Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 21. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz-Hummel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Weinhandl in der Strafsache gegen ***** P***** wegen des Vergehens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 erster Satz StGB, AZ 6 St 73/19k der Staatsanwaltschaft Salzburg, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 2. Juli 2019, AZ 49 Bl 37/19a erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Oberstaatsanwalt Dr. Santeler, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 2. Juli 2019, AZ 49 Bl 37/19a, verletzt § 196 Abs 2 erster Satz StPO.
Text
Gründe:
Bei der Staatsanwaltschaft Salzburg war zu AZ 6 St 73/19k ein Ermittlungsverfahren gegen ***** P***** wegen des Verdachts der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 erster Fall StGB anhängig, weil sich dieser als Obmann eines Sparvereins wiederholt ihm anvertraute Bareinzahlungen in einem 5.000 Euro übersteigenden Gesamtbetrag mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz zugeeignet haben soll (ON 2 und ON 3). Zu diesen Vorwürfen wurde der Genannte am 28. Februar 2019 als Beschuldigter vernommen (ON 2 S 15 ff).
Am 1. April 2019 brachte die Staatsanwaltschaft Salzburg hinsichtlich einer Tat beim Landesgericht Salzburg zu AZ 37 Hv 40/19p einen Strafantrag gegen den Genannten wegen des zuvor zitierten Vergehens ein, während sie das Ermittlungsverfahren in Betreff von zum Nachteil des ***** S***** begangener, einen Gesamtwert von 6.000 Euro umfassender Taten gemäß § 190 Z 2 StPO einstellte (ON 1 S 1). Auf Verlangen von Letzterem begründete die Staatsanwaltschaft die Verfahrenseinstellung damit, dass P***** auch nach den Angaben des Opfers noch vor Anzeigeerstattung insgesamt 6.000 Euro an S***** zurückgezahlt habe, weshalb ein Schaden in dieser Höhe nicht nachvollziehbar sei. Darüber hinaus läge „allenfalls der Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue nach § 167 StGB“ vor und könne die nicht nachvollziehbare Belastung die leugnende Verantwortung des Beschuldigten nicht erschüttern (ON 3 des Bl-Akts).
S***** beantragte am 16. Mai 2019 die Fortführung des Ermittlungsverfahrens. Unter Vorlage von Lichtbildern betreffend die getätigten Einzahlungen und einer Schadensaufstellung erläuterte er, weshalb trotz der erfolgten Rückzahlung von P***** weitere 6.000 Euro einbehalten worden seien (ON 4 des Bl-Akts).
Die Staatsanwaltschaft ersuchte daraufhin am 17. Mai 2019 das Landesgericht Salzburg zu AZ 37 Hv 40/19p um ehestmögliche Übersendung des (vormaligen Ermittlungs-)Akts und übermittelte nach Herstellung eines Kopienakts am 6. Juni 2019 den Fortführungsantrag mit einer ablehnenden Stellungnahme dem Gericht. Darin räumte die Anklagebehörde ein, dass die im Abschlussbericht der Polizei bezeichnete Schadensaufstellung nicht vollständig ausgedruckt worden sei, was zur Folge gehabt habe, dass die belastenden Angaben des Opfers nicht nachvollziehbar gewesen seien. Der Antrag sei dennoch nicht berechtigt, (unter anderem) weil der Fortführungswerber den Erwägungen der Staatsanwaltschaft bloß eine andere Beweiswürdigung entgegenhalte und die Aussage des (nunmehrigen Fortführungswerbers) S***** zur Widerlegung der leugnenden Verantwortung des P***** nicht ausreiche, zumal sich letzterer zu der zur Anklage gebrachten Tat sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Hauptverhandlung umfassend geständig gezeigt habe (ON 5 des Bl-Akts).
Nach Einholung einer Stellungnahme des Fortführungswerbers (ON 6 des Bl-Akts) fasste das Landesgericht Salzburg in einem Senat von drei Richtern am 2. Juli 2019 zu AZ 49 Bl 37/19a den Beschluss, für den Antrag auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens „nicht zuständig“ zu sein. Die Staatsanwaltschaft habe die Erhebungen „nicht aufgrund der vom Antragsteller im Fortführungsantrag präsentierten Neuerungen vorgenommen, weil sie diese als 'nicht relevant' qualifiziert“ habe, weshalb ihre Tätigkeit „keine zulässige Erhebung für die Relevanzprüfung in Bezug auf den Fortführungsgrund gemäß § 195 Abs 1 Z 3 StPO“ gewesen sei. Darüber hinaus habe sie „eine inhaltliche Bewertung dieser Erhebungen vorgenommen und diese zur Begründung ihrer (negativen) Sachverhaltsannahmen zur subjektiven Tatseite herangezogen“. Zwar könne die Staatsanwaltschaft in einer Stellungnahme nach § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO „ursprünglich bestehende Begründungsmängel“ sanieren, würde man das gegenständliche Vorgehen aber nicht als Fortführung des Ermittlungsverfahrens qualifizieren, könnte die Staatsanwaltschaft „ihre Einstellungsentscheidung (auch) mit nicht angesichts der Einstellung am 1. April 2019 im Ermittlungsverfahren vorgekommenen Umständen (…) begründen“. Indem die Staatsanwaltschaft „aufgrund des Fortführungsantrags die (...) Unterlagen des Verfahrens AZ 37 Hv 40/19p des Landesgerichts Salzburg beigeschafft und (auch) das Prozessverhalten des Beschuldigten im Hauptverfahren zur Begründung ihrer Einstellungsentscheidung herangezogen“ habe, habe sie „aus Anlass des Fortführungsantrags“ das Ermittlungsverfahren „der Sache nach (...) aus Eigenem gemäß § 195 Abs 3 erster Satz StPO“ fortgeführt, wodurch der Fortführungsantrag gegenstandslos geworden sei. „Infolge Fehlens eines Entscheidungsgegenstands“ sei „das Landesgericht Salzburg als Fortführungssenat (…) somit nicht zuständig“ (ON 7 des Bl-Akts).
Rechtliche Beurteilung
Dieser Beschluss verletzt – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde im Ergebnis zutreffend aufzeigt – das Gesetz:
Nach § 193 Abs 2 und 3 StPO ist eine Fortführung eines nach den §§ 190 bis 192 StPO beendeten Ermittlungsverfahrens – unter den dort genannten Voraussetzungen – von der Staatsanwaltschaft anzuordnen. Auch die Verfahrensfortführung aufgrund eines berechtigten Antrags auf Fortführung nach § 195 Abs 3 erster Satz StPO bedarf daher einer darauf gerichteten Anordnung der Staatsanwaltschaft (vgl RIS-Justiz RS0129011; Nordmeyer, WK-StPO § 193 Rz 1, 5 und § 195 Rz 35; zur Anordnung der Verfahrensfortführung durch gerichtlichen Beschluss vgl § 195 Abs 1 StPO).
Die Durchbrechung der aus einer rechtswirksamen Beendigung des Strafverfahrens resultierenden Sperrwirkung (vgl § 17 StPO und Art 4 7. ZPMRK; s dazu Birklbauer, WK-StPO § 17 Rz 1 ff, 42 ff und Nordmeyer, WK-StPO § 190 Rz 20 ff) erfolgt in diesen Fällen somit durch einen nach außen hin erkennbaren Akt, der den Willen der Staatsanwaltschaft zur neuerlichen Strafverfolgung unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Erst durch diesen contrarius actus zur Verfahrenseinstellung werden vormals Verdächtige oder Beschuldigte neuerlich Objekt eines Strafverfahrens. Gegen den (erklärten) Willen der Staatsanwaltschaft kann ein rechtswirksam beendetes Ermittlungsverfahren somit nicht auf Basis des § 193 Abs 2 und Abs 3 sowie des § 195 Abs 3 erster Satz StPO fortgeführt werden (vgl zum Anklagegrundsatz und zur Position der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren § 4 Abs 1 dritter Satz und § 101 Abs 1 zweiter Satz StPO).
Während also der Beginn eines Strafverfahrens keines (förmlichen) Einleitungsaktes durch die Staatsanwaltschaft bedarf, vielmehr wie die prozessuale Stellung einer Person materiell zu prüfen ist (§ 1 Abs 2 erster Satz und Abs 3 StPO, § 48 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO; vgl in diesem Zusammenhang Fuchs in Lewisch/Nordmeyer, Liber Amicorum Eckart Ratz, 45), benötigt nicht nur die Beendigung eines Strafverfahrens (§ 1 Abs 2 zweiter Satz StPO) sondern auch jede nochmalige Führung desselben nach der Beendigung entweder einer den Strafverfolgungswillen unmissverständlich zum Ausdruck bringenden Willenserklärung (Anordnung) der Staatsanwaltschaft (insb § 193 Abs 2 und Abs 3, § 195 Abs 3 erster Satz, § 205 StPO) oder eine auf Fortführung, Wiederaufnahme oder Erneuerung gerichtete Entscheidung des Gerichts (§ 195 Abs 1, §§ 352 ff, 363a StPO).
Indem das Landesgericht Salzburg das – im Beschluss im Übrigen (entgegen der Meinung der Generalprokuratur) vollständig und richtig dargestellte – Vorgehen der Staatsanwaltschaft, das einen Willen zur neuerlichen Strafverfolgung gerade nicht zum Ausdruck bringt, rechtlich als Fortführung eines (gemäß § 190 Z 2 StPO beendeten) Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 195 Abs 3 erster Satz StPO beurteilt (vgl zu rechtsfehlerhaften Entscheidungen RIS-Justiz RS0117731, RS0126648) und eine Prüfung abgelehnt hat, ob der Antrag auf Fortführung den Voraussetzungen des § 195 StPO entsprach (vgl dazu Nordmeyer, WK-StPO § 196 Rz 4/1) oder inhaltlich berechtigt war, diesen vielmehr (trotz Erfüllung der sonstigen Formalvoraussetzungen) - der Sache nach als unzulässig zurückwies, verletzte es § 196 Abs 2 erster Satz StPO.
Diese Entscheidung gereicht dem Beschuldigten nicht zum Nachteil. Der Ausspruch der Gesetzesverletzung war nicht mit konkreter Wirkung (§ 292 letzter Satz StPO) zu verbinden.
Bleibt (auch mit Blick auf die Ausführungen in der Wahrungsbeschwerde) anzumerken, dass – entgegen der Meinung des Dreirichtersenats – Wertungen und Schlussfolgerungen in einer gemäß § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO verfassten Stellungnahme der Staatsanwaltschaft (hier: die Bezugnahme auf die Verantwortung des P***** in der Hauptverhandlung zu AZ 37 Hv 40/19p des Landesgerichts Salzburg) für die Beantwortung der Fragen, ob die Staatsanwaltschaft „vorbereitende Ermittlungen“ iSd § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO getätigt hat und ob diese erforderlich waren, von vornherein unmaßgeblich sind.
Verfehlt ist auch die Annahme des Dreirichtersenats, die Staatsanwaltschaft habe durch die vorliegende Aktenbeischaffung die Grenzen des § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO überschritten. Vielmehr kann die Staatsanwaltschaft (unter anderem) Ermittlungen im Einzelnen anordnen, sofern diese für eine Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens – sowohl nach § 193 Abs 2 StPO als auch nach § 195 Abs 3 StPO (Nordmeyer, WK-StPO § 195 Rz 32) – erforderlich sind. Der Begriff „Ermittlungen“ orientiert sich an § 91 Abs 2 StPO, weshalb die in § 91 Abs 2 dritter Satz StPO genannten Maßnahmen (vgl zu diesen 14 Os 21/19y mwN) nicht den restriktiven Vorgaben des § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO unterliegen (zum Umfang der in § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO genannten Ermittlungen siehe auch Nordmeyer, WK-StPO § 193 Rz 5 ff).
Demnach fällt die Beischaffung eines dem Fortführungsantrag zugrunde liegenden und im Stadium des Ermittlungsverfahrens von der Staatsanwaltschaft geführten Strafakts vom (im Haupt- und Rechtsmittelverfahren) zur Führung zuständigen Gericht – auch wenn der Akt zwischenzeitig weitere Bestandteile enthält – infolge bloßer Nutzung behördeninterner Informationsquellen (erneut 14 Os 21/19y = RIS-Justiz RS0132639) nicht unter „Ermittlungen oder Beweisaufnahmen“ und daher nicht in den Regelungsbereich des § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO. Im Übrigen ist die Staatsanwaltschaft im Fall des § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO sogar verpflichtet, den Strafakt dem für die Entscheidung über den Fortführungsantrag zuständigen Gericht zu übermitteln und wären dessen Bestandteile für die Anklagebehörde grundsätzlich in der Verfahrensautomation Justiz (VJ) abrufbar (vgl 15 Os 20/19h).
Die Einhaltung der durch § 193 Abs 1 zweiter Satz StPO gezogenen Grenzen ist im Übrigen nicht Gegenstand des Rechtsschutzes im Verfahren über einen Antrag auf Fortführung, sondern eines gegen solcherart von der Staatsanwaltschaft angeordnete oder durchgeführte „Ermittlungen oder Beweisaufnahmen“ gerichteten Einspruchs wegen Rechtsverletzung (zur Zulässigkeit Ratz, WK-StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4; vgl RIS-Justiz RS0132414).
Textnummer
E129015European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0140OS00029.20A.0721.000Im RIS seit
08.09.2020Zuletzt aktualisiert am
19.01.2021