TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/11 L529 2213077-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2019
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Entscheidungsdatum

11.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L529 2213077-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Thomas KLEIN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.12.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.06.2019 und am 04.07.2019, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I. Verfahrenshergang

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden kurz: BF) ist Staatsangehöriger der Türkei und brachte nach rechtswidriger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 27.06.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Zu den Fluchtgründen befragt, gab der BF in der damaligen Erstbefragung an, dass die türkischen Behörden und die Polizei den Kurden in der Türkei das Leben zur Hölle gemacht hätten. Immer wieder hätten sie sämtliche Sachen in seinem Kaffeehaus und in der Wohnung seiner Eltern zertrümmert. Sein Bruder sei sechs Jahre grundlos im Gefängnis gewesen. Der BF selbst sei immer wieder tageweise im Gefängnis gewesen oder sei polizeilich vorgeführt worden und habe Strafen für erfundene Delikte bezahlen müssen. Danach sei er wieder entlassen worden. Nach der Scheidung von seiner Frau habe sich der BF dazu entschlossen sein Kaffeehaus zu schließen und zu fliehen. Er sei auch von der türkischen Partei in XXXX mit dem Tod bedroht worden.

I.2. Anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz: BFA) am 02.08.2018 gab der BF zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates zusammengefasst an, dass es in Österreich Menschenrechte gebe und, dass seine beiden älteren Brüder hier leben würden, die ihn in jeder Form unterstützen würden. Seit 1999 werde seine Familie von der Polizei und vom Staat verfolgt und unter Druck gesetzt. Es sei zu Razzien, Hausdurchsuchungen, Schikanen und mehreren polizeilichen Anhaltungen sowie zur Inhaftierung zweier Brüder des BF gekommen. Die Polizei habe auch den Betrieb der Kaffeehäuser des BF gestört. Auch Anhänger der nationalistischen MHP hätten in den Kaffeehäusern Unruhe gestiftet und den BF und seinen Bruder öfters verprügelt und sie mit dem Umbringen bedroht.

I.3. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Z. 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Z. 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

I.4. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

I.5. Der Verwaltungsakt langte am 16.01.2019 bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.

I.6. Für den 05.06.2019 lud das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) die Verfahrensparteien sowie eine Zeugin zu einer mündlichen Verhandlung. In einem wurden dem BF länderkundliche Informationen zur Türkei übermittelt.

I.7. Am 05.06.2019 führte das BVwG eine erste mündliche Verhandlung durch. Daran nahm nur der BF als Partei teil. Die belangte Behörde erklärte vorab, nicht an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und beantragte die Abweisung der Beschwerde. Die geladene Zeugin erschien unentschuldigt nicht. Dem BF wurde in der Verhandlung insbesondere die Gelegenheit eingeräumt ausführlich zu seinem Fluchtvorbringen Stellung zu nehmen. Der BF brachte zudem mehrere Lichtbilder als Beweismittel in Vorlage. Die Verhandlung wurde danach auf den 04.07.2019 vertagt.

I.8. Am 04.07.2019 wurde die mündliche Verhandlung fortgesetzt. Daran nahm wiederum nur der BF als Partei teil. Das BFA entsandte keinen Vertreter. Der BF wurde erneut einvernommen. Auch die Zeugin wurde einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, des Gerichtsaktes und Durchführung einer mündlichen Verhandlung Beweis erhoben.

II. 1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Zur Person des BF:

Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der kurdischen Volksgruppe an, ist sunnitischer Moslem und stammt aus XXXX . Der BF ist geschieden und hat aus seiner ersten Ehe zwei Kinder. Der BF ist seit 11.05.2019 in zweiter Ehe mit einer bulgarischen Staatsangehörigen verheiratet. Er leidet an keiner lebensbedrohenden Krankheit.

Der BF und einer seiner Brüder wurden in ihrer Kindheit von deren Stiefgroßvater adoptiert. In der Türkei leben noch seine leibliche Mutter, seine beiden Kinder, drei Schwestern mit deren Familien und mehrere Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Sein leiblicher Vater ist bereits verstorben. Vor der Ausreise lebte der BF gemeinsam mit seinen leiblichen Eltern und seinen Kindern in einer Mietwohnung in XXXX . Seine leibliche Mutter und seine beiden Kinder leben nach wie vor in der Mietwohnung in XXXX . Der BF steht mit seiner Mutter in regelmäßigem Kontakt. Diese bezieht eine Pension und kommt damit für den Lebensunterhalt seiner Kinder in der Türkei auf. Auch seine leiblichen Brüder aus dem Ausland leisten für seine Familienangehörigen in der Türkei finanzielle Hilfe. Der BF selbst leistet keinen Unterhalt für seine Kinder. Die wirtschaftliche Situation der Familie des BF in der Türkei ist gut.

Der BF absolvierte die Volksschule und besuchte in der Türkei bis zur dritten Klasse die Mittelschule, hat diese jedoch nicht abgeschlossen. Dass er die Schule wegen Problemen aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit verlassen hat, konnte nicht festgestellt werden. Er hat zunächst für 15 Jahre in einer Fabrik für Verpackungsmaterial gearbeitet, hat dort auch eine Berufsausbildung absolviert und war zuletzt als Vorarbeiter und Meister beschäftigt. Parallel dazu hat der BF ab 2006 bis 2015 in einem Kaffeehaus gearbeitet. Ob er dieses Kaffeehaus von Anfang an selbstständig betrieb, oder erst zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2013 selbstständig betrieb und zuvor bloß im Kaffeehaus seines Bruders mitgearbeitet hat, konnte nicht festgestellt werden. Er hat jedenfalls spätestens ab 2013 selbstständig ein Kaffeehaus betrieben, welches er im Jahr 2015 schloss. Von 2015 bis Ende 2016 hat er zusammen mit einem Freund eine Baufirma betrieben. Deren Betrieb musste der BF Ende 2016 aus wirtschaftlichen Gründen einstellen. Danach war er bis zur Ausreise erwerbslos. Seinen Lebensunterhalt bis zur Ausreise bestritt der BF durch finanzielle Unterstützung seiner im Ausland lebenden Brüder und seines inzwischen verstorbenen Vaters. Der BF hielt sich, neben seinem Wohnsitz in XXXX , in den letzten sechs Monaten vor der Ausreise zeitweise in Ankara und XXXX auf. Dass er sich dort für jeweils drei Monate versteckt hielt, konnte nicht festgestellt werden. Innerhalb der Türkei ist der BF vor seiner Ausreise nach Istanbul, Ankara, Mersin, Gaziantep und Zypern gereist.

Der BF hat die Türkei am 23.06.2018 illegal von Istanbul ausgehend mittels Schlepper verlassen und reiste in der Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er, nach illegaler Einreise, am 27.06.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der BF lebt mit seiner bulgarischen Ehegattin im gemeinsamen Haushalt. Diese ist in einer Reinigungsfirma in Österreich erwerbstätig und kommt großteils für die Miete des BF auf. Seine Ehegattin hat selbst zwei Kinder aus einer früheren Beziehung; diese Kinder leben in Bulgarien.

Dass der BF einen unentgeltlichen Deutschkurs besucht hat, konnte nicht festgestellt werden. Er verfügt nicht einmal über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache und hat bislang auch keine Sprachprüfung absolviert. Der BF ist nicht erwerbstätig. Er bezieht keine Leistungen der staatlichen Grundversorgung. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er, neben den Zuwendungen seiner Ehegattin, durch die finanzielle Unterstützung seiner in Österreich lebenden, erwerbstätigen Brüder. Zwei dieser Brüder leben in Graz und einer in Tirol. Seine in Graz lebenden Brüder sieht er täglich, jenen in Tirol sieht er zwei bis dreimal jährlich bei Besuchen. Ein Bruder des BF lebt in Italien, ein weiterer in Kanada. Der BF ist kein Mitglied in einem Verein.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF im Heimatland eine begründete Frucht vor einer asylrelevanten Verfolgung droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wäre.

Festgestellt wird, dass der BF die Türkei aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen verlassen hat.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in die Türkei zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehrere Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nachdem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP 10.9.2015).

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).

1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes (PW 21.1.2015).

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend der Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei (ÖB 10.2017).

Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen (BMI-D 6.2016).

Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben (bpb 10.4.2018). Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich (BMIBH 7.2018). Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab (BBC 4.11.2016). Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde (HDN 9.6.2016).

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).

Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (IHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt gegen Personen angewendet, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (IHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (IHD 6.4.2018). Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).

Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018).

Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).

Opposition

Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Die links-kurdische Partei HDP steht im Zuge von Anklagen gegen 57 ihrer 59 Abgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten im Juni 2016 (auch Abgeordnete anderer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung betroffen) politisch unter Druck. Zahlreiche HDP-Abgeordnete der vorangegangenen Legislaturperiode befinden sich in Untersuchungshaft, darunter der ehemalige Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Das Parlament hat neun Abgeordneten der HDP nach rechtskräftiger Verurteilung ihr Mandat entzogen. Den HDP-Abgeordneten wird zu großen Teilen Terrorismus-Unterstützung (PKK) vorgeworfen. Damit drohen ihnen im Falle von Verurteilungen lange Haftstrafen sowie ein fünfjähriges Politikverbot und damit der Verlust ihrer Mandate (AA 3.8.2018; vgl. EC 17.4.2018). Neun HDP-Parlamentarier befanden sich Ende 2017 im Gefängnis. 278 Verfahren wurden gegen 41 HDP-Abgeordnete eingeleitet (SCF 1.2018). Selahattin Demirtas wurde Anfang September 2018 wegen seiner Äußerungen während der kurdischen Neujahrsfeiern im März 2013 zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ein Gericht befand ihn der Terrorpropaganda schuldig. Im Hauptverfahren drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Zusammen mit ihm wurde der frühere HDP-Abgeordnete Sirri Sürreya Önder zu drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (DW 7.9.2018).

Nebst der Verhaftung von hochrangigen Politikern, wurden auch mindestens 5.000 Mitglieder der HDP - darunter 80 Bürgermeister - inhaftiert (TM 1.5.2018). Zwischen November 2014 und November 2017 wurden 93 Bürgermeister und Vizebürgermeister ihrer Ämter enthoben und verhaftet, von denen 22 nach einem Verfahren wieder freigelassen wurden und 71 noch im Gefängnis sind. Elf lokale Verwalter wurden wegen terroristischer Anschuldigungen zu insgesamt 89 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt (EC 17.4.2018). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, die von ihrer Schwester-Partei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), bestellt werden, und Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018). Die Regierung versucht, den Einfluss der HDP bzw. ihrer regionalen Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird zahlreichen DBP-Mitgliedern die Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete sind insgesamt 51 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 3.8.2018). Während des Wahlkampfes 2018 haben die türkischen Behörden einige der Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen. Darüber hinaus hat die Partei physische Angriffe von Unbekannten während einiger ihrer Kampagnen erlitten (ICG 13.6.2018).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018).

Das Europäische Parlament verurteilt im Februar 2018 den Beschluss des türkischen Parlaments aufs Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben (HDN 9.2.2018). Der Parlamentsabgeordnete und Vize-Parteichef der sekularen, kemalistischen CHP, Enis Berberoglu, erhielt im Juni 2017 vor einem Gericht in Istanbul wegen angeblicher Spionage eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Er soll der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugearbeitet haben (SO 14.6.2017). Das Berufungsgericht ordnete zwar im Oktober 2017 einen neuen Prozess an, lehnte jedoch die Freilassung Berberoglus ab (DS 10.10.2017). Am 20.9.2018 bestätigte das Kassationsgericht in seinem Urteil die im Februar 2018 auf fünf Jahre und zehn Monate reduzierte Haftstrafe, verfügte jedoch gleichzeitig seine Freilassung bis zum Ende der parlamentarischen Legislaturperiode, denn Berberoglu konnte bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 sein Abgeordnetenmandat wiedererlangen (HDN 20.9.2018). Im Juni 2018 ist Eren Erdem, ein früherer CHP-Abgeordneter, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in Istanbul wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" festgenommen worden. Erdem drohen bis zu 22 Jahre Haft (ZO 29.6.2018, vgl. BBC 29.6.2018). Im Juli hat Staatspräsident Erdogan eine Strafanzeige gegen den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kiliçdaroglu, und 72 weitere CHP-Parlamentarier wegen Beleidigung durch die Verbreitung eines Cartoons auf Twitter eingereicht (HDN 18.7.2018).

Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdogan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die IYI-Partei, alles Oppositionspartein (OSCE/ ODIHR 25.6.2018).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben

(USDOS 20.4.2018).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018). Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.4.2018).

Was die kulturellen Rechte betrifft, so ist die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im öffentlichen Dienst nicht gestattet (EC 17.4.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Zum Beispiel hat der von der Regierung ernannte Treuhänder [nach Ablöse des gewählten Bürgermeisters] des Edremit-Distrikts in der Provinz Van die Verwendung des Armenischen und Kurdischen abgeschafft. Die Behörden haben auch die Entfernung arabischer Aufschriften in bestimmten Gebieten angeordnet. Im April 2017 ordnete die Stadtverwaltung in Adana die Entfernung arabischsprachiger Schilder von Geschäftslokalen an, um "die türkische Sprache zu schützen". Obwohl Kurdisch offiziell in der privaten Bildung und im öffentlichen Diskurs erlaubt ist, hat die Regierung die Erlaubnis zum kurdischen Sprachunterricht nicht auf die öffentliche Bildung ausgeweitet (USDOS 20.4.2018).

Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe blieben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch wurden in öffentlichen staatlichen Schulen und Universitäten in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki weiterhin angeboten. Einige Universitätsdozenten der kurdischen Sprache und Literatur wurden im Januar 2017 durch eine Notverordnung entlassen, was den Mangel an qualifizierten Dozenten auf Kurdisch noch verstärkte. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden zahlreiche Theater, Bibliotheken, Kultur- und Kunstzentren aufgrund dieses Dekrets geschlossen (EC 17.4.2018). Andere nationale oder ethnische Minderheiten, darunter Assyrer, Caferis, Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen, durften ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (ARC 21.11.2017).

Weiterhin werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA 3.8.2018). Das gesamte Bildungssystem basiert auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt (MRGI 27.10.2015). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azinlik") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Zwar werden Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern von Minderheiten fortgesetzt. Trotzdem bleiben Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten ein ernstes Problem. Eine zivilgesellschaftliche Umfrage zu Hassreden in den Medien ergab, dass Artikel/Nachrichten, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten, im Berichtszeitraum zugenommen haben. Antisemitische Rhetorik in den Medien und von Beamten besteht weiterhin (EC 17.4.2018).

Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitativen oder qualitativen Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer Bürger sammelt, speichert oder verwendet. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der Bürger, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma (EC/DGJC 2016).

Die nationale Strategie (2016-2021) und der Aktionsplan (2016-2018) für Roma-Bürger werden umgesetzt, aber der zuständige Ausschuss zur Überwachung und Bewertung der Strategie trat nur einmal zusammen. Es bedarf insbesondere der Zuteilung budgetärer Mittel zur Unterstützung des Aktionsplanes. Laut einer umfassenden Umfrage steigt das Bildungsniveau unter jungen Roma. Davon abgesehen, ist das allgemeine Bildungsniveau unter den Roma niedrig. Extreme Armut und ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs sind in den Haushalten der Roma nach wie vor weit verbreitet. Die Gesamtbeschäftigungsquote ist mit 31% niedrig. Die Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen, oft ohne Grundversorgung und mit Segregation konfrontiert. Das Stadterneuerungsprojekt führte häufig dazu, dass Roma-Siedlungen abgerissen und Familien vertrieben wurden. Der Zugang zu öffentlichen Diensten ist für Roma, die keinen ständigen Wohnsitz haben, eine große Herausforderung (EC 17.4.2018).

Kurden

Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).

Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vgl. EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vgl. EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vgl. AM 12.3.2018, USDOS 20.4.2018).

Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDP-Kandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017). Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).

II. 2. Beweiswürdigung

II.2.1. Zur Person des BF

Die Feststellungen zur Identität des BF gründen sich auf das von ihm im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegte, türkische Identitätsdokument. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF beruhen auf seinen eigenen nicht zu bezweifelnden (da kohärenten) Angaben im bisherigen Verfahren, auf seinen Sprach- und Ortskenntnissen und den vorgelegten Dokumenten. Die Feststellungen zu seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, seinen familiären und persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat - mit Ausnahme der untenstehenden Erwägungen zu seiner Berufstätigkeit, dem Grund für den Schulabbruch sowie der letzten Monate vor der Ausreise - sowie jenen in Österreich, konnten anhand der Angaben des BF im gesamten Verfahren getroffen werden.

Der BF behauptete erstmals vor dem BVwG, dass er die Schule verlassen habe müssen, da es Probleme zwischen Türken und Kurden gegeben habe, ohne dies näher auszuführen. Nach Hinweis auf diese Novität meinte er bloß, dass er bislang "nicht so detailliert befragt" worden sei, aber bereits Probleme in der Schule erwähnt habe (Seiten 4f des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Auch in der zweiten mündlichen Verhandlung führte er diese Probleme nicht näher aus und konnte nicht überzeugend darlegen, weshalb er das entsprechende Vorbringen nicht schon vor dem BFA erstattete (Seite 5 des Verhandlungsprotokolls vom 04.07.2019). Angesichts dieser auffallend vagen Behauptungen, die der BF auch erst spät im Verfahren vorbrachte, waren diese Umstände nicht feststellbar. Bereits hierdurch zeigt sich erstmals, dass der BF dazu neigt, sein Vorbringen laufend zu erweitern, was - wie unten noch mehrfach aufgezeigt wird - aufgrund der Häufigkeit gegen seine Glaubwürdigkeit spricht.

Zu seiner Berufstätigkeit in der Türkei machte der BF keine gleichlautenden Angaben. Übereinstimmend nannte der BF seine 15-jährige Berufstätigkeit für eine Verpackungsfirma, weshalb diese auch festgestellt werden konnte. Auch den Betrieb eines Kaffeehauses gab er durchwegs an, weshalb auch dies grundsätzlich festgestellt werden konnte. Allerdings führte er hierzu vor dem BFA aus, dass sein Bruder im Jahr 2006 ein Kaffeehaus eröffnet habe, bei dem der BF ausgeholfen und auch gearbeitet habe. Einen konkreten Zeitraum für die dortige Arbeit nannte er nicht. Zudem führte er aus, "wir" hatten im Jahr 2013 "ein zweites Kaffeehaus eröffnet", welches der BF erst nach der Ausreise seines Bruders alleine weiterbetrieben habe und im Jahr 2015 schließen habe müssen (AS 216). Vor dem BVwG führte er hingegen aus, dass er sich bereits im Jahr 2006 selbstständig gemacht habe und sein Kaffeehaus bis 2015 betrieben habe. Nach Hinweis auf diesen Widerspruch gab er an, dass sein Bruder ebenfalls ein Kaffeehaus betrieben habe und es stets zwei Kaffeehäuser gewesen seien (Seite 5 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Aufgrund des bis zuletzt bestehenden Widerspruchs, den der BF nicht aufzulösen vermochte, konnte seine Erwerbstätigkeit in einem Kaffeehaus nur im obigen Ausmaß festgestellt werden. Nähere Gründe für die Schließung des Kaffeehauses, nämlich die angebliche Schikane durch die Polizei, waren mangels glaubhaftem Vorbringen nicht feststellbar (siehe dazu unter II.2.2).

Grundverschiedene Angaben machte der BF auch zu seiner Erwerbstätigkeit in der Baubranche nach der Einstellung des Betriebes seines Kaffeehauses. Vor dem BFA gab er dazu an, dass er die letzten eineinhalb Jahre vor der Ausreise am Bau gearbeitet habe und zwar indem er gemeinsam mit einem Freund Schalungen für Betonwände angekauft und diese dann vermietet habe. Das Geschäft sei jedoch nicht gut gelaufen, weshalb er den Betreib gegen Ende 2016 einstellen habe müssen (AS 216). Auch in der mündlichen Verhandlung führte er zunächst aus, dass er für etwa zwei Jahre bis Dezember 2016 zusammen mit einem Freund Schalungen gemacht habe. Anders als vor dem BFA gab er jedoch vor dem BVwG als Grund für die Einstellung dieser Tätigkeit an, dass ihn die "grauen Wölfe" auf den Baustellen ausfindig gemacht hätten und er deshalb nicht weitergearbeitet hätte, da dies zu gefährlich gewesen sei. Nach Hinweis auf den Widerspruch zu seinen Angaben vor dem BFA vermeinte der BF plötzlich, dass die Polizei verhindert habe, dass er in dieser Firma weiterarbeite und dass man ihn dort nicht mehr beschäftigen habe wollen, weil er als PKK-Anhänger bezeichnet worden sei. (Seiten 6f des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Nicht nur, dass er damit abermals von seinen eben gemachten Angaben, wonach die "grauen Wölfe" ihn ausfindig gemacht hätten, abwich, ist dieses Vorbringen zudem nicht damit in Einklang zu bringen, dass der BF bislang angab, die Baufirma selbstständig mit einem Freund betrieben zu haben. Es ist nämlich geradezu paradox, dass man den BF in seiner eigenen Firma nicht mehr weiter beschäftigen habe wollen. Im Versuch diesen Widerspruch aufzulösen vermeinte der BF plötzlich, dass die Firma doch seinem Freund gehört habe, was jedoch nicht glaubhaft ist, zumal er später in der Verhandlung abermals von seiner Firma sprach (Seite 19 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019):

"RI: Sie haben im Verfahren angegeben, dass die Schallungsfirma nicht gut gelaufen sein, gingen Sie in Insolvenz?

P: Die Polizei hat dafür gesorgt, dass wir keinen Auftrag bekommen, wir ließen die Firma dann auf. [...] ich habe sehr dafür gekämpft, dass ich im Land bleiben kann, aber ich konnte nicht arbeiten und meine Firma halten".

Beim BFA hatte er darüber hinaus auf die Frage, woher das Geld für den Schlepper gestammt habe, angegeben, dass er noch Geld gehabt habe, er habe ja die Schalungen verkauft und etwas dafür bekommen. Wenn er aber die Schalungen verkaufen konnte, dann müssen sie ihm gehört haben und ist folglich die Aussage, er sei dort angestellt gewesen, unrichtig.

Zu der fehlenden Glaubhaftigkeit der Verfolgung bzw. Belästigung in diesem Zusammenhang durch die "grauen Wölfe" und die türkische Polizei wird auch auf die Ausführungen unter II.2.2. verwiesen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass der BF die Schalungsfirma zusammen mit seinem Freund betrieben hat und diese nicht aufgrund der angeblichen Probleme mit der türkischen Polizei oder den "grauen Wölfen", sondern - wie er vor dem BFA einräumte - aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben hat. Es war daher zur obigen Feststellung zu gelangen. Das widersprüchliche Aussageverhalten des BF in diesem Zusammenhang war zudem der persönlichen Glaubwürdigkeit des BF insgesamt abträglich.

Die Feststellungen zu den Reisebewegungen des BF ergeben sich ebenso aus dessen Angaben. Die Negativfeststellung, wonach nicht festgestellt werden kann, dass sich der BF vor seiner Ausreise für je drei Monate in Ankara bzw. in XXXX versteckt hielt, resultierte aus den ungleichen Angaben des BF im Verfahren, sowie der fehlenden Nachvollziehbarkeit der Gründe dafür. So sprach er zunächst vor dem BFA davon, dass er die letzten fünf oder sechs Monate vor seiner Ausreise nicht immer in XXXX verbracht habe, sondern sich in Ankara bzw. XXXX aufgehalten habe, räumte aber gleichzeitig ein, "nur zwischendurch" in XXXX gewesen zu sein, was bereits gewichtig gegen ein tatsächliches Verstecken des BF vor der Ausreise spricht, da dieser dann nicht zwischendurch in XXXX aufhältig gewesen wäre (AS 214). Zudem gab er beim BFA an, dass er bis zwei oder drei Monate vor der Ausreise stets berufstätig gewesen sei (AS 216) was ebenso in unauflösbarem Widerspruch zu einem fünf- bis sechsmonatigen Sichversteckthalten steht. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine tatsächliche Verfolgung des BF durch die Polizei nicht glaubhaft ist (siehe dazu unter II.2.2.) und das angebliche Versteckthalten damit ebenso wenig. Außerdem ist es nicht nachvollziehbar, dass sich der BF in der türkischen Hauptstadt Ankara, die mehr als 5 Millionen Einwohner hat, vor der lokalen Polizei von XXXX verstecken hätte müssen, zumal diese dort keinen Einfluss hat und der BF in Ankara jedenfalls nicht bekannt war.

Die Tatsache der Eheschließung ergibt sich aus den Angaben des BF und der Zeugin in der mündlichen Verhandlung, dem damit korrespondierenden ZMR-Auszug der Ehegattin des BF vom 20.05.2019, der Mitteilung des zuständigen Standesamtes (OZ 7) und den übermittelten Dokumenten in Kopie (OZ 14).

Die strafrechtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug, der fehlende Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung aus dem GVS-Auszug. Dass der BF gesund ist und somit an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leidet, konnte anhand seiner eigenen Angaben im gesamten Verfahren festgestellt werden.

Die Feststellung fehlender Deutschkenntnisse stützte sich insbesondere auf den hierzu gewonnenen Eindruck in der mündlichen Verhandlung, bei der er nicht einmal grundlegende Fragen auf Deutsch beantworten konnte. Darüber hinaus hat er bislang keine Deutschprüfung absolviert und hat auch den Besuch eines Deutschkurses, mangels entsprechender Kursbesuchsbestätigung, nicht nachweisen können.

II.2.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates

II.2.2.1. Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess, der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern.

II.2.2.2. Das BFA führte in der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides aus, dass die Angaben des BF sehr vage gewesen seien. Er habe vor allem Behauptungen aufgestellt, ohne diese durch konkrete Schilderungen oder stichhaltige Beweismittel zu untermauern. Die vom BF geschilderten Behauptungen würden überdies nicht das Ausmaß asylrelevanter Verfolgung erreichen. Abgesehen davon habe der BF sein Vorbringen zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA insoweit gesteigert, als er bei ersterer lediglich von Problemen mit türkischen Nationalisten sprach, vor dem BFA nunmehr auch Probleme mit der Polizei ins Treffen führte. Nun ist zwar grundsätzlich eine Gegenüberstellung der Erstbefragung mit der Einvernahme im Hinblick auf ein gesteigertes Vorbringen nicht zielführend, zumal die Erstbefragung lediglich einer ersten Orientierung dienen soll und sich gem. § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Im gegenständlichen Fall stellt das Vorbringen in der Einvernahme jedoch ein Kernvorbringen bezüglich der Flucht des BF aus der Türkei dar. Warum der BF nicht einmal ansatzweise Probleme mit der türkischen Polizei erwähnte, ist in hohem Maße unverständlich. Zudem führte das BFA aus, dass es am zeitlichen Zusammenhang zwischen den geschilderten Vorfällen und der Ausreise des BF fehle. Insgesamt beurteilte die belangte Behörde das Vorbringen des BF als nicht glaubhaft. In diesem Zusammenhang wurde auch zutreffend darauf hingewiesen, dass der BF aus wirtschaftlichen Gründen den Herkunftsstaat verlassen habe (s. dazu gleich unten).

Hinsichtlich der Angaben in der Erstbefragung und im späteren Verfahren ergibt sich ein zudem ein weiterer erheblicher Widerspruch, wenn der BF in der Erstbefragung angibt, dass die türkischen Behörden und die Polizei den Kurden in der Türkei das Leben zur Hölle gemacht hätten, sie seien eines Tages gekommen und hätten angefangen, sämtliche Sachen in seinem Kaffeehaus kurz und klein zu schlagen (AS 48), er in der mündlichen Verhandlung aber auf die konkrete Frage dazu antwortete, sie hätten die Sessel und Tische durcheinandergebracht, aber zerstört habe die Polizei nichts (Verhandlungsschrift vom 05.06.2019, Seite 11), das hätten die "grauen Wölfe" gemacht.

II.2.2.3. Die am 05.06.2019 und am 04.07.2019 durchgeführte öffentliche mündliche Verhandlung bestätigte die vom BFA vorgenommene Wertung und ließ das BVwG aufgrund nachangeführter Darstellung zu den angeführten Feststellungen gelangen.

Bereits unter II.2.1. wurde auf erhebliche Ungereimtheiten im Vorbringen des BF hingewiesen. Insbesondere fiel dabei auf, dass der BF sowohl zu seiner angeblichen Berufstätigkeit, sowie zum angeblichen Grund für seinen Schulabbruch und zu den Monaten, die seiner Ausreise unmittelbar vorausgingen, vor dem BFA und vor dem BVwG ungleiche Angaben machte. Dieses inkonsistente Aussageverhalten mit zahlreichen Ungereimtheiten setzte sich auch bei der Schilderung der Fluchtgründe vor dem BVwG fort:

Vor dem BFA schilderte der BF zunächst, dass er in der Türkei seit 1999 10 bis 15 mal von der Polizei in XXXX festgenommen und dann jedes Mal für weniger als 24 Stunden festgehalten worden sei. Die letzte Festnahme sei sieben oder acht Monate vor der Ausreise des BF erfolgt. Als Grund für diese Festnahmen vermeinte der BF, dass man verhindern habe wollen, dass er am internationalen Frauentag und am Newroztag bei einer Folkloregruppe mittanze. Die Festnahmen seien daher stets an diesen beiden Tagen erfolgt (AS 218). Er sei auch aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt worden. Zwei seiner Brüder seien beschuldigt worden der PKK anzugehören. Einer der beiden sei im Jahr 2002 für ein Jahr ins Gefängnis gekommen (AS 219). Der andere Bruder ( XXXX ) sei 1999 ins Gefängnis gekommen und seine gesamte Familie sei seither verfolgt und unter Druck gesetzt worden. Dies schilderte er derart, dass die Polizei zu ihnen nach Hause gekommen sei, Hausdurchsuchungen durchgeführt habe und dabei alles ruiniert und durcheinandergebracht habe, um den BF und seine Familie zu schikanieren. Befragt zu den Gründen für die Festnahmen durch die Polizei bzw. was die Polizei vom BF gewollt habe, führte er vor dem BFA aus, dass sie wissen wollten warum der BF in einer Folkloregruppe mittanze und sie ihn nach seinem Bruder XXXX gefragt hätten. Sie hätten ihn dort auch verprügelt und gefragt, weshalb der BF die HDP unterstütze (AS 222). Auch vor dem BVwG gab der BF an, beginnend ab 1999 etwa 10 bis 15 mal festgenommen worden zu sein. Allerdings änderte er sein diesbezügliches Vorbringen insoweit ab, als er nicht mehr nur an Newroz und/oder am internationalen Weltfrauentag festgenommen worden sein will, sondern angab, bloß "hauptsächlich" an diesen Tagen [demnach auch an anderen Tagen] festgenommen worden zu sein (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019).

Dazu kommt, dass er selbst den letzten Vorfall mit der Polizei, nämlich seine letzte angebliche Festnahme, die er überdies, anders als vor dem BFA, wo er noch von sieben oder acht Monaten vor der Ausreise sprach, mit sechs oder sieben Monaten vor der Ausreise datierte, bloß auffallend vage schildern konnte (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019):

"RI: Beschreiben Sie mir diesen Vorfall, detailliert.

P: Sie haben mich von zu Hause abgeholt und mitgenommen. Ich war wieder einen Tag im Polizeirevier, ich wurde geschlagen, am nächsten Tag kam ich frei. [...]"

Weder nannte er die konkrete Art von Schlägen, noch etwaige Verletzungen, auch nicht wie viele Polizisten daran beteiligt gewesen seien, sonstige Details oder was der Grund hierfür wäre. Sein Vorbringen ist schon deshalb nicht glaubhaft. Erst über späteres Befragen in der mündlichen Verhandlung führte er aus, dass ihn drei Polizisten abgeholt und mitgenommen hätten. Sie hätten ihm vorgeworfen der PKK zu helfen und ihn, nachdem er dies bestritten habe, geschlagen. Er sei für ca. 24 Stunden in Haft gewesen. Einerseits war auch dieses Vorbringen ähnlich vage, anderseits ist es nicht plausibel, dass der BF von der Polizei der Hilfe für die PKK verdächtigt worden wäre und gleichzeitig nach 24 Stunden einfach wieder entlassen worden sei, zumal zwei seiner Brüder aufgrund desselben Vorwurfes jeweils für 6 Jahre bzw. für 7 bis 8 Monate in Haft gewesen seien (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019).

In diesem Zusammenhang fiel außerdem auf, dass der BF in der zweiten mündlichen Verhandlung, befragt nach dem Grund für ein etwaiges Sichversteckthalten vor der Polizei angab, es sei immer eine falsche Behauptung gewesen, dass er zur PKK gehöre (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 04.07.2019). Zumal er bislang bloß vom Vorwurf der Hilfe für die PKK, nicht aber vom Vorwurf, dieser anzugehören gesprochen hatte, steigerte er sein Vorbringen wesentlich, was der Glaubwürdigkeit weiter abträglich ist.

Abgesehen davon führte er zuvor in der Verhandlung aus: "Vor der Polizei hatte ich weniger Angst, aber die -grauen Wölfe¿ waren sehr gefährlich, sie drohten mir immer. Diese haben mit der Polizei zusammengearbeitet" (Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Diese Ausführungen entbehren jeder Nachvollziehbarkeit, zumal es schlicht realitätsfern ist, dass der BF nach bis zu 15 Festnahmen mit gewaltsamen Übergriffen keine bzw. "weniger" Angst vor der Polizei hat, dafür aber vor einer Gruppe, die ihn bloß bedroht habe. Dies umso weniger als diese beiden Verfolger nach Ansicht des BF zusammenarbeiten würden und er sohin sehr wohl Angst vor jedem der beiden gleichermaßen haben müsste. Abgesehen davon konnte er auch diese Ausführungen nicht gleichbleibend aufrechterhalten, zumal er wenig später ausführte, vor der Polizei geflüchtet zu sein, die "grauen Wölfe" in diesem Zusammenhang jedoch nicht erwähnte (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Auch in der fortgesetzten mündlichen Verhandlung wurde der BF zu seiner letzten Festnahme befragt und datierte diese neuerlich mit ca. sechs Monaten vor seiner Ankunft in Österreich, räumte gleichzeitig aber ein, "es könnte Ende 2016 gewesen sein" (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 04.07.2019) was in auffallendem Widerspruch zum Ausreisedatum im Juni 2018 steht und die Glaubhaftigkeit des Stattfindens der letzten Anhaltung weiter in Zweifel zieht. Nicht nur, dass die Angaben in sich widersprüchlich sind, der BF gab nach Aufforderung in der mündlichen Verhandlung, diesen Vorfall zu schildern, nicht etwa die in der ersten Verhandlung gemachten Angaben wieder, sondern schilderte bloß allgemein, dass sein Dorf in "diesem" Gebiet bekannt sei, weil sie HDP-Leute wählen würden, was in keinster Weise mit dem bisherigen Vorbringen übereinstimmte und überdies völlig an der Frage vorbeigeht (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 04.07.2019). Insgesamt kommt den Ausführungen des BF zu seiner letzten Verhaftung, sowie zu den angeblichen Übergriffen bei den Verhaftungen durch die Polizei keinerlei Glaubhaftigkeit zu.

Vor dem BVwG brachte der BF außerdem erstmals vor, dass bei den angeblichen Hausdurchsuchungen auch die "grauen Wölfe" vor Ort gewesen seien und vor der Tür Wache gehalten hätten (Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 05.06.2019). Dieses gesteigerte Vorbringen ist nicht nachvollziehbar, weil es geradezu widersinnig ist, dass eine nationalistische gewalttätige Organisation wie die "grauen Wölfe" bei einer gewöhnlichen Hausdurchsuchung durch Polizisten Wache halten würden. Nicht nur, dass dieses gesteigerte Vorbringen schon an sich denkunlogisch ist, so ist auch nicht erkennbar, vor wem die "grauen Wölfe" Wache halten hätten sollen, wenn doch die Polizei selbst diese Dursuchungen vornahm. Es erscheint dies umso weniger realistisch, als der BF angab, dass die Polizei bei den Hausdurchsuchungen sogar ein Schriftstück dabeigehabt hätte und die Polizisten sohin zumindest den Eindruck rechtskonformer Durchsuchungen vermitteln wollten. Dementsprechend gebe es noch weniger Anlass für ein Wache halten durch die "grauen Wölfe". Die letzte Hausdurchsuchung habe sich zudem Ende 2016 ereignet, weshalb es, selbst wenn dies zutreffen würde, angesichts des Ausre

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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