohe Verluste gehabt haben. Von ihrer Seite hieß es, die Kurden hätten das von Deutschland für den Kampf gegen den Islamischen Staat gelieferte Milan-Panzerabwehrsystem eingesetzt. Die Kurden ihrerseits beklagen, dass sie mit US-Waffen bekämpft werden. Es gab zwar vereinzelt Gefechte, meist zogen sich die Peschmerga zurück

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25.09.2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peschmerga zogen sich am 16. und 17.10.2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück.

Nach den Gebietsverlusten insbesondere im Gouvernement Kirkuk erklärte Präsident Barzani am 29.10.2017 seinen Rücktritt per 01.11.2017. Die von Barzani geführte KDP beschuldigte ihren innerkurdischen Hauptrivalen PUK (Patriotic Union of Kurdistan), schuld am Verlust der Stadt Kirkuk zu sein, da diese mit der Zentralregierung in Bagdad einen Deal abgeschlossen und einige ihrer Peschmerga-Einheiten angewiesen habe, sich von ihren Positionen zurückzuziehen. Die beiden kurdischen Parteien haben unterschiedliche Interessen: Der Barzani-Clan (KDP) strebt die Unabhängigkeit von Bagdad an, der Talabani-Clan (PUK) eher die Unabhängigkeit vom Barzani-Clan - durchaus auch im Einvernehmen mit Bagdad. Ein Deal zwischen Bagdad und den Talabanis über einen kurdischen Rückzug aus Kirkuk war die Konsequenz dieser Konstellation. Verlierer sind indes beide kurdischen Parteien.

Der kurdische Rückzug war sowohl für die irakische Regierung als auch für den Iran ein Gewinn, zumal die iranisch beeinflussten Milizen ein neues Schlüsselgebiet erobert und die bisher umkämpften Städte konsolidiert wurden. Am 18. Oktober begannen in Kirkuk und Khanaqin zivile Unruhen gegen irakische Streitkräfte und schiitische Milizen. Premierminister Abadi ordnete eine Übergabe der Sicherheit in Kirkuk an die örtliche Polizei an. Frühere Berichte weisen darauf hin, dass irakische Truppen schiitische Milizen sich aus Khanaqin im Norden von Diyala ebenfalls zurückgezogen haben. Am 29.10.2017 konnte schließlich ein Waffenstillstand arrangiert werden. Die untenstehende Karte veranschaulicht die Lage per 29.10.2017:

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(Quelle: ISW 29.10.2017)

Laut der Verwaltung der Autonomen Region Kurdistan flohen infolge der Kämpfe bis zu 148.000 Kurden aus den umstrittenen Gebieten, besonders auch aus Kirkuk, vor den vorrückenden zentralirakischen Truppen und Milizen in die Autonome Region Kurdistan. Viele der zunächst im Oktober 2017 geflüchteten Kurden sind zwischenzeitlich in ihre Heimatorte zurückgekehrt.

Während viele in der Zwischenzeit zurückgekehrt sind, verbleiben Tausende in der Autonomieregion. Darunter sind vor allem Anhänger und Mitglieder der KDP (die KDP forcierte das Unabhängigkeitsreferendum) sowie Mitglieder der KDP-Sicherheitskräfte. Die KDP betrachtet die Sicherheitslage offiziellen Angaben zufolge als zu gefährlich und sieht die "umstrittenen Gebiete" als militärisch besetzt an, mit diesem Argument boykottierte die KDP auch die Parlamentswahlen in Kirkuk. Die PUK hat im Gegensatz zur KDP keine Sicherheitsbedenken. Kirkuk gilt als Hochburg der PUK. Es gab politische Gespräche zwischen PUK und KDP eine gemeinsame Position zu den "umstrittenen Gebieten" zu entwickeln, jedoch scheiterten KDP und PUK daran, eine gemeinsame Liste für die Wahlen in den "umstrittenen Gebieten" aufzustellen. Die kurdische Nachrichtenagentur Rudaw berichtete im April 2018, dass ein hochrangiges PUK-Mitglied die Volksmobilisierungseinheiten der Einschränkung der politischen Freiheiten in Zusammenhang mit der bevorstehenden Parlamentswahl am 12.05.2018 bezichtigen würde. Die Kurden gaben jedoch trotzdem in Kirkuk-Stadt ihre Stimmen ab.

Auch ein Großteil der kurdischen Mitarbeiter der Verwaltung von Kirkuk hat zunächst die Stadt verlassen. 48 kurdische Behördenmitarbeiter - den Funktionsbezeichnungen zufolge zumeist Führungskräfte - sind nach ihrer Flucht aus Kirkuk nicht dorthin zurückgekehrt. Aus diesem Grund wurden ihre Stellen mit ihren arabischen und turkmenischen Stellvertretern nachbesetzt. Kurden, die in Kirkuk blieben, wurden von ihren Funktionen nicht entbunden.

Insgesamt sollen sich laut inoffiziellen Schätzungen weiterhin ungefähr 40.000 Personen aus der Provinz Kirkuk in der Autonomieregion - vor allem in Erbil - aufhalten.

Die beiden dominanten kurdischen Parteien schätzen die Sicherheitslage völlig divergierend ein. Die KDP geht von einer Gefahr für Leib und Leben aus, was sich auch in der Berichterstattung ihr naher Medienunternehmen widerspiegelt. Medienberichten zufolge wurden Vorwürfe bzgl. Menschenrechtsverletzungen gegen Kurden vor allem von KDP-nahen Personen und Medienunternehmen erhoben sowie von einem arabisch-sunnitischen Stammesführer. Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs erwähnte in seinem Bericht vom 22. November eine Reihe ungeklärter Morde in der Provinz Kirkuk im Zeitraum vom 26. Oktober bis 3. November 2017, darunter an einem kurdischen Journalisten. Bei 12 anderen Opfern waren dem Sonderbeauftragten zum Berichtszeitpunkt keine Hintergründe bekannt. In Daquq kam es Berichten zufolge zur Zerstörung von kurdischem Besitz.

Der von der Zentralregierung eingesetzte arabische Gouverneur Rakan al-Jabouri wird von Kurden einer Arabisierungspolitik beschuldigt und von Turkmenen, dass er lokale Spannungen schürt. Das als KDP-nahe geltende Nachrichtenunternehmen Rudaw berichtete im Juli 2018 von der drohenden Zwangsräumung von drei kurdischen Dörfern mit 600 Familien. Diese hatten 2003 nicht in ihre ursprünglichen, vor der Arabisierung bewohnten, Dörfer zurückkehren können, weil sich dort nunmehr Ölfelder befanden. Die lokalen Behörden hätten ihnen andere Grundstücke als Kompensation zugewiesen, was von der staatlichen Ölgesellschaft North Oil Company nunmehr überraschend bestritten werde. In einem anderen Fall forderten Behörden die kurdischen Bewohner einer Siedlung im März 2018 zum Verlassen ihrer Häuser in Kirkuk mit dem Argument auf, dass diese illegal errichtet worden wären. Kurdische Bewohner Kirkuks beschuldigten irakische Beamte in der Folge des Versuchs, den Arabisierungsprozess in der Stadt wiederzubeleben. Hinzukommen einem Bericht zufolge gerichtliche Klagen als Erbe der Arabisierungspolitik von Saddam Hussein. Dieser hatte Araber angesiedelt, die kurdischen und turkmenischen Besitz erhielten. Ab 2003 kehrten die vertriebenen Kurden und Turkmenen auf ihr Land zurück. Aber nun erheben die ehemaligen arabischen Siedler vor Gericht Ansprüche auf das Land und die Immobilien und verklagen die kurdischen Besitzer der Immobilien.

Die vorhandenen Spannungen zwischen den kurdischen Einwohnern Kirkuks und der nunmehrigen arabischen Führung zeigen Vorfälle wie die Entfernung einer Statue des verstorbenen irakischen Präsidenten Jalal Talabani von der Zitadelle von Kirkuk. Die Universität Kirkuk untersagte das Betreten des Campus in kurdischer Tracht am "Tag der kurdischen Tracht" (Kurdish Clothing Day). Drei Personen wurden wegen des Hissens der kurdischen Flagge festgenommen, da das Hissen einer anderen Flagge als der irakischen als Ausdruck einer sezessionistischen Ideologie angesehen werde. Ein Mitarbeiter von Masoud Barzani beklage "Gräueltaten, Unterdrückung, Blockaden und kollektive Bestrafungen". Die wirtschaftliche Situation der verbliebenen Kurden habe sich zudem verschlechtert, weil die kurdische Kundschaft den Geschäften fehle.

Ein sunnitischer Scheich beschuldigte die PMF-Einheiten, mit ihrer Präsenz den schiitischen Bevölkerungsanteil in der Stadt erhöhen zu wollen, obwohl sie unfähig wären, die Sicherheit zu gewährleisten. Seinen Stamm erachtet er von PMF-Einheiten als bedroht, weshalb dieser nicht nach Kirkuk zurückkehren wolle. In anderen Quellen wird das Verhalten der zentralirakischen Truppen und der schiitischen Milizen als korrekt bezeichnet. Hinweise auf (systemische) asylrelevante Übergriffe schiitischer Milizen oder irakischer Sicherheitskräfte gegen kurdischen Mehrheitsbevölkerung aus ethnischen Motiven oder gegen sunnitischer Kurden und/oder Araber aus religiösen Motiven liegen nicht vor.

Die Hauptverkehrsverbindung zwischen Erbil und Kirkuk blieb zunächst weiterhin gesperrt und Kirkuk war von Erbil aus nur über eine stark frequentierte Straße mit 2,5 Stunden Fahrzeit erreichbar. Erst am 19.08.2018 einigten sich die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung in einem Abkommen auf gemeinsame Checkpoints, um die Straße öffnen zu können.

Die sicherheitsrelevanten Vorfälle in der Provinz Kirkuk unterliegen starken Schwankungen und regionalen Unterschieden. Anschläge wechseln sich mit Militäroperationen ab, welchen der Islamische Staat ausweicht. Besonders Kirkuk Stadt, der Distrikt Hawija und die Verkehrsrouten sind Schauplätze von Anschlägen.

Kämpfer des Islamischen Staate versuchen nach der Niederlage in Hawija im ländlichen Raum wieder Fuß zu fassen und nützen diesen als Ausgangsbasis für terroristische Aktivitäten, die auch Kirkuk-Stadt erreichen können. Besonders die Hamrin-Berge gelten als Rückzugsgebiet des Islamischen Staates, wo er sich unter der Bezeichnung "Weisse Flaggen" reorganisiert. Die Hamrin-Berge sind eine Art Niemandsland zwischen den kurdischen und zentralirakischen Truppen. Unter den Mitgliedern befinden sich auch Turkmenen. Der Islamische Staat weicht derzeit offenen Konfrontationen aus, indem er sich zurückzieht, wenn die irakischen Sicherheitskräfte einrücken und zurückkehrt, wenn diese wieder abziehen. In den besonders betroffenen Gebieten Kirkuks fehlt es an einer durchgehenden Präsenz von Sicherheitskräften und an nachrichtendienstlichen Informationen.

Im dritten Quartal des Jahres 2018 gab es in Kirkuk 117 sicherheitsrelevante Vorfälle mit insgesamt 251 Toten (das Gouvernement ist hier mit seinem früheren Namen at-Ta?mim bezeichnet):

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Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Kirkuk schwankt im Bereich von derzeit ca. einem Vorfall pro Tag. Ein signifikanter Anstieg (und damit eine drohende gravierende Verschlechterung der Sicherheitslage) ist jedoch nicht feststellbar.

Terroristische Angriffe (einschließlich solcher des Islamischen Staates) werden häufig mit improvisierten Sprengsätzen verübt.

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Die nachstehende Grafik zeigt die Anzahl bewaffneter Zusammenstöße, aufgeschlüsselt nach Distrikt:

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Aus der folgenden Grafik gehen rezente Vorfälle mit dem Einsatz von Sprengstoffen im Monat November 2018 hervor:

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Diese Grafik zeigt schließlich die von bewaffneten Auseinandersetzungen im Monat November 2018 betroffenen Gebiete:

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Terroristischen Aktivitäten des Islamischen Staates folgen in der Regel militärische Operationen gegen den Islamischen Staat und vice versa. So wurden am 18.07.2018 bei terroristischen Anschlägen an verschiedenen Orten des Gouvernement Kirkuk 11 Zivilisten verletzt, darunter zwei Kinder. Zuvor waren 13 Personen - mutmaßlich Mitglieder des Islamischen Staates verhaftet worden. Am Tag nach den Anschlägen wurden der weitere Mitgliedern des Islamische Staates festgenommen. 14 Kämpfer des Islamischen Staates wurden im Zuge von Luftangriffen durch die Anti-IS-Koalition getötet. Nachdem der Ermordung von acht Personen durch den Islamischen Staate ebenfalls im Juli 2018 ordnete der irakische Ministerpräsident ein verstärktes militärisches Vorgehen gegen den Islamischen Staat an. Polizei und kurdische Peschmerga sowie Volksmobilisierungseinheiten arbeiten dabei zusammen - die erste Kooperation mit den Peschmerga seit den Zusammenstößen nach dem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017. Im Hinblick auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ist die Anzahl im (erst im Oktober 2017 vom Islamischen Staat zurückeroberten) Distrikt Hawija in der Regel höher als jene in Kirkuk-Stadt.

Militärexperten zufolge ist der Islamische Staat zu al-Qaida-Taktiken zurückgekehrt und konzentriert sich derzeit darauf, Angriffe auf bestimmte Personengruppen durchzuführen. Von terroristischen Aktivitäten des Islamischen Staates besonders betroffen sind Angehörige der irakischen bzw. kurdischen Sicherheitskräfte, Ortsvorsteher, Stammesführer und Angehörige der PMF, in geringerem Ausmaß auch Zivilisten. Die irakischen Sicherheitskräfte sind derzeit nicht in ausreichender Zahl präsent, um entsprechend reagieren zu können. Mitentscheidend daran war der Konflikt zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung infolge des Unabhängigkeitsreferendums, der gemeinsame Operationen verunmöglichte und die Konfliktparteien außerdem von den Aktivitäten des Islamischen Staates ablenkte. Viele der Angriffe des Islamischen Staates finden entlang der Autobahn Kirkuk-Bagdad statt. Die Angreifer tragen falsche Uniformen und errichten falsche Checkpoints, um dort Reisende auszurauben. Die Hauptverbindung zwischen Kirkuk und Bagdad war durch diese Anschläge wochenlang unsicher und wenige wagten, sie zu benutzen. Die Flüge nach Kirkuk waren auf Wochen ausgebucht. Die Regierung erklärte die Straße mittlerweile für sicher. Lokale wie militärische Quellen hätten die Behauptungen des Islamischen Staates widerlegt, an dieser Straße dutzende Militärs und Milizionäre ermordet zu haben.

Es fehlt insbesondere in Hawija an einer Sicherheitsstrategie und an einer Koordinierung der schiitischen und sunnitischen Milizen. Die örtliche Bevölkerung ist verarmt, fühlt sich marginalisiert und ist von der Herrschaft des Islamischen Staates traumatisiert. In dem Dorf, in welchem im Februar 2018 ein Hinterhalt von Kämpfern des Islamischen Staates ca. 25 Todesoper unter PMF-Kämpfern fordert, zerstörten Volksmobilisierungseinheiten Häuser angeblicher IS-Mitglieder. Eine PMF-Homepage rief mit einem Foto von abgeschnittenen Köpfen zur Rache auf. Sheikh Ahmad Obeid, selbst Leiter einer sunnitischen Miliz in Hawija, rief zur Gründung einer lokalen, multi-ethnischen Miliz in Kirkuk auf. Darin müssten Sunniten und Schiiten, Araber, Kurden und Turkmenen vertreten sein. Als Folge des Hinterhaltes wurden Militäreinsätze gegen Schläferzellen im Distrikt Hawija durchgeführt.

1.7. Zur Lage von Atheisten und Personen, die sich vom Islam abgewandt haben, werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) gibt in einer Mitschrift eines Herkunftsländertreffens bezüglich Irak vom Juli 2017 die Aussage von Mark Lattimer, dem Leiter der Initiative Ceasefire Centre for Civilian Rights zum Thema Atheismus im Irak wieder. Laut Lattimer seien im Irak junge Menschen einer Reihe von Einflüssen ausgesetzt und es gebe auch eine Menge älterer Leute, die nicht religiös seien. Nur weil das Land immer stärker konfessionell geprägt sei, bedeute dies nicht notwendigerweise, dass alle Menschen religiöser würden. Es gebe eine starke kommunistische Strömung mit einer säkularen Einstellung im Irak, die immer noch stark in der irakischen Zivilgesellschaft verankert sei. Religion werde unterschiedlich stark praktiziert, dies heiße jedoch nicht, dass es leicht sei, sich als Atheist zu identifizieren, und nur selten geschehe so etwas öffentlich. Manchmal würden Personen angeben, sie seien Muslime, würden sich aber im Privaten als Atheisten definieren.

Die in den USA ansässige Online-Zeitung Al-Monitor berichtet in mehreren Artikeln über Atheismus im Irak. In einem älteren Artikel vom März 2013 wird die Auffassung vertreten, dass der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln habe, seine Verbreitung in allen gesellschaftlichen Gruppen und Altersgruppen allerdings neu sei. Zusätzlich zum Atheismus gebe es Personen, die sich als Agnostiker bezeichnen würden, und solche, die gewisse religiöse Erscheinungsformen oder Überzeugungen kritisieren würden, ohne den allgemeinen Rahmen der Religiosität zu verlassen. Al-Monitor habe sich mit einer Reihe von nicht gläubigen Personen getroffen, um über ihre Forderungen zu erfahren. Unter anderem hätten sie die Notwendigkeit einer rechtlichen und sozialen Anerkennung ihrer Existenz, einer Richtigstellung des Bildes, das die Gesellschaft von ihnen habe, sowie einer Gewährleistung öffentlicher Freiheiten betont. Die vorherrschende gesellschaftliche Meinung sei, dass es sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen wie den Zionisten oder Freimaurern ("Masons") handle. Es sei notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten vor religiösem Fundamentalismus zu schützen. Atheisten, Agnostiker und Säkularisten wären als Gruppe nicht anerkannt und es gebe keine irakischen oder internationalen Einrichtungen, die sie schützen oder verteidigen würden.

In einem Artikel vom 06.04.2014 wird ebenfalls dargelegt, dass der Atheismus im Irak tiefe historische Wurzeln bis ins 9. Jahrhundert habe. Neu sei jedoch die breite und umfassende Verbreitung durch alle Gesellschafts- und Altersklassen. Während es Atheismus ein "elitäres Phänomen" gewesen sei, das auf Intellektuelle und Gelehrte beschränkt war, sei es heutzutage ein allumfassendes Phänomen und nehme immer mehr zu. Der Artikel stellt fest, dass einer der möglichen Gründe dafür der religiöse Extremismus sein könnte, der in den letzten zwei Jahrzehnten im Irak präsent sei sowie die Auswirkungen von Religiosität auf das tägliche Leben sowie seinen autoritären Einfluss auf die Gesellschaft. Es gebe neben Atheisten auch jene Iraker, die sich als Agnostiker und nicht als vollwertige Atheisten bezeichnen. Darüber hinaus gebe es auch eine große Anzahl von Menschen, die bestimmte religiöse Manifestationen oder Glaubensvorstellungen kritisieren, jedoch den allgemeinen Rahmen der Religiosität nicht aufgeben. Viele von ihnen wären Absolventen religiöser Schulen. Al-Monitor stellt jedoch fest, dass das Phänomen (Atheismus und Agnostizismus) nicht auf junge Menschen beschränkt ist.

Im Jahr 2017 berichtet Al-Monitor in einem weiteren Artikel vom 22.06.2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solchen Gedankengutes mit einer "eisernen Faust" entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. Hakims Aufruf richte sich gegen die irakische Verfassung, die Glaubensfreiheit und freie Meinungsäußerung garantiere sowie Anstiftung gegen Andere und Zwang, eine bestimmte Glaubensrichtung zu übernehmen oder abzulehnen, kriminalisiere. Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Wer die fundamentalen Glaubensvorstellungen des Islam und / oder die Grundprinzipien von Religion im Allgemeinen in Frage stellen würde, würde von der Gesellschaft geächtet.

Al-Monitor berichtet weiter zum Phänomen Atheismus im Irak, dass ein bekannter Buchladen in Bagdad eine steigende Anzahl junger Leute verzeichnet habe, die Bücher über Atheismus kaufen würden. Selbst in der heiligen Stadt Najaf und innerhalb religiöser schiitischer Einrichtungen habe Al-Monitor mit mehreren religiösen Studenten gesprochen, die nicht nur damit begonnen hätten, die grundsätzlichen Bekenntnisse des Islam in Frage zu stellen, sondern sogar die grundsätzlichen Prinzipien von Religion im Allgemeinen. Diese Studenten würden unverzüglich von der Gesellschaft ausgeschlossen wenn sie ihre Auffassungen offen kundtun würden. Der Menschenrechtsaktivist, Autor und Satiriker Faisal al-Mutar habe al-Monitor gegenüber berichtet, dass Atheisten im Irak unter schwierigen Umständen leben würden, da die Regierung mehrheitlich aus islamischen Parteien bestehe und islamisch geprägte Milizen die Gesellschaft kontrollieren würden. Laut Faisal, der irakischen Atheisten auf sozialen Medien folgen würde, sei die Anzahl von Atheisten in verschiedenen Regionen des Irak steigend. Er habe vor kurzem die Organisation Ideas Beyond Borders gegründet, die irakische Atheisten verteidige und ihnen helfe, sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Viele (eine genaue Anzahl wird nicht genannt) Atheisten seien aufgrund von Schikanen und Drohungen gezwungen gewesen, aus dem Irak zu fliehen.

In einem Artikel vom 01.04.2018 berichtet Al-Monitor, dass Aussagen über die Dimension Atheismus im Irak sei aufgrund von Missverständnissen über das Konzept schwierig wären. Viele Kleriker, die den islamischen politischen Parteien nahestehen, setzen den Säkularismus mit dem Atheismus gleich. Andere Geistliche würden den Standpunkt einnehmen, dass liberale und kommunistische Ideen inhärent antireligiös sind und lehren würden, dass Gott nicht existiert. Nach dem gleichen Artikel haben gegen Atheismus gerichtet Aktivitäten starke politische Verbindungen zu islamischen Parteien, die den Irak seit 2003 regieren. Einer Gallup-Studie zufolge waren im Jahr 2012 88% der Iraker im Jahr 2012 religiös.

Senyar, eine Online-Zeitschrift für Kultur und Unterhaltung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, berichtet im März 2015 über die Mutanabbi-Straße in Bagdad, die als Kulturzentrum bekannt sei und in der man allerlei Bücher mit sensiblem Inhalt kaufen könne, darunter auch die Werke des britischen Atheisten Richard Dawkins oder "Die Satanischen Verse" des Schriftstellers Salman Rushdie. Der Artikel erwähnt, dass zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels die meisten strenggläubigen Strafverfolgungsbeamten, die normalerweise den Bücher- und Alkoholverkäufern hinterherjagen würden, an der Front gegen den Islamischen Staat kämpfen würden. Daher gebe es weniger Aufsicht von offizieller Seite. Wie es scheine, seien die Behörden stärker darauf bedacht, Bücher und Websites zu verbieten, die die konfessionellen Spaltungen anheizen würden, als Atheisten zu verfolgen.

Die Religion News Service (RNS) berichtet im Dezember 2013, dass es laut Abdul Sattar Jawad, einem Gastprofessor an der Duke University (USA) und Experten für Nahost-Studien, falsch, anzunehmen, dass es im Nahen Osten eine weit verbreitete Verfolgung nicht religiöser Menschen gebe. Obwohl es religiöse Führer gebe, die nicht gläubige Menschen hassen oder ablehnen würden, werde die meiste Gewalt von "Extremisten" verübt. Atheismus könne toleriert werden, wenn man sich nicht gegen die herrschenden Familien, Parteien, aufwiegelnden Geistlichen, Politiker und despotischen Herrscher und Regierungen stelle.

Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Jänner 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiters. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen.

Die in saudischem Besitz befindliche, in London herausgegebene Onlinezeitung Elaph schreibt im August 2017, dass sich in den letzten Jahren das Phänomen des Atheismus insbesondere unter jungen Leuten im Irak ausgebreitet habe. Dies sei auf die Korruption in der Regierung und die Verbreitung von Technologie in allen Bereichen des Lebens zurückzuführen. Andere würden das Phänomen hingegen nicht als einen "echten Atheismus", sondern viel mehr als eine Reaktion auf religiöse politische Parteien deuten. Der Autor des Artikels, der aus Bagdad berichtet, habe sich schließlich mit jemandem, der sich als Atheist bezeichne und weder an Gott noch die Propheten glaube, in einem Café getroffen. Weit entfernt von allen anderen Cafébesuchern habe der Atheist begonnen, von seiner Überzeugung zu erzählen und davon, wie er vor Jahren Zweifel an der Existenz Gottes bekommen habe und diese dann durch das Töten bestätigt worden sei, das gerade im Irak vorherrsche. Ein Bettler, der das Café betreten habe, habe laut zum Gebet aufgerufen. Der Atheist habe laut hörbar den Ruf mit der gebräuchlichen Antwort erwidert.

Über die Lage einzelner Atheisten geben nachstehende Berichte Aufschluss:

Die US-amerikanische Tageszeitung The Washington Times veröffentlicht im August 2017 einen Artikel über die Lage von Atheisten in der arabischen Welt. Sie berichtet unter anderem über Lara Ahmed, eine Studentin an der Universität Babylon (Provinz Babil) die ein Kopftuch trage und sich wie eine Muslimin verhalte, jedoch Atheistin sei. Sie wage es nicht, ihre Ansichten mit Fremden zu teilen. Es sei auch schwierig, im Südirak kein Kopftuch zu tragen, und die wenigen Frauen, die sich kein Kopftuch anziehen würden, würden laufend schikaniert. Viele Atheisten in der arabischen Welt würden angeben, sich weniger davor zu fürchten, für ihre Ansichten bestraft zu werden, als von gewaltsamen konfessionellen Gruppen, die die politische Unterstützung der Gläubigen suchen würden, angegriffen zu werden. Osama Dakhel, ein 21-jähriger Student der bildenden Künste in Bagdad, berichtet wie seine atheistischen Freunde sich zunächst ausgiebig mit dem Islam befasst, dann die Werke islamischer Reformatoren gelesen und sich schließlich mit Atheisten online ausgetauscht und so zu ihrer atheistischen Weltanschauung gekommen seien.

Khaleej Online berichtet in einem Artikel vom November 2016 über den 26-jährigen Hussein al-Nujaifi, der, obwohl er aus einer muslimischen Familie stamme, nun der atheistischen Strömung angehöre. Hussein habe vor drei Jahren sein Studium beendet und arbeite nun in einem Büro in Bagdad. Laut ihm seien "die Gläubigen" für das Töten und die Zerstörung verantwortlich, die es seit 2003 im Land gebe. Hussein und viele andere Leute, so Al-Khaleej Online, seien davon überzeugt, dass der Irak von einer Gruppe Geistlicher kontrolliert werde, die das Töten Unschuldiger und die Zerstörung des Landes unterstützen würden. Für gebildete junge Leute stelle der Atheismus eine Art Zuflucht für ihre Ambitionen dar, da sie nach Frieden suchen würden und davon ausgehen würden, dass die Klasse von Politikern, die islamischen Gremien vorstehen und religiöse Predigten halten würden, diesen verloren hätten.

Ahmad al-Dschumaili, ein Maler, habe al-Khaleej Online gesagt, dass Atheismus für ihn die Rettung vor der "Brutalität der Extremisten" sei, jedoch sei es für eine Person nicht leicht, sich zu ihrem Atheismus zu bekennen, dies gelte insbesondere in den Gebieten, in denen Einheiten der Volksmobilisierung Kontrolle ausüben würden. Dort, so al-Dschumaili, würden solche Personen bestimmt getötet.

Dschamal al-Bahadli, ein Atheist der auf sozialen Medien offen über seine Auffassungen spreche, hat gegenüber Al-Monitor angegeben dass er Todesdrohungen von schiitischen Milizen in Bagdad erhalten habe, was ihn 2015 dazu veranlasst habe, nach Deutschland zu emigrieren.

Die schwedische non-profit Organisation und Medienplattform Your Middle East berichtet in einem Beitrag zum Thema Atheismus im Irak vom Februar 2014 über einen irakischen Aktivisten, dessen Mission es sei, seine Freunde und andere junge Menschen über Atheismus aufzuklären. Der Aktivist, der sich den Namen Omar al-Baghdadi gegeben habe, lebe in einem zumeist von Sunniten bewohnten Viertel in Bagdad. Seine Freunde und Eltern wüssten, dass er Atheist sei. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der nicht mehr existenten kurdischen Nachrichtenagentur AKnews seien irakische Bürger befragt worden, ob sie an Gott glauben würden. Vier Prozent hätten mit "wahrscheinlich nicht" und sieben Prozent mit "Nein" geantwortet. Laut Nawaf Al-Kaabi, einem Studenten aus Basra, könne die Zahl der Atheisten 2014 noch weit höher liegen. Junge Iraker seien des religiösen Extremismus und der Politiker überdrüssig, die für die kon

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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