TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/18 L504 2222290-1

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Veröffentlicht am 18.09.2019
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Entscheidungsdatum

18.09.2019

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L504 2222290-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 57, 10 AsylG 2005 idgF, §§ 52 Abs 2 Z 2 u. Abs 9, 46, 55 FPG idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 01.04.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Es handelt sich dabei um einen Mann, welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger der Türkei mit alevitischen Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Kurden angehört und aus XXXX in der Provinz XXXX stammt.

Aus dem unbestritten gebliebenen Verfahrensgang des angefochtenen Bescheides ergibt sich Folgendes:

"[...]

- Am XXXX 2019 wurde Ihnen vom Österreichischen Generalkonsulat Istanbul ein Visum, Typ C, ausgestellt, welches Ihnen die einmalige Einreise in den Schengenraum mit einem Aufenthalt von bis zu 21 Tagen ermöglichte. Ihr Visum besaß von XXXX 2019 bis zum 07.04.2019 Gültigkeit.

- Am 17.03.2019 reisten Sie legal aus Ihrem Heimatland Türkei aus sowie rechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein.

- Am 01.04.2019 stellten Sie bei einem Sicherheitsbeamten der LPD XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen Ihrer Erstbefragung gaben Sie befragt nach Ihren Fluchtgründen Folgendes an:

"Ich bin Kurde und Alevite und unterstütze die Partei CHP. Ich bin Demokrat und lebte ständig in Angst, eingesperrt zu werden, da es in der Türkei keine Meinungsfreiheit gibt.

Außerdem müsste ich demnächst beim Militär einrücken. Als Kurde und Alevite würde ich sicherlich im Osten der Türkei stationiert werden. Dort müsste ich auf meine Brüder schießen. Ich will aber keine Waffe in die Hand nehmen und keine Menschen erschießen. In der Türkei gibt es keinen Alternativdienst zum Militär. Als Deserteur würde ich eingesperrt werden. Also habe ich mich dazu entschlossen, nach Österreich zu kommen.

"Ich habe hiermit alle meine Gründe und die dazugehörenden Ereignisse angegeben, warum ich nach Österreich gereist bin! Ich habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung."

- Am 11.06.2019 wurden Sie von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Wien, niederschriftlichen einvernommen. Die wesentlichen Passagen Ihrer Einvernahme gestalteten sich dabei wie folgt:

"F: Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können. Ich möchte sicher sein können, das alles, was Sie gesagt haben, auch so gemeint wurde. Bei Bedarf machen wir eine kurze Pause.

A: Ja, passt.

F: Welche Sprachen sprechen Sie?

A: Ich spreche Türkisch und Kurdisch.

F: Wie ist die Verständigung mit der Dolmetscherin? Haben Sie dazu Einwände?

A: Gut.

F: Werden Sie rechtlich vertreten?

A: Nein.

F: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

A: Gut. Ich besuche keinen Arzt und geht es mir gesundheitlich vollkommen gut.

F: Fühlen Sie sich psychisch und physisch in der Lage, der Einvernahme zu folgen?

A: Ja.

F: Haben Sie Befangenheitsgründe?

A: Nein.

F: Stimmen die Angaben, die Sie in der Erstbefragung gemacht haben?

A: Ja. Die Angaben stimmen. Es ist alles wahr und stimmt. Ich habe nichts hinzuzufügen.

F: Wie heißen Sie, bitte nennen Sie Ihren vollständigen und richtigen Familiennamen und Vornamen?

A: Mein Name ist XXXX .

F: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

A: Ich bin Türke.

F: Wann und wo wurden Sie geboren?

A: Ich wurde am XXXX in XXXX geboren.

F: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

A: Ich bin Kurde.

F: Welche Religionszugehörigkeit haben Sie?

A: Ich bin Alevite.

F: Haben Sie entsprechende identitätsbezeugende Dokumente oder sonstige Beweismittel die Sie vorlegen können?

A: Mein Reisepass wurde bereits sichergestellt. Weitere Dokumente kann ich nicht in Vorlage bringen. Meinen Personalausweis habe ich am Hauptbahnhof verloren. Ich habe eine Verlustanzeige erstattet. Letzte Woche wurde mein Personalausweis gefunden, ich werde ihn diese Woche abholen.

Heute habe ich folgende Beweismittel mitgenommen:

* Flugtickets von Türkei-Österreich

F: Können Sie jegliche Integrationsbemühungen in Vorlage bringen?

A: Nein. Ich habe noch keine Deutschprüfungen oder Integrationsprüfungen absolviert

F: Wie lautet Ihr Familienstand?

A: Ich bin ledig.

F: Haben Sie Kinder?

A: Ich habe keine Kinder.

F: Nennen Sie mir bitte die Daten Ihrer weiteren Familienangehörigen!

A:

Vater: XXXX , 1968 geboren, ist selbstständiger Lebensmittelverkäufer

Mutter: XXXX , 1972 geboren, Hausfrau

Bruder: XXXX , 2002 geboren, Schüler

Schwester: XXXX , 1995 geboren, arbeitet als; studiert in XXXX

All meine bisher erwähnten Familienangehörigen leben weiterhin in meiner Heimat XXXX , in der Türkei.

F: Haben Sie Kontakt mit Ihrer in der Türkei lebenden Familie?

A: Ja, wir stehen in Kontakt. Den Kontakt führen wir über WhatsApp. Meiner Familie geht es gut.

F: Wie geht es Ihrer Familie?

A: Gut.

F: Wie beschreiben Sie die finanziellen Verhältnisse Ihrer Familie?

A: Mittelmäßig.

F: Besitzen Sie Häuser? Haben Sie Grundbesitz?

A: Wir besitzen im Dorf ein Grundstück, ein Feld. Meine Familie lebt in einem Miethaus.

F: Wie viele Onkel und Tanten haben Sie?

A: 3 Onkel väterlicherseits, 2 Onkel mütterlicherseits, 3 Tanten mütterlicherseits und 2 Tanten väterlicherseits. Meine Onkel und meine Tanten väterlicherseits leben in XXXX , eine Tante mütterlicherseits lebt in Deutschland, eine in Istanbul und eine in XXXX .

F: Verfügen Sie im österreichischen Bundesgebiet über Familienangehörige?

A: Nein.

Auff: Geben Sie mir bitte alle Wohnadressen an, an denen Sie bis zu Ihrer Ausreise gelebt haben?

A: In der Türkei lebte icih mein ganzes Leben lang an ein und derselben Adresse gelebt. Die Adresse lautet: XXXX , Dorf: XXXX (Straße/Gemeinde), Nummer 9

F: Haben Sie jemals in einem anderen Land gelebt?

A: Nein.

F: Welche Schulen und Ausbildungen haben Sie absolviert?

A: Ich ging 8 Jahre lang in die Grundschule, 4 Jahre lang besuchte ich das Gymnasium und 2 Jahre lang die Universität.

Auff: Beschreiben Sie bitte Ihren beruflichen Werdegang!

A: Ich arbeitete als Lebensmittelverkäufer, Kassierer, Kellner in einem Restaurant und auf Baustellen als Hilfsarbeiter, Elektriker.

F: Wann hatten Sie den endgültigen Entschluss dazu gefasst, die Türkei zu verlassen?

A: Vor drei bis vier Jahren.

F: Wann haben Sie die Türkei tatsächlich verlassen?

A: Ich glaube, dass es der 17.03.2019 war.

F: Wenn Sie bereits vor drei, vier Jahren aus der Türkei ausreisen mussten, wieso blieben Sie dann noch weitere vier Jahre in der Türkei aufhältig?

A: Ich war noch zu jung. Jetzt bin ich 21 Jahre alt, damals war ich 16.

F: Wieso wollten Sie schon mit 16 Jahren Ihr Heimatland verlassen?

A: Ich wurde diskriminiert. In XXXX leben viele Rechtsradikale, in meinem Dorf viele Aleviten.

F: Wieso mussten lediglich Sie die Türkei verlassen und kann Ihre Familie weiterhin in der Türkei leben?

A: Sie hatten nicht die Möglichkeit, die Türkei zu verlassen.

F: Werden Sie gravierender bedroht als Ihre Familie?

A: Ja, weil ich den Wehrdienst noch ableisten muss. Vom Wehrdienst ist meine Familie nicht bedroht.

F: War Österreich Ihr Zielland? Wenn ja, warum gerade Österreich?

A: Ich reiste bewusst nach Österreich, weil ich weiß, dass die Menschenrechte sehr hoch geschrieben werden.

F: Wie erfolgte Ihre Ausreise aus der Türkei?

A: legal mit dem Flugzeug.

F: Gab es Probleme bei Ihrer Ausreise aus der Türkei?

A: Nein, ich reiste mit einem Visum aus. Ich bin unbescholten. Ich reiste mit einem Touristenvisum in das Bundesgebiet ein.

F: Wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt in Österreich?

A: Ein Bekannter unterstützt mich.

F: Was machen Sie in Ihrer Freizeit hier in Österreich?

A: Ich versuche Deutsch zu lernen. Ich habe noch nicht viele Freunde. Ich lerne die Stadt kennen. Ich kenne mich jetzt sehr gut in Wien aus.

F: Leben Sie in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft in Österreich?

A: Nein. Ich bin ledig.

F: Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?

A: Ich verstehe zwar viel, aber spreche es noch nicht.

F: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder einer Organisation in Österreich?

A: Nein.

F: Waren Sie jemals Mitglied in einer Partei oder einem Verein?

A: Nein.

F: Hatten Sie Engagement bzw. Bemühungen für eine Partei gezeigt?

A: Nein.

Vorhalt: Sie gaben im Zuge Ihrer Erstbefragung an, die CHP unterstützt zu haben. Was sagen Sie dazu?

A: Damit meinte ich, dass ich die CHP gewählt habe. Mehr Engagement habe ich nicht für diese Partei gezeigt. Entweder die HDP oder die CHP haben wir gewählt.

F: Waren Sie im österreichischen Bundesgebiet jemals straffällig?

A: Nein.

F: Haben Sie in der Türkei jemals eine Straftat begangen?

A: Nein.

F: Fahnden die türkischen Behörden nach Ihnen? Gibt es einen Haftbefehl gegen Ihre Person?

A: Nein. Es liegt kein Haftbefehl oder ähnliches gegen mich vor. Ich bin unbescholten.

F: Wurden Sie in der Türkei jemals inhaftiert? Wenn ja, können Sie dies belegen?

A: Nein. Ich hatte zu keiner Zeit Kontakt mit türkischen Behörden wie z.B. Gericht oder Polizei.

F: Haben Sie je Probleme mit staatlichen Behörden wie z.B. Gerichten etc. in Ihrem Heimatland gehabt?

A: Nein.

FLUCHTGRUND:

F: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Beschreiben Sie Ihre konkreten und Ihre individuellen Fluchtgründe dafür so genau und detailliert wie möglich!

A: Vor drei Jahren war ich Schüler in einem Gymnasium. Auch in der Schule wurde ich diskriminiert. Bei der kleinsten Diskussion zwischen den Schülern wurden wir alevitischen Kurden immer für schuldig gefunden. Auch die Lehrer respektierten uns nicht. Uns haben sie Terroristen genannt und beschimpft. Meine Großmutter väterlicherseits wohnt immer noch im Dorf XXXX . Weil sie Alevitin ist, wurde ihr Haus angekreuzt wie bei anderen Aleviten. Dazu kommt meine Wehrpflicht. Weil ich studiert habe, habe ich noch keinen Einberufungsbefehl bekommen. In einem Monat, dem 26.07.2019 wird die Aufforderung jedoch schriftlich einlangen. Ich meine bis zu diesem gibt es keinen Aufschub mehr. Mit diesem Datum läuft meine Inskription bei der Universität ab und wird daher mein Aufschub nicht verlängert. Im Wehrdienst werden die kurdischen Rekruten diskriminiert, beschimpft. Sie müssen die schmutzigsten Arbeiten durchführen und nach der Ausbildungszeit werden die Kurden an die Grenzen geschickt und gezwungen, die anderen Kurden zu töten. Wenn nicht, werden sie dann selbst getötet. Danach werden die Leichen nach Hause geschickt und den Tod somit begründet, dass ein Unfall passiert ist oder der Rekrut bzw. Soldat einen Selbstmord begangen hätte.

F: Möchten Sie Ihren Fluchtgründen etwas hinzufügen bzw. möchten Sie einen weiteren Fluchtgrund geltend machen?

A: Ich möchte leben.

F: Weshalb möchten Sie den Wehrdienst in Ihrem Heimatland nicht bestreiten?

A: Die kurdischen Rekruten werden an die Grenzen geschickt und müssen sie immer gegen die Kurden kämpfen. Das möchte ich nicht.

F: Weshalb sollten Sie bei der Ableistung des Wehrdienstes im Gegensatz zu anderen kurdischen Grundwehrdienern benachteiligt werden?

A: Viele Kurden sind auf der Flucht. Allen kurdischen Grundwehrdienern droht diese Gefahr.

F: Weshalb sollte der türkische Staat Sie aufgrund Ihrer Wehrdienstverweigerung in einem größeren Ausmaß als andere türkische Wehrdienstverweigerer bestrafen?

A: Es ist nicht so, dass jeder kurdische Soldat sterben muss. Auch mein Cousin ist am Leben geblieben. Er ist mit einer gebrochenen Nase nach Hause gekommen und trug er psychische Schäden mit sich. Auch musste er Toiletten sauber machen.

F: Leisteten Ihre männlichen Familienangehörigen den Wehrdienst ab?

A: Ja.

F: Weshalb konnten all Ihre Familienangehörigen den türkischen Wehrdienst bestreiten und ist ausgerechnet Ihnen dies nicht möglich?

A: Ich möchte niemanden töten und nicht getötet werden. Das ist etwas persönliches. Ich möchte nicht.

F: Wurden Sie in Ihrem Heimatland jemals persönlich bedroht?

A: Im Gymnasium gab es mehrere Male einen Streit mit einem Idealisten aus der Idealistenstube ( XXXX ). Die Schulleitung hat mich jedes Mal für schuldig gefunden. Ich habe eine Wegweisung aus meiner eigenen Schule erhalten. Einmal für drei Tage und dann für fünf Tage. Das war komisch, weil eigentlich er schuldig war und nicht ich. Er und seine Gruppe haben mich angegriffen. Ich denke, dass das im Jahr 2015 war.

F: Gab es danach noch eine persönliche Bedrohung gegen Ihre Person?

A: Nein.

F: Wie sah diese Bedrohung aus dem Jahr 2015 genau aus. Beschreiben Sie diese so genau wie möglich!

A: Ich wurde nicht mit dem Tod oder mit dem Leben bedroht. Aber ich wurde von dieser Gruppe öfter diskriminiert und gab es Streitereien. Ich wurde geschlagen. Ich erlitt keine Brüche, aber hatte blaue Augen.

F: Haben Sie diese Probleme zur Anzeige gebracht?

A: Die Schule hat die Eltern informiert. Die Schulleitung hat verboten, es selbst zur Anzeige zu bringen, damit der gute Ruf der Schule nicht verloren geht. Es gibt in jeder Schule eine eigene Polizei, Zivilbeamte. Diese führten Befragungen durch. Eine offizielle Anzeige wurde von der Schulleitung jedoch explizit verboten. Die Befragungen brachten jedoch nichts. Die Polizei machte gar nichts.

Vorhalt: In der Erstbefragung gaben Sie an, dass es im Jahr 2017 eine Rauferei mit den Grauen Wölfen gegeben hat und das Verfahren diesbezüglich noch nicht abgeschlossen sei. Was meinten Sie damit?

A: Damit meinte ich das Verfahren meines Cousins, nicht mein Verfahren. Das war eine Verwechslung. Ein Missverständnis zwischen dem Dolmetscher und mir.

Näher darauf eingegangen gebe ich an, dass es einen Streit zwischen den Grauen Wölfen und uns gab. In Zusammenhang mit diesem Streit wurde zunächst auch meine Person angezeigt. Dann einigten wir uns, dass die Anzeige wieder zurückgezogen wird. Nun ist keine Anzeige oder Verfahren gegen mich anhängig. Im Verfahren gelte ich lediglich als Zeuge für meinen Cousin.

F: Beschreiben Sie mir bitte diesen Streit. Was ist da genau passiert?

A: Die andere Seite sucht ständig Streit. Wir waren zu viert auf der Straße. Drei Cousins von mir und ich. Die andere Seite war mit ihren Familien dort. Es kam zu einer Diskussion und anschließend zu einer Schlägerei. Die Gendarmerie hat uns alle zusammen gebracht, aber kam es zu keinen Anzeige. Nach ein bis zwei Monaten haben sich die anderen einen Anwalt genommen und doch eine Anzeige gegen uns erstattet. Ich gelte jedoch lediglich als Zeuge.

F: Wurden Sie nach diesem Vorfall von dieser Gruppe jemals wieder bedroht?

A: Nein. Aber wir meiden diese Gruppe. Wir machen einen Bogen um diese Gruppe.

F: Wurden Sie auch abseits der Schule diskriminiert?

A: Ständig.

F: Beschreiben Sie das Ausmaß Ihrer Diskriminierungen so genau wie möglich!

A: Ich wurde diskriminiert, indem abfällige Bemerkungen, wie z.B. als ich als Kellner gearbeitet habe, reichte ich einem Gast das Brot und sagte er, dass er das Hand von einem Alewiten kein Brot essen würde. Eine Woche später musste ich meine Arbeit bei dieser Firma aufgeben.

F: Wieso zogen Sie nicht in eine andere Stadt mit einem höheren Alevitenanteil?

A: Eine andere Stadt bedeutet finanzielle Ausgaben. Wir haben in keiner anderen Stadt Verwandtschaft. In unserem Dorf hatten wir es sehr ruhig, weil die Bevölkerung aus Alewiten bestand. In meinem Dorf gab es keine Probleme, die Probleme gab es außerhalb des Dorfes. In den Großstädten ist es schwer, eine Arbeit zu finden.

F: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr in die Türkei?

A: Ich müsste den Wehrdienst antreten und würde dort große Probleme bekommen. Aus Gewissensgründen und auch aus ethnischer Abstammung möchte ich meine Brüder nicht töten. Ich selbst möchte aber auch nicht getötet werden. Es fallen jeden Tag junge Soldaten. Es vergeht kein Tag ohne einige Vorfälle.

F: Möchten Sie die Länderfeststellung zu Ihrem Herkunftsstaat Türkei haben und Stellung dazu nehmen?

A: Nein, darauf verzichte ich.

F: Möchten Sie noch etwas sagen?

A: Nein, danke.

F: Konnten Sie sich bei dieser Einvernahme konzentrieren? Haben Sie den Dolmetscher einwandfrei verstanden?

A: Ja.

- Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

[...]"

Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.

Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei.

Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus allgemeinen Lage im Herkunftsstaat keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Abschiebungshindernisse lägen demnach nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen und wurde daher eine Rückkehrentscheidung verfügt.

Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Nach Wiedergabe des Sachverhaltes wurde im Wesentlichen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren in Bezug auf die Weigerung den Wehrdienst abzuleisten moniert. Nicht berücksichtigt worden seien die aktuellen Länderfeststellungen in Bezug auf die Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten bzw. dass kurdische Rekruten in den Konfliktzonen der Südost-Türkei eingesetzt werden. Das Bundesamt habe übersehen, dass die bP sehr wohl persönlich bedroht worden sei und die geschilderten Diskriminierungen und tätlichen Angriffe bloß exemplarisch für laufende Vorfälle angeführt wurden. Beantragt wird die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Identität und Herkunftsstaat:

Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen (lt. Bundesamt) fest. Da dem BVwG selbst keine nationalen, mit Lichtbild versehenen Identitätsdokumente im Original vorlagen, kann mangels Überprüfbarkeit, seitens des BVwG dazu keine eigene Feststellung getroffen werden.

Die bP bezeichnet sich der Volksgruppe der Kurden und dem alevitischen Glauben zugehörig.

Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist die Türkei.

1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:

Die bP ist in XXXX, Provinz XXXX geboren und absolvierte dort ihre Schulbildung.

Sie wohnte vor ihrer Ausreise in XXXX .

Die bP hat 8 Jahre lang die Grundschule, 4 Jahre lang das Gymnasium und 2 Jahre lang die Universität besucht. Sie arbeitete als Lebensmittelverkäufer, Kassierer, Kellner in einem Restaurant und auf Baustellen als Hilfsarbeiter und als Elektriker.

Die Familie der bP verfügt im Herkunftsstaat über ein Grundstück/Feld und wohnen in einem Mietshaus.

1.3. Familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat

Neben den Eltern und zwei Geschwistern verfügt die bP über Onkeln und Tanten sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite.

Die Eltern und die Geschwister der bP leben in XXXX . Eine Tante mütterlicherseits lebt in Deutschland und eine andere in Istanbul. Die übrigen Verwandten leben in XXXX .

Die bP hat weder beim Bundesamt noch in der Beschwerde konkret dargelegt, dass bei der Rückkehr keinerlei für sie zugängliches Netzwerk mehr bestünde.

1.4. Ausreisemodalitäten

Sie reiste am 15.03.2019 auf Basis eines Schengen-Visum (C) mittels Flugzeug von XXXX nach Istanbul und von dort am 17.03.2019 nach Wien, wo sie am selben Tag eintraf. Sie erlangte das Visum durch Vortäuschen einer Ausreisewilligkeit bei Ablauf des Visums. Das Visum wurde am XXXX 2019 von der österreichischen Botschaft in Istanbul ausgestellt und war vom XXXX 2019 bis 07.04.2019 gültig. Die Einreise erweist sich mit diesem als ungültig zu wertenden Visum daher als rechtswidrig (Art 5 Schengener Grenzkodex).

1.5. Gesundheitszustand

Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.

1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich

Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes:

Die bP reiste mittels durch Täuschung der österr. Botschaft erlangten Schengen-Visum C - Falschangabe für touristische Zwecke einzureisen und bei Ablauf ausreisewillig zu sein - am 17.03.2019 in das Bundesgebiet ein. Bis zur Stellung des gegenständlichen Antrages war der Aufenthalt im Bundesgebiet rechtswidrig.

Mit der am 01.04.2019 erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.

Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich die Einreise und Aufenthalt bis zur Antragstellung als rechtswidrig und stellt grds. gem. § 120 Abs 1 u. Abs 7 FPG eine Verwaltungsübertretung dar.

Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich:

Die bP hat in Österreich keine als Familienleben zu wertenden Umstände dargelegt oder nachgewiesen.

Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren / Grad der Integration

Deutschkenntnisse: keine Bescheinigungen über erfolgreich abgelegte Prüfungen nachgewiesenen

Sonstige Ausbildungen: keine

Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an möglicher und erlaubter Erwerbstätigkeit für Asylwerber (https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wieknnenasylwerberinnenundasylwerberbeschftigtwerden) wurde nicht dargelegt bzw. nachgewiesen.

Der Grundversorgungsdatenbank ist zu entnehmen, dass die beschwerdeführende Partei nicht vom österreichischen Staat versorgt wird.

Die bP wird von einem Bekannten unterstützt.

Gemeinnützige Tätigkeiten: keine vorgebracht

Bindungen zum Herkunftsstaat:

Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat - im Gegensatz zu Österreich - problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.

Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen:

In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.

Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG von den Verwaltungsstrafbehörden nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt.

Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:

Die bP reiste mit dem Vorsatz einer Asylantragstellung nach Österreich ein, womit sie das Touristenvisum rechtsmissbräuchlich erlangte sowie verwendete und die Einreise rechtswidrig war.

Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt die rechtswidrige Einreise (bei strafmündigen Personen) gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 7 FPG).

Verfahrensdauer:

Das Asylverfahren wurde vor beiden Instanzen ohne größere Unterbrechungen durchgeführt.

1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen bzw. nichtstaatlichen Akteuren und der zu erwartenden Rückkehrsituation:

Den eigenen Angaben der bP nach war sie bis zu ihrer Ausreise in der Türkei weder inhaftiert noch hatte sie persönlich mit Behörden Probleme; gegen sie bestanden keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen; sie war nicht politisch tätig oder Mitglied einer Partei; sie hatte keine gröberen Probleme mit Privatpersonen; nahm an keinen bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsregion XXXX , mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer entscheidungsrelevanten realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.

Aus den Angaben der bP ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestünde. Dies ergibt sich auch nicht aus der amtswegigen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat

Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln bislang in der Lage im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern. Es wurde von ihr weder beim Bundesamt noch im Beschwerdeverfahren konkret dargelegt, dass sie im Falle der Rückkehr nicht mehr ihre Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz decken könnte.

Sie behauptete nicht, dass im Falle der Rückkehr auf Grund der allgemeinen Versorgungslage eine persönliche, relevante Gefährdung von Leib und/oder Leben gegeben wäre. Dies kann auch amtswegig auf Grund der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat nicht festgestellt werden.

1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat traf das Bundesamt folgende relevante Feststellungen:

Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz (relevant für die Abschnitt: 10. Wehrdienst)

Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 ?) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen.

Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, Sirnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).

Quellen:

? DS - Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 27.6.2019

? HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent, Zugriff 27.6.2019

? IPA News (26.6.2019): Parliament brings major changes for Turkey's military service law, https://ipa.news/2019/06/26/parliament-brings-major-changes-for-turkeys-military-service-law/, Zugriff 27.6.2019

KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul, (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage und 13.1.Opposition)

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019).

Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019).

Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).

Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).

Quellen:

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KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.

Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.

Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

Quellen:

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KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

Quellen:

? PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

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Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

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Gülen- oder Hizmet-Bewegung

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Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP 10.9.2015).

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).

1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes (PW 21.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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