Entscheidungsdatum
13.12.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
L524 2114597-2/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.11.2018, ZI. 830626307-180078632/BMI-BFA_NOE_AST_02, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG und dem FPG, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 13.05.2013 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz. Nachdem der Beschwerdeführer das Bundesgebiet verließ, wurde das Verfahren vom Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 18.09.2014 gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt.
2. Am 12.03.2015 stellte der Beschwerdeführer einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 01.09.2015, ZI. 830626307/1653789, wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.03.2017, ZI. L502 2114597-1/12E als unbegründet abgewiesen.
3. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme des BFA vom 29.09.2018 wurde der Beschwerdeführer davon in Kenntnis gesetzt, dass beabsichtigt sei, ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, da sich zwischenzeitlich die Lage im Irak geändert habe. Der Beschwerdeführer gab hierzu eine Stellungnahme ab.
4. Mit Bescheid des BFA vom 14.11.2018 ZI. 830626307-180078632/BMI-BFA_NOE_AST_02 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 01.09.2015 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 9 Abs. 4 AsylG wurde ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Das BFA führte aus, dass sich die Sicherheitslage im Nordirak seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich verbessert habe und die nunmehrige Lage in der Herkunftsregion nicht mehr die Aufrechterhaltung des zuerkannten Status rechtfertige. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei daher abzuerkennen gewesen. Damit sei die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu entziehen. Ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG sei nicht zu erteilen. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer über seinen gewillkürten Vertreter fristgerecht Beschwerde.
6. Am 15.11.2019 kehrte der Beschwerdeführer freiwillig, unter Gewährung von Rückkehrhilfe, in den Irak zurück.
II. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger, gehört der kurdischen Volksgruppe an und ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer stammt aus Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan. Dort besuchte er zwischen 1991 und 1998 die Schule. Von 2003 bis 2006 war der Beschwerdeführer in Dohuk als Friseur tätig und anschließend bis Februar 2007 für eine im Nordirak stationierte Einheit der amerikanischen Armee. Von 2008 bis 2010 arbeitete der Beschwerdeführer in Erbil als Chauffeur. Danach verrichtete er Gelegenheitsarbeiten und Chauffeurdienste. Zuletzt arbeitete er in Erbil in einem " XXXX ". Der Beschwerdeführer spricht Kurdisch, Arabisch und Türkisch.
Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Er wuchs in Dohuk mit seinen Eltern, einer Schwester und einem Bruder auf. Seine Eltern und sein Bruder sind inzwischen verstorben. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt mit ihrem Ehegatten nach wie vor im Elternhaus des Beschwerdeführers. Im Irak leben außerdem eine Tante, ein Onkel, ein Cousin und eine Cousine des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer stellte am 13.05.2013 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Dieses Verfahren wurde am 18.09.2014 gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt.
Am 12.03.2015 stellte der Beschwerdeführer einen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 01.09.2015, ZI. 830626307/1653789, wurde der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides gerichtete Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.03.2017, ZI. L502 2114597-1/12E als unbegründet abgewiesen.
Dem Beschwerdeführer wurde zuletzt mit Bescheid des BFA vom 05.09.2016, ZI. 830626307/1653789, eine bis 01.09.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG erteilt.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer wurde am 04.10.2017 auf Grund eines europäischen Haftbefehls der deutschen Staatsanwaltschaft XXXX in Österreich festgenommen und am 02.11.2017 an die deutschen Behörden übergeben. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des deutschen Amtsgerichts XXXX wegen des Einschleusens von Ausländern als Mittäter in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer befand sich ab dem 02.11.2017 in Deutschland in Haft.
Ab Juli 2019 hielt sich der Beschwerdeführer wieder in Österreich auf. Der Beschwerdeführer verließ das österreichische Bundesgebet am 15.11.2019 unter Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe und kehrte freiwillig in den Irak zurück.
Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer bezog Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer war in den Jahren 2016 und 2017 für einige Monate erwerbstätig. Im Jahr 2019 war er geringfügig beschäftigt.
Dass der Beschwerdeführer einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 absolviert hat, konnte nicht festgestellt werden. Auch die Absolvierung einer "Materialausbildung" durch den Beschwerdeführer war nicht feststellbar. In Österreich leben keine Familienangehörigen des Beschwerdeführers. Andere Integrationsaspekte waren nicht feststellbar.
Zur Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:
KI vom 18.5.2018: Parlamentswahlen
Am 12.5.2018 wurden im Irak Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteiligung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist (Spiegel Online 17.5.2018). Auf zweitem Platz liegt, nach ersten Ergebnissen, das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt im Zwischenergebnis nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018).
Obwohl die Wahlkommission die Resultate der Wahl zunächst schon am 14.5.2018 veröffentlichen wollte, liegt bis dato kein offizielles Endergebnis vor (Spiegel Online 17.5.2018). Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herum handle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).
Quellen:
- Neue Züricher Zeitung (15.5.2018): Der Überraschungssieger in der Parlamentswahl öffnet neue Horizonte für den Irak, https://www.nzz.ch/international/irak-ueberraschender-wahlsieg-bei-parlamentswahl-oeffnet-horizonte-ld.1386066, Zugriff 18.5.2018
- Die Presse (13.5.2018): Irak-Wahl: Niedrigste Beteiligung seit Sturz Saddam Husseins, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5425941/IrakWahl_Niedrigste-Beteiligung-seit-Sturz-Saddam-Husseins, Zugriff 18.5.2018
- Reuters (16.5.2018): Iraqi election commission says Kirkuk voting stations under siege, staff inside, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election-kirkuk/iraqi-election-commission-says-kirkuk-voting-stations-under-siege-staff-inside-idUSKCN1IH1YA, Zugriff 18.5.2018
- Der Spiegel Online (17.5.2018): Die Wandlung des "Mullah Atari", http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-wahl-muqtada-al-sadrs-wandlung-von-hardliner-zum-versoehner-a-1207894.html, Zugriff 18.5.2018
- The Washington Post (17.5.2018): During wait for Iraqi election results, political blocs scramble for influence, https://www.washingtonpost.com/world/during-wait-for-iraqi-election-results-foreign-states-scramble-for-influence/2018/05/17/a1d111d0-59da-11e8-9889-07bcc1327f4b_story.html?noredirect=on&utm_term=.beca16f25693, Zugriff 18.5.2018
KI vom 23.11.2017: Weitere Entwicklungen im Anschluss an das Kurdenreferendum, weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad.
Am 29.10.2017 erklärte Mas'ud Barzani seinen Rücktritt als Präsident der kurdischen Region. Er lehnte in einem Brief an das kurdische Parlament eine Verlängerung seines Mandats über den 1.11.17 hinaus ab (IFK 6.11.2017). Barzani bleibt Vorsitzender der KDP (Kurdistan Democratic Party) und somit weiterhin ein wichtiger politischer Akteur. Die weiter andauernde Lähmung des kurdischen Regionalparlamentes versetzt die beiden Parteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans) weiterhin in die Lage, politische Entscheidungen ohne die Einbeziehung der Partei Goran oder anderer Parteien zu treffen (CR 14.11.2017).
Nach der Offensive der irakischen Armee und der PMF (Popular Mobilization Forces) in die von den Kurden kontrollierten Gebiete, besteht derzeit ein Waffenstillstand, es herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit, nicht nur bezüglich der weiteren Vorgehensweise der irakischen Regierung, sondern auch die wirtschaftliche Situation Kurdistans betreffend. Unterdessen gibt es neue Beweise dafür, dass im Zuge der Offensive in den vorwiegend kurdischen Gebieten Plünderungen, Brandstiftungen, Häuserzerstörungen und willkürliche Angriffe offenbar insbesondere von Seiten der PMF (auch von Seiten turkmenischer PMF-Milizen) stattfanden. Tausende haben dabei ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihre sonstigen Besitztümer verloren. (AI 24.10.2017; Bas 14.11.2017; HRW 20.10.2017).
Laut den Vereinten Nationen (VN) kam es im Zuge der Offensive der irakischen Regierung zur Vertreibung von zehntausenden Menschen aus den sogenannten "umstrittenen Gebieten". 180.000 Menschen sind (mit Stand 18.11.2017) nach wie vor vertrieben, 172.000 sind zurückgekehrt. Die meisten dieser Vertriebenen sind Kurden, aber auch Mitglieder anderer Minderheiten, einschließlich sunnitischer Araber und Turkmenen. Die meisten Vertriebenen lebten in den Städten Kirkuk, Daquq (Provinz Kirkuk), sowie Tuz Khurmatu (Rudaw 18.11.2017). Aus Furcht vor Repressalien kehren sie derzeit nicht in ihre Heimatgebiete zurück (Reuters 9.11.2017).
Am Abend des 12.11.2017 fand in der Grenzregion zwischen Iran und Irak ein Erdbeben der Stärke 7,3 statt. Im Irak war dabei die an der Grenze zum Iran befindliche Stadt Halabja (im Autonomen Kurdengebiet) am stärksten betroffen. Acht Menschen starben im Irak, mehr als 500 wurden verletzt und hunderte Familien wurden obdachlos. Zumindest drei Gesundheitszentren wurden beschädigt. Verglichen mit dem Iran war der Irak deutlich geringer von dem Erdbeben betroffen (UNFPA 19.11.2017).
Im Zuge der Rückeroberungen von IS-Gebieten (IS: sogenannter Islamischer Staat) werden weiterhin Massengräber gefunden. Zuletzt wurde in der Nähe der Militärbasis al-Bakara etwa drei Kilometer vor der Stadt Hawija ein Grab mit mindestens 400 Toten (mutmaßlichen IS-Opfern) entdeckt (MOI 3.11.2017; Standard 11.11.2017). Umgekehrt treten weitere Berichte von Racheakten von Seiten der Befreier zutage, laut Nahostexpertin Gudrun Harrer scheint der Zyklus der Gewalt mit dem Sieg über den IS nicht unterbrochen (Harrer 24.11.2017). Mehr als 3,1 Millionen Iraker (die überwältigende Mehrheit Sunniten) sind weiterhin Vertriebene. Weitere 2,3 Millionen sind in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Für den Wiederaufbau ihrer Städte erhielten die Sunniten nicht viel Hilfe von der Zentralregierung, die sich mehr auf die Bekämpfung/Zurückdrängung des IS und zuletzt der Kurden konzentrieren (NYTimes 26.10.2017).
Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).
Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .
Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:
Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).
Bagdad:
Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.
Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).
Terrorattacken:
Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).
Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.
Kidnappings und Entführungen:
Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).
Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).
Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).
Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).
All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).
Schießereien mit Handfeuerwaffen:
Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.
Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).
Konfessionalismus und Diskriminierung:
Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.
Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).
Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).
Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:
Irakische Sicherheitskräfte (ISF):
Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).
Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).
Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu: über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).
Islamischer Staat (IS):
Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des 'Bagdad-Belt' sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).
In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf "unkonventionelle Attacken" gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).
Popular Mobilization Forces (PMF):
[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]
Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. [...] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des 'Bagdad-Belt', besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah al-Din grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).
Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.
Quellen:
- AA-Auswärtiges Amt (23.11.2017): Irak: Reisewarnungen, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738#content_1, Zugriff 23.11.2017
- AI- Amnesty International (24.10.2017): Titel? https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/10/iraq-fresh-evidence-that-tens-of-thousands-forced-to-flee-tuz-khurmatu-amid-indiscriminate-attacks-lootings-and-arson/, Zugriff 22.11.2017
- Bas - Basnews (14.11.2017): Over 1,500 Civilian Properties Damaged by Hashd al-Shaabi in Tuz KhurmatuFeatured, http://www.basnews.com/index.php/en/news/kurdistan/392677, Zugriff 22.11.2017
- BBC (3.11.2017): Islamic State and the crisis in Iraq and Syria in maps, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-27838034, Zugriff 22.11.2017
- BI - Business Insider (13.11.2017): Two suicide attacks in Iraq's Kirkuk kill at least five, http://www.businessinsider.de/us-marines-isis-iraq-2017-11?r=US&IR=T, Zugriff 22.11.2017
- CR - Control Risks (14.11.2017): Iraq Weekly, per Email am 16.11.2017
- Der Standard (11.11.2017): Massengräber mit mindestens 400 Opfern des IS im Irak entdeckt http://derstandard.at/2000067646336/Massengraeber-mit-mindestens-400-Opfern-des-IS-im-Irak-entdeckt, Zugriff 22.11.2017
- Harrer, Gudrun in der Standard (24.11.2017): "Islamischer Staat": Der Zyklus der Gewalt ist nicht gebrochen - derstandard.at/2000068367290/Islamischer-Staat-Der-Zyklus-der-Gewalt-ist-nicht-gebrochen , http://derstandard.at/2000068367290/Islamischer-Staat-Der-Zyklus-der-Gewalt-ist-nicht-gebrochen, Zugriff 24.11.2017
- HRW - Human Rights Watch (20.10.2017): Iraq: Fighting in Disputed Territories Kills Civilians, https://www.hrw.org/news/2017/10/20/iraq-fighting-disputed-territories-kills-civilians, Zugriff 22.11.2017
- IBC - Iraq Body Count (23.11.2017): Documented civilian deaths from violence, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 23.11.2017
- IBC - Iraq Body Count (28.2.2017): Incidents, https://www.iraqbodycount.org/database/incidents/page1, Zugriff 23.11.2017
- IFK - Institut für Friedens- und Konfliktforschung des Österreichisches Bundesheeres (6.11.2017): Briefing Notes 6.11.2017, per Email am 6.11.2017
- Iraqinews (15.11.2017): Terrorism index: Iraq two slots away from world's least peaceful country, https://www.iraqinews.com/features/terrorism-index-iraq-two-slots-away-worlds-least-peaceful-country/, Zugriff 23.11.2017
- K24 - Kurdistan 24 (8.8.2017): Iraq ranks third least peaceful country in the world: Report, http://www.kurdistan24.net/en/news/a5f19b70-94f2-4744-b300-6632c34e3659, Zugriff 23.11.2017
- Liveuamap (17.11.2017): 17. November 2017, http://isis.liveuamap.com/ , Zugriff 22.11.2017
- MEE - Middle East Eye (16.11.2017): The hunt for rogue IS fighters in Iraq's vast desert, http://www.middleeasteye.net/news/nowhere-left-run-rogue-fighters-ambush-iraqi-forces-hunting-them-down-1394927173, Zugriff 22.11.2017
- MOI - Musings on Iraq (3.11.2017): 1,093 Killed 721 Wounded In Iraq In October 2017 , http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/11/1093-killed-721-wounded-in-iraq-in.html , Zugriff 22.11.2017
- MRG - Minority Rights Group - Ceasefire Center for Civilian Rights (10.2017): Security Situation and sectarian tensions in the city of Baghdad, per Email am 12.9.2017
- NYTimes - New York Times (26.10.2017): As ISIS Is Driven From Iraq, Sunnis Remain Alienated, https://www.nytimes.com/2017/10/26/world/middleeast/iraq-isis-sunni.html, Zugriff 24.11.2017
- Reuters (5.11.2017): Two suicide attacks in Iraq's Kirkuk kill at least five, https://uk.reuters.com/article/uk-mideast-crisis-iraq-kirkuk/two-suicide-attacks-in-iraqs-kirkuk-kill-at-least-five-idUKKBN1D50MQ, Zugriff 22.11.2017
- Reuters (9.11.2017): Kurds displaced by Iraq advance fear reprisals if they return, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-displaced/kurds-displaced-by-iraq-advance-fear-reprisals-if-they-return-idUSKBN1D91XL, Zugriff 22.11.2017
- Rudaw (18.11.2017): UN: Over 181k people from Kirkuk, Tuz Khurmatu still displaced , http://www.rudaw.net/english/kurdistan/181120171, Zugriff 22.11.2017
- Telegraph (17.11.2017): Iraqi forces captures last Isil-held town in Iraq, http://www.telegraph.co.uk/news/2017/11/17/iraqi-forces-captures-last-isil-held-town-iraq/, Zugriff 22.11.2017
- UNAMI (1.11.2017): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of October 2017, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8132:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-october-2017&Itemid=633&lang=en, Zugriff 23.11.2017
- UNFPA - United Nations Population Fund 19.11.2017, Titel?, https://reliefweb.int/report/iraq/unfpa-scales-response-after-earthquake-hit-iraq-enar, Zugriff 22.11.2017
- MOI - Musings on Iraq (9.-11.2017): 1,093 Killed 721 Wounded In Iraq In October 2017; 728 Dead And 549 Wounded In September 2017 In Iraq; 1,958 Killed and 1,261 Wounded In Iraq In August 2017, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/09/1958-killed-and-1261-wounded-in-iraq-in.html, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/10/728-dead-and-549-wounded-in-september.html, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/11/1093-killed-721-wounded-in-iraq-in.html, Zugriff 23.11.2017
KI vom 25.10.2017: Kämpfe zwischen Peschmerga und Regierungskräften in Folge des Referendums, weitere Informationen zur Sicherheitslage
Irakische Regierungskräfte haben als Reaktion auf das Kurdenreferendum beinahe alle Gebiete eingenommen, die zu den sogenannten "umstrittenen Gebieten" zählen, einschließlich Kirkuk und die dort befindlichen Ölquellen. Auch die jesidische Stadt Sinjar werde Berichten zufolge nun von Popular Mobilization Forces (PMF) kontrolliert (NYTimes 22.10.2017; Rudaw 17.10.2017). Unter anderem kam es dabei am 20. Oktober 2017 zu schweren Gefechten zwischen irakischen Truppen und kurdischen Peschmerga-Kämpfern. Iraks gemeinsames Operationskommando teilte am Freitag mit, Kräfte von Armee, Polizei und schiitischen Milizen hätten den Ort Altun Kopri/Pirde in der umstrittenen Provinz Kirkuk eingenommen. Nach offiziellen kurdischen Angaben kamen bei den Gefechten etwa 30 Peschmerga-Kämpfer ums Leben. Auch die arabischen Kämpfer der Regierungskräfte sollen hohe Verluste gehabt haben. Von ihrer Seite hieß es, die Kurden hätten das von Deutschland für den Kampf gegen den IS gelieferte MIlan-Panzerabwehrsystem eingesetzt. Die Kurden ihrerseits beklagen, dass sie mit US-Waffen bekämpft werden. Es gab zwar vereinzelt Gefechte, meist zogen sich die Peschmerga zurück (Standard 20.10.2017). Die Anti-IS-Koalition zerfällt nicht nur entlang ethnischer Linien, sondern auch die innere Spaltung der irakischen Kurden tritt wieder stärker zutage. Die irakischen Kurden sind in sich tief gespalten. Die von Barzani geführte KDP (Kurdistan Democratic Party) beschuldigt ihren innerkurdischen Hauptrivalen PUK (Patriotic Union of Kurdistan), schuld am Verlust der Stadt Kirkuk zu sein, da diese mit der Zentralregierung in Bagdad einen Deal abgeschlossen und einige ihrer Peschmerga-Einheiten angewiesen habe, sich von ihren Positionen zurückzuziehen. Die beiden kurdischen Parteien haben unterschiedliche Interessen: Der Barzani-Clan (KDP) strebt die Unabhängigkeit von Bagdad an, der Talabani-Clan (PUK) eher die Unabhängigkeit vom Barzani-Clan - durchaus auch im Einvernehmen mit Bagdad. Ein Deal zwischen Bagdad und den Talabanis über einen kurdischen Rückzug aus Kirkuk war die Konsequenz dieser Konstellation. Verlierer sind indes beide kurdischen Parteien. Im Hintergrund stehen radikalere Fraktionen wie die PKK (Kurdische Arbeiterpartei) oder die Salafisten bereit, um das kurdische Vakuum im Irak zu füllen (TDB 16.10.2017; Presse 18.10.2017).
Die VN (Vereinten Nationen) drängen die irakische Regierung, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass alle Zivilisten geschützt sind und dass jene, die die Zivilbevölkerung bedrohen, zwangsvertreiben, oder dieser gegenüber Gewaltverbrechen begehen, gestoppt werden (Rudaw 20.10.2017). Es liegen Berichte vor, denen zufolge in der Stadt Tuz Khurmatu 150 kurdische Häuser (laut Amnesty International "hunderte Häuser") von (auch mit der Regierung verbündeten) bewaffneten Gruppen niedergebrannt wurden. Nachdem sich die Peschmerga-Kämpfer aus diesen Gebieten zurückgezogen hatten, gelangte die Stadt unter die Kontrolle von schiitisch-turkmenischen Kämpfern, die den PMF angehören. Laut VN sind mit Stand 22.10.2017 mehr als 30.000 Zivilisten aus Tuz Khurmatu geflohen. Bei Zusammenstößen zwischen Regierungskräften (einschließlich PMF-Milizen) und den kurdischen Peschmerga in Tuz Khurmatu wurden zumindest 11 Zivilisten getötet. Es schien sich dabei um einen gezielten Angriff auf überwiegend kurdische Gebiete zu handeln. Insgesamt sind laut VN 100.000 Zivilisten aus den umstrittenen Gebieten geflohen, einschließlich Zehntausender aus der Stadt Kirkuk, einige davon sind danach wieder zurückgekehrt. Den meisten jener, die geflohen sind, wird nachgesagt, dass sie Anhänger Mas'ud Barzani's seien (NYTimes 22.10.2017; AI 24.10.2017). Für den 24.10.2017 wurde ein Vorfall dokumentiert, bei dem die irakische Armee und PMF-Milizen auch einen Peschmerga-Checkpoint östlich des von den Kurden gehaltenen Dorfs Mahmud angriffen, nach schweren Gefechten scheiterten und sich ergaben, wobei zumindest 15 Menschen starben (NA 24.10.2017).
Die USA drängen darauf, dass die Regierung von Premierminister Haidar al-Abadi die Offensive stoppt, denn es scheint längst nicht mehr nur um Gebiete zu gehen, auf die die Kurden ihre Verwaltung 2014, als die irakische Armee vor dem IS floh, ausgedehnt hatten. Die Einheiten der PMF würden die Kurden gerne noch weiter zurückdrängen. US-Außenminister Rex Tillerson fordert die "iranischen Milizen" auf, das Land zu verlassen. Von einer Auflösung der Milizen ist der Irak aber weit entfernt. Umgekehrt fordert der mächtige Anführer der PMF-Miliz Asaib Ahl al-Haq, dass die Amerikaner unverzüglich abziehen sollten (Harrer 24.10.2017).
In Anbetracht der militärischen Gewalt von Seiten der irakischen Armee und der PMF boten kurdische politische Führer am 25.10.2017 an, die Unabhängigkeitsbestrebungen auszusetzen. Ein Sprecher des irakischen Militärs antwortete zunächst, dass die Offensive dennoch weitergeführt werde, eine Reaktion des Premierministers steht noch aus (Reuters 25.10.2017).
Die Organisation IS ("Islamischer Staat") wurde zwar massiv zurückgedrängt (s. Länderinformationsblatt inkl. bisherige Kurzinformationen), befindet sich aber weiterhin in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah Al-Din und Anbar. Es muss dort weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und den irakischen Sicherheitskräften, regional-kurdischen Peschmerga, Milizen und auch mit US-Luftschlägen gerechnet werden. In der Provinz Ta'mim kommt es regelmäßig zu Kämpfen zwischen terroristischen Gruppen und kurdischen Peschmerga (AA 24.10.2017). Veröffentlichungen von Audiobotschaften des IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zielen darauf ab, die Gerüchte rund um seinen Tod zu entkräften und die IS-Kämpfer in Syrien und Irak zur Standhaftigkeit aufzurufen. In Mosul etwa wurde der IS zwar vor drei Monaten besiegt, die Organisation stellt dort jedoch noch immer eine Bedrohung dar. Alleine im Zeitraum 19.9.2017 bis 13.10.2017 wurden dort zwölf Selbstmordattentäter getötet. In der Provinz Anbar versuchte der IS Ende September 2017 die Kontrolle über Teile der Stadt Ramadi wiederzuerlangen. Kurzzeitig konnten einige IS-Truppen tatsächlich Teile der Stadt besetzen, letztlich scheiterte der Versuch jedoch. Anbar war stets eine Hochburg von sunnitischen Aufständischen (IFK 13.10.2017).
Neben den militärischen Maßnahmen fasste die Zentralregierung in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum eine Reihe weiterer Maßnahmen, darunter: Die Sanktionierung kurdischer Banken, das Einfrieren von Fremdwährungstransfers, sowie das Einstellen von Flugverbindungen und mobilen Kommunikationsnetzen (IFK 13.10.2017).
Der für den 1. November 2017 festgelegte Wahltermin für Präsidial- und Parlamentswahlen in Irakisch Kurdistan wurde verschoben (Reuters 23.10.2017).
Betreffend die nächsten Parlamentswahlen auf nationaler Ebene hat die irakische Wahlkommission den 12. Mai 2018 als Wahltermin festgelegt, der Termin muss noch vom irakischen Parlament bestätigt werden (Rudaw 22.10.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (24.10.2017): http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/IrakSicherheit.html?nn=332636, Zugriff 24.10.2017
- AI - Amnesty International (24.10.2017): Iraq: Kurdish homes targeted in wave of attacks by government-backed militias, https://www.amnesty.org.uk/press-releases/iraq-kurdish-homes-targeted-wave-attacks-government-backed-militias, Zugriff 24.10.2017
- Al-Jazeera (20.9.2017): Iraq war map: Who controls what, http://www.aljazeera.com/indepth/interactive/2016/08/iraq-war-map-controls-160830115440480.html, Zugriff 27.9.2017
- Harrer, Gudrun in Der Standard (24.10.2017): USA sitzen im Irak zwischen den Stühlen, http://derstandard.at/2000066619739/Die-USA-sitzen-im-Irak-zwischen-zwei-Stuehlen, Zugriff 25.10.2017
- IFK - Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (13.10.2017): Fact Sheet Syrien & Irak, Nr. 65, per Email am 23.10.2017
- NA - The New Arab (24.10.2017): Exclusive: Iraqi troops surrender after attacking Kurdish village, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2017/10/24/exclusive-iraqis-surrender-at-makhmur-kurdistan, Zugriff 25.102.2017
- NYTimes - New York Times (22.10.2017): Iraqi Forces Overpower Kurds, but Public Relations Battle Rages, https://www.nytimes.com/2017/10/22/world/middleeast/iraq-kurds.html, Zugriff 24.10.2017
- Presse (18.10.2017): Der Nahe Osten nach dem Ende des IS, http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5305255/Der-Nahe-Osten-nach-dem-Ende-des-IS?from=suche.intern.portal, Zugriff 25.10.2017
- Reuters (23.10.2017): Iraq's Kurdistan region delays elections, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-election/iraqs-kurdistan-region-delays-elections-idUSKBN1CS0T0?il=0
- Reuters (25.10.2017): Kurds offer to suspend independence drive, seek talks with Baghdad, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-referendum/kurds-offer-to-suspend-independence-drive-seek-talks-with-baghdad-idUSKBN1CT37M?il=0, Zugriff 25.10.2017
- Rudaw (17.10.2017): Iraqi forces, Shiite militia control series of Peshmerga-held areas, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/17102017, Zugriff 24.10.2017
- Rudaw (20.10.2017): US, UN express concern over mounting violence in Kirkuk, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/201020171, Zugriff 24.10.2017
- Rudaw (22.10.2017): Iraq's parliamentary elections set for May 12, 2018, http://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/22102017, Zugriff 24.10.2017
- Standard - Der Standard (20.10.2017): Viele Tote: Irakische Armee erobert letztes Kurdengebiet in Kirkuk, www.derstandard.at/2000066379819/Kaempfe-bei-Kirkuk-Irakische-Armee-erobert-letztes-Gebiet-zurueck, Zugriff 24.10.2017
- TDB - The Daily Beast (16.10.2017): With the Battle for Kirkuk, A New Iraq Civil War May Just Be Beginning, https://www.thedailybeast.com/with-the-battle-for-kirkuk-a-new-iraq-civil-war-may-be-just-beginning, Zugriff 24.10.2017
KI vom 16.10.2017: Entwicklungen im Anschluss an das Kurden-Referendum, Offensiven gegen den IS, geplante Wahlen in der KRI
Beim Unabhängigkeitsreferendum bezüglich der Frage der Loslösung Irakisch Kurdistans (KRI) vom irakischen Staat stimmten am 25.9.17 92,7 Prozent der Stimmberechtigten für einen eigenen Staat (Wahlbeteiligung: 72 Prozent) (ORF 27.9.2017). Als Reaktion darauf verbot die irakische Zentralregierung u.a. internationale Flüge in die Region. Die irakische Zentralregierung bat zudem die beiden Länder Türkei und Iran darum, ihre Grenzen zu den kurdischen Autonomiegebieten zu schließen sowie jeglichen Handel einzustellen (BAMF 9.10.2017). Die Grenzübergänge von der KRI zum Iran und der Türkei sind seit dem Referendum nur mehr teilweise geöffnet (s. Karte unten). Die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) haben außerdem begonnen, Checkpoints an diesen Grenzübergängen einzurichten (ISW 6.10.2017).
Die Türkei, der Iran und der Irak antworteten darüber hinaus auf das Referendum mit einem aggressiven und koordinierten In-Position-bringen ihrer Truppen. Die vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden führen in der Region somit zu Annäherungen zwischen diesen drei Staaten. Am 24 September kam es zum Beschuss des Bezirks Juman (Provinz Erbil) von Seiten nicht-identifizierter iranischer Streitkräfte (ISW 6.10.2017).
Am 25. September kam es laut des kurdischen Sicherheitsdienstes Asayish von Seiten der Popular Mobilization Forces (PMF, offiziell in den irakischen Sicherheitsapparat eingegliedert) in Tuz Khurmatu zum Beschuss der kurdischen Peschmerga. Am 27. September verabschiedete der irakische Repräsentantenrat eine Resolution, welche die irakische Regierung dazu aufruft, die ISF mit der Zurückgewinnung der Ölfelder in Kirkuk zu beauftragen (ISW 6.10.2017). Premierminister Haidar al-Abadi forderte die Kurdenführung auf, alle Gebiete an die irakische Zentralregierung zurückzugeben, die die kurdischen Peschmerga-Kämpfer während des Kampfes gegen den IS unter ihre Kontrolle gebracht hatten (ORF 27.9.2017).
Am 15. Oktober 2017 eröffneten die irakischen Sicherheitskräfte (Iraqi Security Forces, ISF), Counterterrorism Services (CTS), die Bundespolizei und die vom Iran unterstützten PMF eine Offensive in Kirkuk mit dem Ziel die K1 Militärbasis, den Flughafen Kirkuk und die Ölfelder in Kirkuk von den kurdischen Peshmerga einzunehmen (ISW 15.10.2017). Dies folgte dem Ablaufen eines Ultimatums der irakischen Armee an die kurdischen Kämpfer, laut welchem der Rückzug der Peshmerga auf ihre Stellungen, die sie vor dem 6. Juni 2014 hielten, gefordert wird. Die kurdischen Peshmerga hatten diese Gebiete 2014 im Kampf gegen den IS erobert (Der Standard 15.10.2017).
Noch Stunden zuvor hatte der Irakische Sicherheitsrat den Kurden vorgeworfen, Kräfte mit Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK nach Kirkuk zu bringen. Dies sei eine "Kriegserklärung" (Der Tagesspiegel 16.10.2017).
Laut Irakischer Regierung haben die Truppen am Morgen des 16. Oktobers große Teile Kirkuks ohne Gefechte mit den Peshmerga erobert. Dies wurde jedoch von kurdischer Seite bestritten (Der Standard 16.10.2017). Südlich von Kirkuk ist es zu einem bewaffneten Zusammenstoß zwischen irakischen und kurdischen Einheiten gekommen, bei dem auch schwere Waffen eingesetzt wurden (Rudaw 16.10.2017). Laut Hemin Hawrami, einem Assistenten des kurdischen Präsidenten Massoud Barzani, hat dieser angeordnet, keinen Konflikt zu initiieren, sich im Falle eines Angriffes aber zu verteidigen (The Guardian 16.10.2017).
Auf die multiethnische Region Kirkuk erheben sowohl die Kurden im Irak als auch die Zentralregierung in Bagdad Anspruch. Kirkuk gehört nicht zum autonomen Kurdengebiet im Irak, wird aber überwiegend von Kurden bewohnt (Spiegel Online 16.10.2017).
Die Kurden im Nordirak planen nach dem Unabhängigkeitsreferendum als nächsten Schritt Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Als Wahltermin ist der 1. November vorgesehen, berichtete der Sender Rudaw TV unter Berufung auf die Wahlbehörde (Die Zeit 3.10.2017).
Am 3. Oktober 2017 verstarb der frühere irakische Staatspräsident und Gründer der kurdischen Partei "Patriotische Union Kurdistans" (PUK), Jalal Talabani, in Berlin (BAMF 9.10.2017).
Am 05.10.17 haben die irakische Armee, Polizei und paramilitärische Einheiten einen weiteren Erfolg bei der Zurückdrängung des sogenannten Islamischen Staates (IS) erzielt und die Stadt Hawija (rd. 300 km nördlich von Bagdad) zurückerobert. Gegen mehrere, weiterhin vom IS kontrollierte Orte im Nordwesten läuft eine Offensive der irakischen Armee (BAMF 9.10.2017). Im Rahmen der Offensive rund um Hawija kam es wiederum zu Menschenrechtsverletzungen von Seiten der PMF gegenüber Zivilisten, darunter unrechtmäßige Verhaftungen und Folter (K24 29.9.2017).
Während der Mosul-Offensive hatte sich das Ausmaß der berichteten Racheakte und Menschenrechtsverletzungen massiv vergrößert, inzwischen ist der Zorn auf IS-Sympathisanten, und Personen, die als solche wahrgenommen werden, so groß, wie er zuletzt im konfessionell motivierten Bürgerkrieg [ca. 2006-2007] war (NW 2.10.2017).
Quellen:
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (9.10.2017): Gruppe 22 - Informationszentrum Asyl und Migration Briefing Notes, Per Email am 9.10.2017
- ISW - Institute for the Study of War (6.10.2017): Cascading Crisis in Iraqi Kurdistan, http://www.understandingwar.org/backgrounder/cascading-crisis-iraqi-kurdistan, Zugriff 9.10.2017
- ISW - Institute for the Study of War (15.10.2017): The "War after ISIS" begins in Iraq, https://iswresearch.blogspot.co.at/2017/10/the-war-after-isis-begins-in-iraq.html, Zugriff 16.10.2017
- Der Standard (15.10.2017): Iraks Armee stellt kurdischen Kämpfern in Provinz Kirkuk ein Ultimatum, https://derstandard.at/2000066011666/Iraks-Armee-stellt-kurdischen-Kaempfern-in-Provinz-Kirkuk-Ultimatum, Zugriff 16.10.2017
- Der Standard (16.10.2017): Iraks Militär meldet Einnahme von weiten Teilen Kirkuks, https://derstandard.at/2000066081302/Irak-rueckt-in-Kurdengebiet-vor, Zugriff 16.10.2017
- Der Tagesspiegel (16.10.2017); Irakische Truppen rücken in kurdische Gebiete ein, http://www.tagesspiegel.de/politik/irak-irakische-truppen-ruecken-in-kurdische-gebiete-ein/20459330.html, Zugriff 16.10.2017
- Die Zeit (3.10.2017): Kurden im Irak kündigen Wahlen an, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/nordirak-kurden-referendum-tuerkei-sanktionen, Zugriff 9.10.2017
- K24 - Kurdistan 24 (29.9.2017): HRW accuses Iraqi Shia militias of rights violations, abuse in Hawija, http://www.kurdistan24.net/en/news/9be76f6c-f619-4861-abfd-3835f69223eb, Zugriff 9.10.2017
- NW - Newsweek (2.10.2017): End of ISIS: Victims of the Islamic State Group Are Taking Revenge However They Can, http://www.newsweek.com/isis-victims-mosul-thirsting-revenge-675324, Zugriff 9.10.2017
- ORF (27.9.2017): Beteiligung bei 72 Prozent , http://orf.at/stories/2408782/2408783/, Zugriff 9.10.2017
- Rudaw (16.10.2017, Stand 09:12 Uhr): Live: Iraqi forces, Shiite militia engage in fighting with Peshmerga south of Kirkuk, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/151020177, Zugriff 16.10.2017
- Spiegel Online (16.10.2017): Irakische Truppen rücken auf Kurdengebiet vor, http://www.spiegel.de/politik/ausland/kirkuk-irakische-truppen-ruecken-auf-kurdengebiet-vor-a-1173033.html, Zugriff 16.10.2017
- The Guardian (16.10.2017): Iraqi forces clash with Kurds in operation to "impose security" on Kirkuk, https://www.theguardian.com/world/2017/oct/16/iraqi-army-advances-kirkuk-kurds, Zugriff 16.10.2017
KI vom 27.9.2017: Kurden-Referendum, Offensiven gegen den IS, Hinrichtungen
Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017).
Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017).
Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es untersch