Entscheidungsdatum
29.04.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W114 2202043-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 19.06.2018, Zl. 1098143402/151947700, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.03.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.04.2021 erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX , im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF, ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und schiitischer Moslem, stellte am 07.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei der am 08.12.2015 erfolgten Erstbefragung vor der Polizeiinspektion Traiskirchen, gab der Beschwerdeführer an, am XXXX geboren zu sein. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Er stamme aus dem Dorf XXXX , welches sich in der Provinz Baghlan befinde. Seine Muttersprache sei Dari. Er habe "bis zur 8. Klasse zu Hause einen Privatlehrer gehabt". Er habe eine Schwester und drei Brüder. Sein älterer Bruder sei bereits verstorben. Seine Familie besitze eine Landwirtschaft und ein Wohnhaus und habe ihren Lebensunterhalt aus Erträgnissen der Landwirtschaft und durch den Verkauf von Alkohol bestritten. Eineinhalb Monate bevor er den Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, sei der Beschwerdeführer schlepperunterstützt mit seiner Familie aus Afghanistan ausgereist. An der Grenze zu Pakistan habe er seine Eltern verloren. Von Pakistan aus sei er allein nach Österreich gereist.
Befragt nach seinen Fluchtgründen führte er aus, dass sein Bruder von den Taliban getötet worden sei. Sein Vater habe gemeinsam mit dem älteren Bruder des Beschwerdeführers Alkohol produziert und verkauft. Ein Bekannter habe den Vater telefonisch über den Tod seines ältesten Sohnes informiert. Daraufhin sei die gesamte Familie gemeinsam geflüchtet.
3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 16.05.2018 führte er aus, dass er aus dem Dorf XXXX , im Distrikt Baghlan-e-Markazi, in der Provinz Baghlan, stamme. Im Kleinkindalter sei er mit seiner Familie in den Iran auswandert und im Alter von sechs Jahren nach Pakistan gezogen. Mit etwa neun Jahren sei er wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Er habe keine Arbeitserfahrungen.
Der BF wiederholte, dass sein Vater und sein Bruder Alkohol verkauft hätten. Sie wären öfter zwischen Kunduz und Tadschikistan unterwegs gewesen. Eines Tages habe sein Vater durch einen Anruf vom Tod seines Sohnes erfahren. Daraufhin habe die gesamte Familie umgehend das Haus verlassen und zwei bis drei Tage in einer Pension gewohnt. Der Vater habe umgehend eine schlepperunterstützte Ausreise für die gesamte Familie organisiert. An der pakistanischen Grenze sei die Familie von den Taliban attackiert worden. Die Familienmitglieder seien in verschiedene Richtungen geflüchtet. Der Beschwerdeführer habe seine Familie verloren. Er habe sich in den Bergen versteckt. Ein Schlepper habe ihn gefunden und sei mit ihm in den Iran gereist. Aus dem Iran sei der BF weiter schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Fünf Monate vor seiner Einvernahme durch das BFA habe ihm eine Tante väterlicherseits, die in Baghlan lebe, am Telefon berichtet, dass seine Familie im Iran lebe. Er habe keinen Kontakt zu seiner Familie. Er habe nur mit seiner Tante väterlicherseits unregelmäßig telefonisch Kontakt gehabt und sei von ihr angerufen worden, zumal sie selbst kein eigenes Telefon besessen habe. Seit seine SIM-Karte defekt sei, habe seine Tante keine Möglichkeit mehr, mit ihm zu telefonieren.
Obwohl der BF nicht selbst Alkohol verkauft habe, würden ihn die Taliban verfolgen und ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan, wie seinen Bruder, töten. In seinem Heimatdorf wären die Taliban sehr aktiv.
Befragt zu seinem Gesundheitszustand gab der Beschwerdeführer an, dass er an Schlafstörungen und an Bluthochdruck leide. Aufgrund einer diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung sei er untertags oftmals sehr müde. Diesbezüglich befinde er sich in ambulanter ärztlicher Behandlung im LKH Rankweil, Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gegen seine Schlafstörungen nehme er abends eine Tablette. Sein Blutdruck werde regelmäßig kontrolliert. Ob der BF wegen des Bluthochdrucks Medikamente nehmen müsse, sei noch nicht entschieden worden.
Der Beschwerdeführer legte im Rahmen der Einvernahme einen Lehrvertrag mit der XXXX . vom 13.12.2017 (Lehre abgebrochen), diverse Unterstützungserklärungen, eine Berufsschulbestätigung vom 20.03.2018, eine Stellungnahme des Landeskrankenhauses Rankweil, Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie, vom 02.05.2018, hinsichtlich einer diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung [F43.1], samt Verordnungsblatt, womit die Einnahme von Trittico 150mg ret. verschrieben wurde, eine Bestätigung einer Psychotherapeutin vom ifs Psychotherapie Institut für Sozialdienste vom 12.06.2017, womit bestätigt wird, dass der BF vom 13.03.2016 bis 12.06.2017 zur Psychotherapie angemeldet war sowie die Beendigung der Therapie aufgrund des Pensionsantrittes der Therapeutin, eine Schulbesuchsbestätigung für das Schuljahr 2015/16 vom 08.07.2016, einen Startausweis des österreichischen Boxverbandes, diverse Kursbesuchsbestätigungen sowie Deutschkursteilnahmebestätigungen vor.
4. Mit einer Stellungnahme zu den Länderfeststellungen und zur Asylrelevanz des Vorbringens vom 25.05.2018, verwies der BF auf die schlechte allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in der Provinz Baghlan sowie auf die mangelnde Schutzfähigkeit afghanischer Sicherheitsbehörden. Aufgrund seiner posttraumatische Belastungsstörung gehöre der Beschwerdeführer zur vulnerablen Gruppe der "psychisch Kranken". Es sei von einer allgemeinen Gruppenverfolgung der sozialen Gruppe der "psychisch Kranken" auszugehen. In Afghanistan gebe es keine geeigneten Psychiater und Psychologen. Psychische Krankheiten würden lediglich mit inadäquaten Medikamenten behandelt werden. Weiters werde der BF aufgrund seiner Minderjährigkeit, seiner Volksgruppenzughörigkeit als Tadschike und schiitischer Moslem verfolgt. Durch den Alkoholverkauf des Vaters und seines Bruders, werde der BF bei einer Rückkehr aufgrund seiner Familienzugehörigkeit von den Taliban verfolgt werden. Aufgrund der Vernetzung der Taliban sei eine innerstaatliche Fluchtalternative für den BF nicht vorhanden. Eine erforderliche medizinische Versorgung des BF sei bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht gewährleistet.
5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 19.06.2018, Zl. 1098143402/151947700, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm.
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft dargelegt habe. Nicht der Beschwerdeführer, sondern der Vater des BF habe die Entscheidung über die Flucht der Familie aus Afghanistan getroffen. Der Beschwerdeführer habe nie vorgebracht persönlich bedroht worden zu sein, sodass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Bedrohung zu befürchten hätte. Sein weiteres Fluchtvorbringen stütze sich lediglich auf die allgemeine schlechte Situation in Afghanistan. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Kabul zumutbar sei. In Kabul gebe es ebenfalls Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Problemen. Die gesundheitlichen Probleme des BF seien nicht lebensbedrohlich und würden kein Abschiebehindernis darstellen. Insbesondere habe sich der BF selbst als gesund und arbeitsfähig bezeichnet. Der Beschwerdeführer könne mit Unterstützung von in Afghanistan wohnhaften Angehörigen rechnen.
Dieser Bescheid wurde dem BF am 26.06.2018 zugestellt.
6. Gegen diese Entscheidung erhob der BF, vertreten durch die XXXX , Beschwerde wegen eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens, inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Die Behörde habe bei der Einvernahme die Minderjährigkeit des BF nicht berücksichtigt und somit die gebotene Manuduktionspflicht unterlassen. Der BF verwies weiters auf die UNHCR-Richtlinien. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei mangels familiärer Anknüpfungspunkte in Afghanistan nicht vorhanden. Die Familie der Tante würde den BF jedenfalls nicht unterstützen, falls sie erfahren würde, dass die Familie des BF Alkohol verkauft habe. Außerdem wären die in Afghanistan lebenden Verwandten wirtschaftlich nicht in der Lage den Beschwerdeführer zu unterstützen. Aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der "psychisch Kranken", zur Gruppe der "Familienangehörigen" seines Vaters und seines Bruders, sowie aufgrund seiner westlichen Gesinnung, würde er bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein. Er zähle insbesondere wegen seines jugendlichen Alters, seiner Volksgruppenzugehörigkeit sowie seiner Zugehörigkeit zur schiitischen Minderheit zu einer besonders vulnerablen Gruppe.
7. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Schreiben des BFA vom 24.07.2018 am 27.07.2018 zur Entscheidung vorgelegt.
8. Am 27.02.2019 übermittelte der BF eine Schulbesuchsbestätigung des Bundesoberstufenrealgymnasiums Lauterach vom 21.02.2019, in der bestätigt wird, dass der BF den Lehrgang für Jugendliche mit geringer Kenntnis der Unterrichtssprache besucht habe.
Am 19.09.2019 und am 11.10.2019 übermittelte der BF weitere Kursbestätigungen und diverse Empfehlungsschreiben.
9. Gemeinsam mit der Ladung zur Beschwerdeverhandlung vom 08.01.2020 wurden dem Beschwerdeführer umfassend Länderberichtsinformationsmaterial zu Afghanistan zugänglich gemacht und ihm die Möglichkeit geboten, dazu eine Stellungnahme abzugeben.
10. Am 03.02.2020 übermittelte das BFA dem BVwG eine Mitteilung des Arbeitsmarktservice (AMS) vom 27.01.2020, wonach dem BF eine Beschäftigungsbewilligung für Arbeiten bei der XXXX für den Zeitraum vom 24.01.2020 bis 23.01.2021 ausgestellt worden sei.
11. Mit Schreiben vom 13.02.2020 legte die XXXX die ihr erteilte Vertretungsvollmacht zurück.
12. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 11.02.2020 wurde der Beschwerdeführer, nunmehr vertreten von XXXX , zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen befragt. Die Verhandlung fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Das BFA nahm an der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht teil.
In der mündlichen Verhandlung führte der BF selbst ausdrücklich aus, dass er arbeitsfähig sei und untermauerte das durch die Vorlage seines Arbeitsvertrages mit der XXXX vom 03.02.2020. Er legte auch mehrere Unterstützungsschreiben, insbesondere eines von einer Trainerin des XXXX vom 10.10.2019 vor. Darin weist die Verfasserin auf seine Pünktlichkeit, seine umgängliche und höfliche Art, seine schnelle Auffassungsgabe sowie seine große Motivation bei seiner Jobsuche hin. Er berichtete auch, dass er sportlich aktiv sei. Er absolviere zweimal in der Woche ein Boxtraining. Bevor er mit seiner nunmehrigen Arbeit begonnen habe, habe er noch mehr Zeit gehabt und wöchentlich sogar viermal trainiert.
Zu seinem Gesundheitszustand befragt, führte der BF aus, dass er an Schlafstörungen und Bluthochdruck leide. Diesbezüglich legte der BF mehrere Arztbriefe von XXXX vor, in denen hingewiesen wird, dass der BF an einer behandlungsbedürftigen juvenilen arteriellen Hypertonie leide. Er befinde sich "aufgrund dieser chronischen Diagnose" seit März 2018 in Behandlung. Er nehme die Dauermedikation "Enalapril 10mg, Tbl.1-0-0". Befragt nach seiner medizinischen bzw. therapeutischen Behandlung führte der BF aus, in einem Abstand von sechs bis acht Wochen seinen behandelnden Arzt aufzusuchen. Er messe täglich seinen Blutdruck. Die Aufzeichnungen lege er seinem Hausarzt vor. Bei Bedarf werde die Dosierung seines Medikaments angepasst. Er sei auch einmal bei einem Kardiologen gewesen. Dieser habe sein Herz, die Nieren sowie seinen Oberkörper untersucht. Der Beschwerdeführer konnte sich jedoch weder an den Namen dieses Kardiologen noch den Zeitpunkt, wann diese Untersuchungen durchgeführt wurden, erinnern.
Der Beschwerdeführer machte in der mündlichen Verhandlung einen wachen, klaren und selbstbewussten Eindruck.
Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der Beschwerdeführer erneut aus, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban, aufgrund des Alkoholverkaufs des Vaters und des Bruders, verfolgt werden würde. Für die Taliban mache es keinen Unterschied, ob der BF selbst Alkohol verkauft habe oder nur bestimmte Familienmitglieder. Die Taliban würden jeder Person, die etwas mit Alkohol zu tun habe, unterstellen, mit Ausländern in Verbindung zu stehen. Sein Bruder sei bereits von den Taliban getötet worden. Näher befragt, woher der BF wisse, dass es sich um Taliban gehandelt habe, gestand der BF, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass nicht die Taliban, sondern strenggläubige Moslems oder andere radikale Gruppierungen für den Tod seines Bruders verantwortlich gewesen wären.
Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Verhandlung erstmals an, dass bestimmte Verwandte des BF, Mitglieder der Taliban und der Daesh wären. Sein Vater habe in Afghanistan einige Geschwister. Der BF konnte jedoch weder deren Anzahl noch deren Namen angeben. Er habe mit diesen Verwandten nicht viel Zeit verbracht, da sich sein Vater von seinen Geschwistern aufgrund deren Sympathie zu diversen radikalen Gruppierungen distanziert habe und dem BF verboten habe, Kontakt mit seinen Tanten und Onkeln zu haben. Anfangs führte er aus, dass ein Sohn seiner Tante väterlicherseits Mitglied der Taliban sei, sodass es für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat gefährlich sein würde. Bei der weiteren Befragung führte der BF jedoch aus, dass er sicher sei, dass alle vier Söhne sowie der Ehemann seiner Tante Mitglieder der Taliban oder der Daesh wären. Da seine Tante väterlicherseits wisse, dass der BF über vier Jahre in Europa gelebt habe, würde er bereits aus diesem Grund von seinen Familienmitgliedern verfolgt werden. Der BF gab ausdrücklich an, nie von den Söhnen oder dem Ehemann seiner Tante persönlich bedroht worden zu sein. Aus welchem Grund der BF mit seiner Tante väterlicherseits freiwillig Kontakt gehabt habe, obwohl er sich angeblich vor ihren Söhnen und ihrem Ehemann fürchte, beantwortete der BF dahingehend, dass seine Tante ihr Mitgefühl hinsichtlich des Verlustes seines Bruders ausgedrückt habe und dem BF aufgrund seiner schlechten psychischen Verfassung Trost gespendet habe.
Der Beschwerdeführer gab auch an, dass er eine in Österreich begonnene Lehre nach acht oder neun Monaten beendet hat.
In der mündlichen Verhandlung beantragte die Vertreterin des BF die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachbereich Psychiatrie, hinsichtlich des psychischen Zustandes des Beschwerdeführers und der Folgen einer möglichen Abschiebung nach Afghanistan.
12. Am 31.03.2020 übermittelte der BF ein ÖIF-Zeugnis zur Integrationsprüfung - Sprachniveau B1 vom 29.01.2020, in welchem bescheinigt wird, dass der BF "die B1-Prüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Sprachniveau B1 und Werte- und Orientierungswissen" bestanden habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA, der Stellungnahme vom 25.05.2018, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, den EASO-Länderleitfaden und EASO-Berichte betreffend Afghanistan, EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019, eines Berichtes des Generalsekretariats der UNO zur Situation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheitslage vom 14.06.2019, eines UNAMA-Berichtes über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vom Juli 2019, eines Amnesty International-Berichtes zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019) vom 30.01.2020, einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul, der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Behandelbarkeit und Therapien nach Schlaganfällen, Behandelbarkeit v. Morbus Binswanger, Demenz u. Bluthochdruck, Verfügbarkeit von Medikamenten vom 13.08.2018, einer Kurzinformation der Staatendokumentation über COVID-19 Afghanistan; Stand 09.04.2020, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zum Beschwerdeführer:
1.1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, eine in Afghanistan sehr weit verbreitete Sprache. Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , im Distrikt Baghlan-e-Markazi, in der Provinz Baghlan. Im Kleinkindalter ist er mit seiner Familie in den Iran auswandert und im Alter von sechs Jahren nach Pakistan gezogen. Mit etwa neun Jahren ist er gemeinsam mit seiner Familie nach Afghanistan, in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Er genoss acht Jahre lang eine schulische Ausbildung.
1.1.2. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
1.1.3. Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit.
Bei ihm wurde am 02.05.2018 in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des LKH Rankweil eine posttraumatische Belastungsstörung verbunden mit Ein- und Durchschlafstörungen diagnostiziert, welche damals aktuell einer psychopharmakologischen Medikation bedurfte. Im Mai 2018 wurde dem BF die Einnahme von Trittico 150 mg. ret. mit der Dosierung 0-0-0-1 verordnet.
Zum Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung nimmt der BF Trittico 150 mg. ret. nicht mehr ein. Der BF steht derzeit nicht in einer fachärztlichen (psychiatrischen) oder therapeutischen Behandlung.
Beim BF wurde im Mai 2018 auch eine behandlungsbedürftige juvenile arterielle Hypertonie, diagnostiziert. Die juvenile arterielle Hypertonie wird seit Mai 2018 konstant ausschließlich medikamentös mit Enalapril 10mg, welches der BF täglich einmal in der Früh oral einnimmt, behandelt. Weitere Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, nimmt er nicht ein. Der BF steht nicht in einer fachärztlichen therapeutischen Behandlung. Er hat nur alle sechs bis acht Wochen einen Kontrolltermin bei einem Allgemeinmediziner.
Der Beschwerdeführer machte in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG einen wachen, klaren und selbstbewussten Eindruck.
1.1.4. Der BF ist jung und arbeitsfähig. Er sammelte in Österreich Arbeitserfahrung als Lehrling im Lehrberuf Installations- und Gebäudetechniker (Gas- und Sanitärtechnik, Heizungstechnik) sowie in der Gastronomie als Tellerwäscher. Der BF befindet sich aufgrund einer vom Arbeitsmarktservice ausgestellten Arbeitserlaubnis in einem Vollzeit-Dienstverhältnis und ist somit selbsterhaltungsfähig.
Er ist strafrechtlich unbescholten.
1.1.5. Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Verwandte noch sonstige Bezugspersonen, mit denen er einen gemeinsamen Wohnsitz hat oder hinsichtlich derer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
1.1.6. Ob der Vater des BF und zumindest ein Bruder in Afghanistan Alkohol verkauft und damit den Lebensunterhalt der Familie finanziert haben, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Es kann auch nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass etwa im Oktober 2015 ein älterer Bruder getötet wurde. Wer allenfalls einen Bruder getötet hat, kann ebenfalls nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass der Vater des BF durch einen Anruf vom Tod seines Sohnes erfahren hat bzw. aus Sorge um die Leben seiner Familienmitglieder Afghanistan verlassen habe und dass der BF unterwegs seine Familienmitglieder verloren hat. Es kann nur festgestellt werden, dass der BF bis nach Österreich gelangte, wo er am 07.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.1.7. Es kann nicht festgestellt werden, ob der BF mit Familienmitgliedern, die sich in Afghanistan, im Iran oder in Pakistan befinden, in Kontakt steht. Es wird jedoch festgestellt, dass sich Verwandte des BF in Afghanistan befinden. Um welche Verwandten es sich handelt, und wo sich diese derzeit befinden, kann nicht festgestellt werden. Das BVwG geht davon aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der Unterstützung durch Verwandte in Afghanistan rechnen kann.
1.1.8. Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr betroffen. Der BF wäre im Fall einer Rückführung nach Afghanistan auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Tadschike noch aufgrund seiner Religion als schiitischer Moslem oder aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa, einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer konnte nicht nachvollziehbar und glaubhaft darzulegen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan überhaupt verfolgt werden würde. Er konnte insbesondere nicht glaubhaft machen, dass er aufgrund seiner Eigenschaft als "Familienmitglied" seines Vaters und seines Bruders, von anderen Familienmitgliedern oder von anderen Personen bei einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt werden würde. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht.
1.1.9. Die Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz Baghlan wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 als relativ volatil bezeichnet, sodass der Beschwerdeführer nicht dorthin zurückkehren kann.
Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan und die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 sowie die EASO Country Guidance vom Juni 2019 und den EASO Bericht zur sozioökonomischen Lage (Angaben zu Kabul-Stadt; Herat-Stadt und Mazar-e Sharif; interne Mobilität; Wirtschaftslage; Beschäftigung; weitere Themen) berücksichtigend, würde dem Beschwerdeführer grundsätzlich eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung stehen.
Dem Beschwerdeführer würde jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan, auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen, sodass eine Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde. Aufgrund seiner diagnostizierten juvenilen Hypertonie und des damit verbundenen medizinisch diagnostizierten bzw. bestätigten Bluthochdruckes gehört der Beschwerdeführer zur Risikogruppe von Personen, die unter Bluthochdruck und damit an einer Vorerkrankung leiden, die bei einer allfälligen Ansteckung mit dem Covid-19 Virus besonders gefährdet sind, an einer Lungenerkrankung oder an multiplem Organversagen zu sterben. Angesichts von durch die Staatendokumentation berichteten Massenabschiebungen von mehr als 100.000 Afghanen aus dem Covid-19-Hochsicherheitsstaat Iran nach Afghanistan kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit dem Covid-19 Virus in Berührung kommt, erkrankt und infolge seiner Vorerkrankung daran versterben würde.
Auf der Homepage des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz werden auf häufig gestellte Fragen zur aktuellen Corona-Pandemie Antworten gegeben. Auf die Frage, welche Personen zu dieser Risikogruppe zählen wird Folgendes ausgeführt:
"Jüngere Menschen sind seltener von schweren COVID-Krankheitsverläufen betroffen. Eine chronische Erkrankung zu haben erhöht das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf noch nicht (z.B. Personen, deren hoher Blutdruck gut mit Medikamenten eingestellt ist). Wenn allerdings Personen mit einer schweren chronischen Grunderkrankung zusätzlich an COVID-19 erkranken, ist das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs erhöht. Dieses erhöhte Risiko trifft glücklicherweise nur auf einen kleinen Anteil von Personen zu. Zu dieser Personengruppe zählen unter anderem Menschen mit schweren chronischen Lungenerkrankungen (z.B. mit COPD im fortgeschrittenen Stadium oder mit zystischer Fibrose), mit fortgeschrittenen chronischen Nierenerkrankungen (z.B. Personen nach Nierentransplantation oder die Dialyse benötigen), mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz sowie Menschen, die aktuell eine Krebstherapie erhalten oder diese erst innerhalb der letzten 6 Monate abgeschlossen haben. Erkrankungen wie diese können einen ungünstigen Erkrankungsverlauf annehmen lassen. Daher sollen sie zusätzlichen Anspruch auf Schutzmaßnahmen erhalten.
(21.04.2020, 16:30)"
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:
Politische Lage:
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 07.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 03.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.09.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019).
Parlament und Parlamentswahlen:
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus 2 Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt) sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident 2 Sitze für die nomadischen Kutschi und 2 weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; das im Februar verkündete Ergebnis, das eine Wiederwahl von Präsident Ghani wurde vom Gegenkandidat Abdullah nicht anerkannt, der sich selbst als Wahlsieger zum Präsidenten vereidigen ließ.
Friedens- und Versöhnungsprozess:
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche fanden einen ersten Höhepunkt in einem zwischen den Taliban und Regierungssprechern der USA am 29.02.2020 unterzeichneten Abkommen, das einen Truppenabzug von US-Streitkräften, die Freilassung von Talibankämpfern und die Versicherung der Taliban, dass Afghanistan nicht als Rückzugsgebiet für Terroristen zur Verfügung steht.
Auch nach dem Abkommen ereigneten sich Zwischenfälle, wobei für den größten Zwischenfall mit Toten und Verletzten in Kabul der IS die Verantwortung übernahm.
Derzeit finden auf Vermittlung der USA erste Direktgespräche zwischen Taliban und Vertretern der afghanischen Staatsmacht statt. In der ersten Runde geht es dabei um die Freilassung von Talibankämpfern bzw. von gefangengenommenen Regierungsstreitkräften.
Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr 2019 sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 06.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 06.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 06.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 03.09.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 07.03.2016; UNGASC 03.03.2017; UNGASC 28.02.2018; UNGASC 28.02.2019))
Bild kann nicht dargestellt werden
Für den Berichtszeitraum 10.05.2019-08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02-09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
Bild kann nicht dargestellt werden
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 04.11.2019):
Bild kann nicht dargestellt werden
Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 01.01.2018-30.09.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 04.11.2019)
Im Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast 2 Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).
Zivile Opfer:
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.-30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 01.01.2009-30.09.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.02.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*