Entscheidungsdatum
03.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W114 2175934-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 04.10.2017, Zl. 1120913803/160924835/BMI-BFA_STM_AST_, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX , geb. XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem, stellte am 03.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Im Rahmen der am 04.07.2016 erfolgten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, aus dem Distrikt Sherzad, in der Provinz Nangarhar in Afghanistan zu stammen. Seine Muttersprache sei Paschto. Er sei ledig. Er habe sechs Jahre lang die Grundschule in Afghanistan besucht. Sein Vater sei ca. im Jahr 2007 eines natürlichen Todes gestorben. Der BF habe zwei Brüder und zwei Schwerstern. Er sei schlepperunterstützt von Nangarhar nach Österreich gereist. Die Kosten des Schleppers hätten 600.000,- pakistanische Kaldari (entspricht ca. EUR 3.500,-) betragen. Dieser Betrag sei von einem Onkel mütterlicherseits bezahlt worden.
Befragt zu seinen Fluchtgründen, gab der BF an, dass sein älterer Bruder für die Regierung in Afghanistan gearbeitet habe. Die Taliban hätten seinen Bruder aufgefordert, seine Arbeit für die Regierung zu beenden. In diesem Zusammenhang sei die ganze Familie seines Bruders und damit auch der BF selbst bedroht worden. Aus Angst vor den Taliban sei der BF aus Afghanistan geflüchtet.
3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 30.08.2017 gab der Beschwerdeführer an, dass er gesund sei. Er entstamme einer großen Familie und der Name seines Stammes sei XXXX . Er bestätigte, dass er der Volksgruppe der Paschtunen angehöre und sunnitischer Moslem sei. Er sei in Jalalabad geboren und im Alter von fünf oder sechs Jahren in den Distrikt Sherzad in das Dorf XXXX gezogen, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Sämtliche Familienangehörige würden in der Provinz Nangarhar leben. Er verfüge über eine sechsjährige Schulbildung und habe auch im Lebensmittelgeschäft seiner Familie als Verkäufer gearbeitet. Seine Familie habe in seinem Heimatdorf ein Haus und ein kleines Grundstück besessen.
Afghanistan habe er verlassen, weil die Taliban dem Beschwerdeführer und seiner Familie gedroht hätten, zumal sein Bruder für die Regierung gearbeitet habe. Der Beschwerdeführer sei selbst persönlich von den Taliban aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen und eine Koranschule zu besuchen, um anschließend ein Selbstmordattentäter zu werden. Drei bis vier Tage später sei sein Bruder ebenfalls aufgefordert worden, sich gemeinsam mit dem Beschwerdeführer den Taliban anzuschließen. Ein paar Tage später sei die Familie von den Taliban angegriffen worden. Während dieses Angriffes hätten die Taliban das Haus der Familie beschossen. Dabei wären der BF und seine beiden Brüder geflüchtet. Der Beschwerdeführer sei direkt zu einem Onkel mütterlicherseits geflüchtet. Er konnte nicht angeben, wohin seine Brüder geflüchtet wären. Sein Onkel habe anschließend seine Ausreise organisiert und finanziert. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung, da die Taliban ihn überall finden könnten.
4. In einem Schriftsatz vom 13.09.2017 äußerte sich der Beschwerdeführer zur Situation in Afghanistan, insbesondere zur Verfolgung durch die Taliban bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Der BF wäre bei einer Rückkehr ebenfalls aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Bruders, der für amerikanische Streitkräfte gearbeitet habe sowie aufgrund von Blutrache, von Verfolgungshandlungen durch die Taliban bedroht.
5. Mit Bescheid des BFA vom 04.10.2017, Zl. 1120913803/160924835/BMI-BFA_STM_AST_, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers nicht habe festgestellt werden können. Sein Fluchtvorbringen sei nicht glaubwürdig. Im Falle einer tatsächlich vorliegenden Verfolgungsgefahr hätte sich der BF dieser durch Verlegung seines Wohnsitzes entziehen können. Es wäre ihm jedenfalls die Provinz Kabul, als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden, sodass auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine reale Gefahr einer Verfolgung bestehen würde. Er würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls nicht in eine Situation kommen, die eine unmenschliche Behandlung iSd Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde. Es würden auch keine Gründe vorliegen, die gem. § 8 AsylG zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen würden.
Dieser Bescheid wurde dem BF am 06.10.2017 zugestellt.
6. Gegen diese Entscheidung erhob der BF, vertreten durch das XXXX , diese vertreten durch die Caritas der Diözese Graz-Seckau, mit Schriftsatz vom 03.11.2017 Beschwerde.
Begründend führte er aus, dass er in Afghanistan eine individuelle, konkret gegen ihn gerichtete Verfolgung aus Konventionsgründen zu befürchten hätte. Insbesondere seine Furcht vor Zwangsrekrutierung und Verfolgung durch die Taliban, habe er im bisherigen Verfahren substantiiert und nachvollziehbar dargelegt. Sein Fluchtvorbringen sei von der Behörde mangelhaft ermittelt worden. Er selbst sei bereits von den Taliban aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Durch die Nichtbefolgung der Aufforderung werde dem BF von den Taliban eine prowestliche politische Gesinnung unterstellt. Da seine älteren Brüder unbekannten Aufenthaltes wären, sei er außerdem nunmehr als ältester Sohn der Familie, der sich nun im wehrfähigen Alter befinde, bei einer Rückkehr nach Afghanistan besonders gefährdet, von Taliban verfolgt zu werden. Die Gruppe der "jungen Männern, im wehrfähigen Alter" würden eine Risikogruppe darstellen. Aufgrund des für die Amerikaner tätigen Bruders, sei der BF hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie von Verfolgungshandlungen durch die Taliban bedroht. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Nangarhar sei aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht möglich. Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, zumal der BF über keine Fach- bzw. Berufsausbildung sowie über keinerlei Arbeitserfahrung außerhalb von Hilfstätigkeiten im innerfamiliären Lebensmittelgeschäft verfüge. Der BF verfüge weder in Kabul noch in Herat oder Mazar-e Sharif über familiäre Anknüpfungspunkte. Diesbezüglich ergebe sich, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan, bezogen auf das gesamte Staatsgebiet, in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würde, eine Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.
7. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 09.11.2017 mit Schreiben des BFA vom 06.11.2017 zur Entscheidung vorgelegt.
8. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 14.01.2020 wurde der Beschwerdeführer vom XXXX vertreten. Die Verhandlung fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschto statt. Das BFA hatte bereits mit der Beschwerdevorlage vom 06.11.2017 auf eine Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.
In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen, insbesondere zu den Problemen mit den Taliban befragt. Dabei gab der BF an, dass ihn die Taliban zweimal persönlich aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschließen, die zweite Aufforderung sei ca. ein Monat nach der ersten Aufforderung gewesen. Der Angriff auf seine Familie, der zu seiner Flucht geführt habe, hätte sich "lange Zeit später", nach ca. drei Monaten, ereignet. Zu diesem Angriff selbst könne der BF keine detaillierten Angaben machen, da er lediglich mitbekommen habe, dass ein Angriff stattgefunden hätte. Er selbst habe keinen Angreifer gesehen und sofort nach Beginn des Angriffes sein elterliches Wohnhaus durch einen Hinterausgang verlassen. Seine beiden Brüder hätten mit ihm ebenfalls das Haus verlassen. Dabei habe er sich von seinen beiden Brüdern getrennt. Er oder seine Familie hätten seither keine Informationen über den Verbleib seiner beiden Brüder.
Die Taliban hätten die gesamte Familie aufgrund der Arbeit seines Bruders bedroht. Zu dem Zeitpunkt, als die Familie in ihrem Haus angegriffen worden sei, habe sein ältester Bruder jedoch nicht mehr für die Regierung bzw. für Amerikaner gearbeitet. Der Beschwerdeführer sei direkt zu seinem Onkel geflüchtet. Dieser habe anschließend seine Ausreise organisiert.
Befragt, warum der BF aktuell überall in Afghanistan bei einer Rückkehr von den Taliban verfolgt werden würde, antwortete der Beschwerdeführer, dass - selbst wenn er nicht überall gesucht werde - er ohne Ausbildung und Berufserfahrung sowie ohne Unterstützung nicht in einer Stadt überleben könne, da er mit dem Stadtleben nicht vertraut sei.
Der Beschwerdeführer führte auch aus, dass er gesund und arbeitsfähig sei. Er habe in Afghanistan bereits Berufserfahrung im Verkauf und in der Landwirtschaft, beim Anbau von Getreide, sammeln können. Aufgrund seines jungen Alters könne jedoch nicht von einer Berufserfahrung gesprochen werden. Mit einem Onkel mütterlicherseits stehe er in regelmäßigem Kontakt. Seine Familie könne ihn bei einer Rückkehr nicht unterstützen. Wie die Kosten seiner Flucht von seiner Familie finanziert worden wäre, wisse er nicht.
In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wurde dem BF eine Kopie des aktuellsten Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 ausgefolgt und ihm eine Frist zu einer allfälligen Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt.
10. In einer Stellungnahme vom 28.01.2020 verwies der BF selbst auf das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 und führte aus, dass die Sicherheitslage im Besonderen in seiner Herkunftsprovinz Nangarhar schlecht sei. Der ISKP führe im Besonderen in seiner Heimatprovinz und in Kabul Terroranschläge durch. Die Taliban würden seine Herkunftsregion beherrschen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, seines Schriftsatzes vom 13.09.2017, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Asyl- bzw. Beschwerdeverfahren vorgelegten Dokumente, der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vom 14.01.2020, der Stellungnahme des BF vom 20.01.2020 und der Einsichtnahme in die Bezug habenden Unterlagen des Verwaltungsverfahrens, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, den EASO-Länderleitfaden und EASO-Berichte betreffend Afghanistan, EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019, des Berichtes des Generalsekretariats der UNO zur Situation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheitslage vom 14.06.2019, einen UNAMA-Bericht über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vom Juli 2019, Berichten von Landinfo betreffend Rekrutierung durch Taliban in Afghanistan sowie "Report Afghanistan: Taliban's Intelligence and the intimidation campaign", einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul sowie in die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zum Beschwerdeführer:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem. Er spricht die Sprache Paschto, eine in Afghanistan sehr weit verbreitete Sprache. Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Jalalabad, in der Provinz Nangarhar, in Afghanistan geboren. Im Alter von fünf bis sechs Jahren ist der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie in den Distrikt Sherzad, in das Dorf XXXX , gezogen, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Er besuchte sechs Jahre lang eine Schule und verfügt über Erfahrung im Bereich des Verkaufs in einem Lebensmittelgeschäft sowie in der Landwirtschaft.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Seine Familie verfügt in seinem Heimatdorf über ein eigenes Wohnhaus und ein landwirtschaftliches Grundstück. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie in Kontakt. Der Vater des Beschwerdeführers ist ca. im Jahr 2007 verstorben. Die Mutter und die beiden Schwestern leben in der afghanischen Provinz Nangarhar. Der Beschwerdeführer verfügt über weitere familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimatprovinz Nangarhar. Die Kosten seiner schlepperunterstützten Flucht betrugen 600.000,- pakistanische Rupien (umgerechnet ca. EUR 3.500,-). Dieser Betrag wurde von einem Onkel mütterlicherseits bezahlt. Der Beschwerdeführer kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Unterstützung durch Familienmitglieder oder Verwandte rechnen.
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Er geht in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Er lebt von der Grundversorgung und ist strafrechtlich unbescholten.
In Österreich gibt es keine Personen, die auf die Unterstützung durch den BF angewiesen sind. Er lebt in Österreich in keiner Beziehung.
Der Beschwerdeführer stellte am 03.07.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
XXXX , der älteste Bruder des Beschwerdeführers, arbeitete von Juli 2009 bis April 2011 in Afghanistan für ausländische Streitkräfte. Zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers im ersten Halbjahr 2016 hatte XXXX seine Tätigkeit für diese ausländischen Streitkräfte bereits seit fünf Jahren beendet gehabt. XXXX , der Beschwerdeführer selbst und auch weitere Familienmitglieder des Beschwerdeführers haben jedenfalls in diesem Fünfjahreszeitraum - von Taliban unverfolgt im Heimatort des Beschwerdeführers in der Provinz Nangarhar gelebt. Der Beschwerdeführer berichtete über keine individuellen Verfolgungshandlungen oder sicherheitsrelevanten Vorfälle wegen der ehemaligen Tätigkeiten seines Bruders für ausländische Sicherheitskräfte in diesem fünf Jahre andauernden Zeitraum.
Der Beschwerdeführer hat keine Angaben getätigt, aus denen gefolgert werden könnte, dass er von Blutrache betroffen sein könnte. Demnach ist der Beschwerdeführer auch nicht von Blutrache betroffen.
Der BF wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr, insbesondere durch Zwangsrekrutierung betroffen. Er wäre weder aufgrund der Zugehörigkeit zu seiner Familie, aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Rückkehrer nach Afghanistan, noch wegen seiner politischen Gesinnung oder einer ihm unterstellten politischen Gesinnung, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.
Es ist zu befürchten, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Nangarhar und im Besonderen in seinen Heimatdistrikt aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen könnte.
Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan vom 13.11.2019 und die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 berücksichtigend, kann der Beschwerdeführer jedenfalls nach Herat oder in Mazar-e Sharif, Städte in Afghanistan, die über einen für Zivilflugzeuge erreichbaren Flughafen verfügen, zurückkehren und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Die Vor-Ort-Verhältnisse, die Versorgungslage und auch die Sicherheitslage in diesen Städten ist nicht derart, dass der BF als alleinstehender, junger, gesunder, arbeitsfähiger und volljähriger Mann mit Schulbildung und Arbeitserfahrung bei einer Wiederansiedelung - entsprechende erforderliche Bemühungen des BF vorausgesetzt - in diesen Städten auf Dauer in eine aussichtslose Situation geraten würde, wenn auch eine Wiederansiedelung am Beginn mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Unterstützung durch in Afghanistan befindliche Familienmitglieder, insbesondere durch einen Onkel mütterlicherseits, rechnen kann.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Politische Lage:
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 07.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 03.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.09.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019).
Parlament und Parlamentswahlen:
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus 2 Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt) sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident 2 Sitze für die nomadischen Kutschi und 2 weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess:
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident GHANI hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid KARZAI und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr 2019 sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 06.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Gegenwärtig wurden die Gespräche zur Beilegung der Konflikte und zum Abzug der internationalen Truppen zwischen Vertretern der Taliban und von amerikanischer Seite wiederaufgenommen, wenngleich aber auch kämpferische Operationen weiterhin durchgeführt werden.
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 06.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 06.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 07.03.2016; UNGASC 03.03.2017; UNGASC 28.02.2018; UNGASC 28.02.2019))
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Für den Berichtszeitraum 10.05.2019-08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02-09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 04.11.2019):
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Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 01.01.2018-30.09.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 04.11.2019)
Im Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast 2 Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer:
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.-30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 01.01.2009-30.09.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.02.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (01.01.2019-30.09.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs):
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 06.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 06.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 06.2019).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 06.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 06.2019):
Taliban:
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 06.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah AKHUNDZADA (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad YAQUB - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah OMAR - und Serajuddin HAQQANI (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in 2 Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden und Teilzeitkämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in 8 Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, wobei es möglich sein soll, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).