TE Vfgh Erkenntnis 2020/6/8 E883/2020 ua

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Veröffentlicht am 08.06.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie irakischer Staatsangehöriger; mangelnde Ermittlungstätigkeit zur Situation Minderjähriger sowie zur Herkunftsregion; mangelhafte Auseinandersetzung mit der Zulässigkeit der Rückführung angesichts der UNHCR-Empfehlung

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.531,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer, alle irakische Staatsangehörige, stammen aus der Provinz Diyala und sind muslimisch-sunnitischen Glaubens. Sie stellten am 26. August 2015 Anträge auf internationalen Schutz mit der Begründung, der Erstbeschwerdeführer sei Anfang August 2015 entführt worden und erst nach Bezahlung von Lösegeld durch seine Familie wieder freigekommen. Die Zweitbeschwerdeführerin – die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers – und die Dritt- bis Siebtbeschwerdeführer – die (teilweise minderjährigen) Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin – bringen keine eigenen Fluchtgründe vor. Die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheiden vom 16. März 2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigte und des Status als subsidiär Schutzberechtigte ab, erteilte den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen diese Rückkehrentscheidungen, sprach aus, dass eine Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen.

2. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 13. Februar 2020 als unbegründet ab. Im Wesentlichen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine asylrelevante Verfolgung mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus.

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Es sei in Anbetracht der individuellen Umstände der Beschwerdeführer nicht anzunehmen, dass diese im Falle ihrer Rückkehr in eine existenz- oder lebensbedrohliche Lage im Sinne des Art3 EMRK geraten würden, zumal diese von ihren in Diyala verbliebenen Familienangehörigen unterstützt werden könnten. Auch sei das im Familieneigentum stehende Einfamilienhaus nach wie vor nicht verkauft, daher könnten die Beschwerdeführer auch dorthin zurückkehren. Bei dem Erst-, Dritt-, Viert- und Fünftbeschwerdeführer handle es sich um arbeitsfähige und arbeitswillige Männer. Den minderjährigen Sechst- und Siebtbeschwerdeführerinnen sei es möglich, im Herkunftsstaat die Schule zu besuchen; denn ein Schulbesuch sei auch den in der Herkunftsprovinz verbliebenen Cousins und Cousinen möglich.

3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, die die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt. Das Bundesverwaltungsgericht habe insbesondere die Ermittlungstätigkeit hinsichtlich der Situation von Kindern sowie von Frauen und Mädchen im Irak unterlassen und auch die Erwägungen von UNHCR und EASO zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender außer Acht gelassen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Verwaltungsakten vorgelegt; beide haben von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak richtet, begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

3.1. Bei der Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz betreffend minderjährige Beschwerdeführer ist das Bundesverwaltungsgericht bei schlechter und volatiler Sicherheitslage im Herkunftsstaat dazu angehalten, einschlägige Länderinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, als Grundlage für seine Beurteilung heranzuziehen. Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung hervorgehoben, die Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige haben (vgl zB VfGH 26.2.2019, E3837/2018 ua; 13.3.2019, E1480/2018 ua; 26.6.2019, E2838/2018 ua). Indem sich das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die minderjährigen Sechst- und Siebtbeschwerdeführerinnen auf die Aussage beschränkt, sie könnten wie ihre in Diyala lebenden Cousins und Cousinen die Schule besuchen, aber keine Feststellungen zur Situation von Minderjährigen im Irak, insbesondere zur Lage in der Provinz Diyala trifft, hat es die gebotene Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen.

3.2. Ferner hat es das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf sämtliche Beschwerdeführer unterlassen, die in der Provinz Diyala bzw in der konkreten Herkunftsregion der Beschwerdeführer vorherrschende Sicherheitslage mit der individuellen Situation der Beschwerdeführer in Beziehung zu setzen. Einer solchen Auseinandersetzung kommt im vorliegenden Fall insofern besondere Bedeutung zu, als der UNHCR die "dringende Empfehlung" ausgesprochen hat, auf eine zwangsweise Rückführung von Personen, die unter anderem aus vormals vom IS kontrollierten Gebieten stammen – dies trifft auf die Provinz Diyala zu –, zu verzichten (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S 131 f. und S 149; vgl zur Indizwirkung der UNHCR-Erwägungen VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 13.2.2020, Ra 2019/19/0245). Das Bundesverwaltungsgericht verweist zwar auf in der Provinz Diyala aufhältige Familienmitglieder und setzt sich mit den Lebensumständen der Beschwerdeführer vor ihrer Ausreise auseinander, begründet aber nicht, warum entgegen der Darstellung der Sicherheitslage in dem im Erkenntnis angeführten Länderinformationsblatt bzw in den Erwägungen des UNHCR eine Rückkehr in die Provinz Diyala keinen Bedenken hinsichtlich Art2 und Art3 EMRK begegnet (vgl VfGH 25.2.2020, E3356/2019 ua).

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit hinsichtlich sämtlicher Beschwerdeführer die Ermittlungstätigkeit in entscheidungswesentlichen Punkten unterlassen und damit sein Erkenntnis, soweit sich dieses auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend –auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Rückkehrentscheidungen bzw auf die Zulässigerklärung der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise bezieht, mit Willkür behaftet. Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.

4. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit jeweils die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers in jeder Hinsicht zutreffend beurteilt hat, nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere diesbezügliche Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 588,60 enthalten. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag zuzusprechen. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Kinder, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E883.2020

Zuletzt aktualisiert am

10.09.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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