TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/24 L526 2188473-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.07.2019
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Entscheidungsdatum

24.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L526 2188473-2/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2018, Zl. XXXX nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 2.7.2019 zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.9.2018, Zl. XXXX , beschlossen:

A) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Der Antrag des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, das über den BF verhängte Einreiseverbot in ein unbefristetes umzuwandeln wird als unbegründet abgewiesen.

C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz als "BF" bezeichnet), ein türkischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und muslimischen Glaubens, brachte am 18.04.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Begründend führte er dazu aus, dass er von Privatpersonen aus Blutrachegründen verfolgt werde. Es gehe um einen alten Disput betreffend Landbesitzt. Außerdem sei er Kurde und bei ihnen herrsche Krieg. Am 19.4.2014 gab der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, die nunmehr belangte Behörde (in weiterer Folge auch kurz als "bB" bezeichnet) an, er sei Kurde und sei sein Leben lang in der Türkei unterdrückt worden. Er habe sowohl die kurdischen Kämpfer als auch die kurdische Partei in den Bergen unterstützt und habe deshalb Angst vor den Behörden und vor den Türken. Im Jahr 1995 sei sein Dorf von türkischen Soldaten zerstört worden. Das seien seine einzigen Gründe. Mit Bescheid vom 06.12.2014 wurde dieser Antrag als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass Italien für die Durchführung des Verfahrens zuständig ist. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.02.2015 als unbegründet abgewiesen.

I.2. Mit Urteil vom 19.02.2015 wurde der BF vom Landesgericht für Strafsachen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach §§ 28a Abs. 1 5. und 6. Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, § 15 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 1. und 2 Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

I.3. Am 12.01.2016 stellt der BF erneuten einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Anlässlich der Erstbefragung nach dem Asylgesetz vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er an, er stamme aus dem Osten der Türkei, wo Menschen von der Regierung unterdrückt würden. Er habe in der Türkei keine persönliche Sicherheit. Sein Leben sei dort in Gefahr. Er werde in der Türkei gesucht, da er für die PKK und die HDP Propaganda gemacht habe; er habe Flugblätter verteilt. Er habe auch bei verschiedenen Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen. Die Regierung habe sein Heimatdorf niedergebrannt und er habe nach XXXX umziehen müssen.

I.4. Bei seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 05.02.2018 gab der BF an, dass es ihm psychisch nicht so gut gehe. Er habe Drogen genommen und Alkohol getrunken. Er nehme auch Medikamente. Ob der BF familiäre oder sonstige enge Bindungen in Österreich hat, wurde anlässlich dieser Einvernahme nicht erhoben. Das Protokoll wies auch Widersprüche hinsichtlich einer erfolgten Rückübersetzung auf, da einerseits festgehalten wurde, dass das gesamte Protokoll wortwörtlich rückübersetzt wurde, andererseits aber festgehalten wurde, dass der BF auf die Rückübersetzung verzichte, weil er sich nicht gut fühle. Der BF weigerte sich schließlich auch, das Protokoll zu unterfertigen. Die bB hielt darin niederschriftlich fest, dass der Antragsteller einen völlig normalen Eindruck gemacht habe und sich keinerlei Anzeichen einer psychischen Beeinträchtigung ergeben hätten.

I.5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.02.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Ferner wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen. Zudem wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII).

I.5. Mit am 26.02.2018 fristgerecht eingebrachten Schriftsatz erhob der BF, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Eine entsprechende Vollmacht wurde angeschlossen. In der Beschwerde wurde unter anderem vorgebracht, dass der BF eine dreijährige Tochter in Österreich habe.

I.6. Mit Beschluss vom 14.03.2018 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

I.7. Mit Schreiben der bB vom 19.03.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine Mitteilung über eine Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft Eisenstadt vom 14.03.2018 wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen nach dem Suchtgiftmittelgesetz übermittelt.

I.8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3.7.2018 wurde die Rechtssache gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen und wurde der bB insbesondere aufgetragen, sich mit dem Gesundheitszustand und den familiären Verhältnissen des BF in Österreich genauer auseinanderzusetzen.

I.9. Am 27.7.2018 wurde der BF neuerlich von der bB einvernommen. Anlässlich dieser Einvernahme gab der BF zu seinem Gesundheitszustand an, dass er keine Krankheiten habe. Er nehme zurzeit auch keine Medikamente. Er mache einen Entzug, wobei er dies jedoch ohne Medikamente schaffen wolle; bereits seit drei Monaten habe er nun keine Medikamente mehr genommen. An das meiste seiner am 18.4.2014 anlässlich seiner Asylantragstellung vor der bB getätigten Angaben könne er sich erinnern. Die damaligen Angaben hätten der Wahrheit entsprochen; er wolle keine Korrekturen vornehmen. Er halte sich seit April 2014 in Österreich auf und habe offiziell hier noch nicht gearbeitet. Zu seinem Privatleben gab er an, dass er nur einmal verheiratet gewesen sei und nicht wisse, ob er offiziell geschieden sei. Diese Frau lebe in Polen mit seinem Sohn. In Österreich habe er mit einer slowakischen Frau im Jahr 2014 eine Beziehung gehabt, welche ein Kind bekommen habe. Es sei noch nicht ganz sicher, ob er der Vater sei. Der letzte Kontakt zu dieser Frau sei im Jahr 2017 gewesen; die Tochter habe er noch nie gesehen. Er wisse nur, dass sie in einem Heim lebe. Kontakt habe er noch keinen hergestellt, da er sich mit seiner ehemaligen Freundin nicht mehr so gut verstanden habe. Er wolle aber schon einen Test machen lassen und sich um das Kind kümmern, wenn es tatsächlich seine Tochter sein sollte. Er kenne nur den Vornamen des Mädchens. Zu seiner (ehemaligen) Ehefrau und seinem Sohn in Polen habe er zuletzt im Jahr 2017 vor seiner Haft telefonischen Kontakt gehabt.

Zu seinen Gründen für das Verlassen seines Heimatlandes gab der BF an, dass Soldaten sein Dorf eingenommen hätten und er in die Stadt übersiedelt sei. Das sei 1995 gewesen. Er habe Zeitschriften verteilt, an kurdischen Veranstaltungen teilgenommen und auch Propaganda gemacht. Er sei auch Mitglied im "kurdischen Verein HDP" gewesen. Das sei alles in den Jahren 2013 und 2014 passiert, als er zuletzt in der Türkei war. Die Polizei habe nach ihm gesucht, da er Mitglied der HDP gewesen sei und er für diese Propaganda gemacht habe. Die Polizei sei in den kurdischen Verein und in Kaffeehäuser sowie auch zu ihm nach Hause gekommen. Seine Familie habe ihm dies gesagt. Da er gewarnt worden sei, habe er sich bei seiner Schwester versteckt. Dorthin sei niemand gekommen. Konkret habe er Propaganda betrieben - Mundpropaganda. Er habe andere Kurden informiert. Mehr wisse er nicht. Die Frage, ob er bereits früher von den Behörden gesucht worden sei, beantwortete der BF mit "nein", um später im Laufe der Einvernahme anzugeben, er sei früher schon gesucht worden, weil er sich für die Rechte der Kurden eingesetzt habe - er habe die gleichen Probleme wegen der Propaganda für die HDP gehabt; deshalb sei er nach Italien gegangen. Im Jahr 2013 sei er illegal in die Türkei zurückgereist. Er glaube schon, dass es einen Haftbefehl gegen ihn gebe, aber da müsste er nachsehen, er müsse sich kundig machen. Auf Vorhalt, dass er bei einer früheren Einvernahme davon gesprochen habe, dass er Flugblätter verteilt habe, gab der BF an, dass er sich nicht genau daran erinnern könne. Er habe schon Vieles vergessen, seit er hier in Österreich sei. Er habe früher auch Alkohol getrunken und Drogen genommen. HDP Mitglied sei er etwa seit 2013, als er wieder in die Türkei zurückgekehrt war. Davor, etwa im Jahr 2007, habe er PKK-Kämpfer mit Kleidung versorgt. Deshalb sei der geflüchtet. Im Jahr 2013 oder 2014 habe er auch an Demonstrationen teilgenommen. Das sei in XXXX oder in XXXX gewesen. Seine Familie könne dort leben, da die Familienmitglieder andere Ansichten hätten als er. Die Polizei habe auch gesagt, er würde die PKK unterstützen und für diese sprechen. Zwei Mal sei die Polizei bei ihm zu Hause gewesen, einmal in einem Kaffeehaus. Er sei jeweils gewarnt worden.

I.10. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. (Spruchpunkt I.) Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei.(Spruchpunkt V.) Ferner wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.) und wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII). Zudem wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VIII).

I.11. Gegen den am 1.12.2018 zugestellten Bescheid wurde rechtzeitig Berufung erhoben. Darin wurde nach Ausführungen in Bezug auf die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung zusammengefasst ausgeführt, dass der BF in der Türkei die offiziell erlaubte HDP als auch die verbotene KDP unterstützt habe. Unter Anführung verschiedener Berichte, etwa dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe oder dem US Department of State zur Lage der Kurden und Gewalt-Eskalationen zwischen der PKK und staatlichen Sicherheitskräften wird dargelegt, dass das Bundesamt zwar umfassende Länderfeststellungen getroffen habe, jedoch würden diese sich nur am Rande mit der Situation des BF befassen und hätte die bB jedenfalls weitere Ermittlungen zur Klärung des maßgeblichen Sachverhaltes anstellen, insbesondere die in der Beschwerde genannten Quellen heranziehen und entsprechende Feststellungen treffen müssen, um die Plausibilität und Asylrelevanz des Vorbringens des BF beurteilen zu können.

Ferner wurde die mangelhafte Beweiswürdigung der BF gerügt und angemerkt, dass sich die bB auf Aussagen stütze, die der BF in der Einvernahme am 5.2.2018 getätigt hat, was wegen des gesundheitlichen Zustandes des BF zum Zeitpunkt der Einvernahme sowie auch wegen der nicht erfolgten Rückübersetzung als unzulässig erachtet werde; aus diesem Grund sei auch eine Zurückverweisung der Rechtssache durch das Bundesverwaltungsgericht erfolgt. Sofern dem BF eine Steigerung des Vorbringens vorgeworfen werde, wisse dieser nicht, wie es zur Protokollierung in Bezug auf eine Verfolgung wegen Grundstücksstreitigkeiten am 18.4.2018 (gemeint ist wohl: 2014) kam. Ferner wurde auf den Drogenmissbrauch des BF und dessen mangelhaftes Erinnerungsvermögen hingewiesen und dargelegt, dass die von der bB angeführten Widersprüche nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit des BF in Zweifel zu ziehen.

Zu dem über den BF verhängten Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass aus dem in Beschwerde gezogenen Bescheid neuerlich nicht ersichtlich sei, aus welchen Gründe es für notwendig gehalten werde, ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren zu verhängen. Der BF sei dazu auch nicht befragt worden. Die bB stütze sich neuerlich lediglich auf die Tatsache der Verurteilung des BF vom 19.2.2015 sowie auf eine Anklage, die am 14.3.2018 gegen ihn erhoben wurde. Es werde keine Rücksicht darauf genommen, dass der BF seine Taten bereue und sich dafür schäme. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte die bB insgesamt zu einem anderen Ergebnis kommen müssen.

I.12. Zusammen mit dem dem Bundesverwaltungsgericht am 3.1.2019 vorgelegten Verfahrensakt wurde auch das mittlerweile ergangene Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen, Zl. XXXX , zu der am 14.3.2018 angeklagten Tat vorgelegt, woraus ersichtlich ist, dass der BF zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde.

I.13. Zusammen mit einer Landung zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden dem BF aktuelle Länderkundliche Berichte übermittelt und wurde der BF eingeladen, bis spätestens am 25.6.2019 eine schriftliche Stellungnahme dazu abzugeben.

I.14. Mit Schriftsatz vom 24.6.2019 wurden dem Gericht zusätzliche Berichte übermittelt und wurde dargelegt, dass der BF aufgrund seiner politischen Tätigkeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer politischen Verfolgung ausgesetzt sein wird.

I.15. Mit Schriftsatz vom 26.6.2019, welcher am 1.7.2019 beim Bundesverwaltungsgericht einlangte, wurde im Wesentlichen darauf hingewiesen wird, dass der BF mit seinen selbst eingebrachten Quellen erschöpfend Stellung genommen habe und wurde ferner auf den gegenständlichen Beschwerdeschriftsatz verwiesen. Resümierend wurde dargelegt, dass der BF seine Angst vor Verfolgung und Bedrohung bisher glaubhaft vorgebracht habe und nach wie vor in der Türkei in großer Gefahr sei; die Verfolgung gehe vom Staat aus und stehe dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

I.16. Am 2.7.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung abgehalten.

I.17. Am 9.7.2019 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine "Therapiebestätigung" der Justizanstalt XXXX vorgelegt, worin mitgeteilt wird, dass der BF sich seit 25.2.2019 auf eigenen Wunsch einer Behandlung seiner Abhängigkeitserkrankung in der Justizanstalt unterziehe. Er habe am Programm der Zugangsabteilung (Diagnostik und Therapievorbereitung) teilgenommen und sei danach in eine Behandlungsabteilung verlegt worden. Er nehme regelmäßig an den zweimal wöchentlich stattfindenden Behandlungsgruppen teil.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF heißt XXXX und ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX geboren. Nach einem Einsatz der türkischen Sicherheitskräfte in seinem Geburtsort im Jahr 1995 zog er mit seiner Familie in die Stadt XXXX , Dorf XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise nach Italien (diese erfolgte zu einem nicht bekannten Zeitpunkt) und nach seiner Rückkehr von dort (diese erfolgte im Jahr 2012 oder 2013) bis zur erneuten Ausreise aus der Türkei im Jahr 2014 lebte.

Der BF besuchte in der Türkei fünf Jahre lang die Grundschule und hat anschließend als Hirte gearbeitet.

Der BF hat seinen Wehrdienst in der Türkei bereits absolviert.

Er gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum Islam. Er ist Moslem und gehört der Sekte der Shafiiten an.

Der BF spricht Türkisch und Zaza.

Vor seiner Ausreise aus der Türkei lebte der BF in XXXX gemeinsam mit seinen Eltern in deren Haus und auch bei seiner Schwester und deren Famile in einer Mietwohnung. Die Mutter des BF ist Hausfrau, der Vater ist Pensionist. Die Eltern betreiben zudem eine Landwirtschaft. Der Vater kauft und verkauft Tiere. Alle Brüder des BF arbeiten. Die Schwestern sind Hausfrauen. Deren Männer arbeiten alle ebenfalls.

Der BF verließ die Türkei an einem nicht feststellbaren Tag im Jahr 2014 illegal und gelangte schlepperunterstützt mit einem Lastkraftwagen auf dem Landweg nach Österreich, wo er am 18.04.2014 den ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte. Den verfahrensgegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz stellte er am 12.01.2016.

Der BF hat eine geschiedene Frau sowie einen Sohn in der Türkei.

Es ist nicht feststellbar, ob der BF ein weiteres Mal geschieden wurde. Mit einer Frau, die in Polen lebt, hat der BF ebenfalls einen Sohn. Zu der in Polen lebenden Frau und seinem Sohn hat er telefonischen Kontakt.

Es ist ferner nicht feststellbar, ob der BF Vater eines Kindes ist, das eine Frau geboren hat, mit welcher er im Jahr 2014 für etwa sechs Monate in Österreich eine Beziehung führte. Der BF hat zu dieser Frau und ihrer Tochter keinen Kontakt. Der BF bezahlt auch keinen Unterhalt für dieses Kind.

Zurzeit führt der BF keine Beziehung.

Der BF hat eine Tante in Deutschland. Zu dieser hat er telefonischen Kontakt. Weitere Verwandte, die außerhalb seines Heimatlandes leben, hat der BF nicht.

1.2. Der BF wurde in Österreich zwei Mal wegen Suchtgiftdelikten verurteilt:

1.2.1. Mit Urteil vom 19.02.2015 wurde der BF vom Landesgericht für Strafsachen XXXX , Zl XXXX , zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach §§ 28a Abs. 1 5. und 6. Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, § 15 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 1. und 2 Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der BF

I. in einer das fünfzehnfache der Grenzmenge (§ 28 b SMG) übersteigenden Menge mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von zumindest 7,51% Heroin, 0,5% Acetylcodein

1. den im Urteilsspruch genannten sieben Personen sowie weiteren nicht ausgeforschten Suchtgiftabnehmern insgesamt 642 Gramm Heroin von Mai 2014 bis 16.9.2014 durch gewinnbringenden Verkauf überlassen bzw. verschafft hat und

2. einer im Urteilsspruch genannten Person sowie weiteren nicht ausgeforschten Suchtgiftabnehmern am 16.9.2014 18,2 Gramm Heroin durch gewinnbringenden Verkauf zu überlassen bzw. verschaffen versuchte und

II. in eine die Grenzmenge übersteigenden Menge, nämlich insgesamt 71,4 Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 21,91% Heroin, 0,7% Monoacetylmorphin und 1,42% Acetylcodein von einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt bis zum 16.9.2014 mit dem Vorsatz erworben und besessen hat, dass es durch gewinnbringenden Verkauf in Verkehr gesetzt wird;

III. von einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt bis zum 16.9.2014 Marihuana (Wirkstoffe Delta-9-THC und THCA) zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen hat.

Strafmildernd wirkten sich der bisher ordentliche Lebenswandel, das teilweise reumütige Geständnis, die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, aus.

Erschwerend wurden das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen und die mehrfache Überschreitung der jeweiligen Grenzmenge gewertet.

1.2.2. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX , Zl. XXXX vom 4.12.2018 wurde der BF wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF

A. von 16.1.2016 bis 14.1.2018 in Wien und anderen Orten (unterbrochen durch die Haft des BF vom 5.1.2017 bis 5.7.2017) in einer die Grenzmenge (§ 28 b) übersteigenden Menge, den im Urteil genannten neun Abnehmern zu den dort jeweils aufgelisteten Zeiten eine Menge von insgesamt 143 Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von 3% und einer Reinsubstanz von 4,29 Gramm Diacetylmorphin sowie 39 Gramm Kokain mit einem Reinheitsgehalt von 20% und einer Reinsubstanz von 7,8 Gramm Cocain gewinnbringend verkauft und überlassen hat

B. am 4.1.2018 ein Gramm Kokain mit dem Wirkstoff Cocain und geringe Mangen, nämlich 0,2 Gramm erworben und besessen hat.

Gemäß § 53 Abs. 1 StGB in Verbindungmit § 494a Abs. 1 Z 4 StPO wurde die mit Beschluss vom 23.10.2015 gewährte bedingte Entlassung (Strafrest: acht Monate) widerrufen.

Erschwerend wurde gewertet: das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen, mehrfache Tatbegehung bei Punkt A., der lange Tatbegehungszeitraum bei Punkt A., die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall, die Tatbegehung während laufenden Strafverfahrens.

Mildernd wurde gewertet: das großteils erfolgte Geständnis, die Sicherstellung von 1 Gramm Kokain und 0,2 Gramm Heroin.

Der BF verbüßt gegenwärtig die über ihn verhängte Haftstrafe.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF Mitglied der Partei HDP oder KDP war oder dass er an Aktivitäten dieser bzw. für diese mitwirkte.

Der BF hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Der BF unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer staatlichen Verfolgung im Hinblick auf eine Mitgliedschaft bei der "HDP" oder "KDP" oder einer Beteiligung an deren politischen Aktivitäten oder auch im Hinblick auf Unterstützungsleistungen für die Türkische Arbeiterpartei (PKK).

Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der BF gehört der Gülen-Bewegung nicht an und war nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt.

1.4. Der BF ist arbeitsfähig und leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Der BF unterzieht sich auf eigenen Wunsch seit 25.2.2019 einer Sucht-Therapie in der Justizanstalt XXXX , wo er regelmäßig an den zweimal wöchentlich stattfindenden Behandlungsgruppen teilnimmt. Der BF erhält keine Drogenersatztherapie oder eine sonstige medikamentös unterstützte Therapie. Im Bedarfsfall stehen dem BF in der Türkei kostenlos zugängliche Behandlungen in staatlichen Krankenhäusern für Drogenabhängige zur Verfügung.

Der BF ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über berufliche Erfahrungen in der Landwirtschaft. Dem BF ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Der BF verfügt für den Fall der Rückkehr über ein türkisches Identitätsdokument (Nüfus) im Original und eine Wohnmöglichkeit im Haus seiner Eltern oder in der Wohnung seiner Schwester in XXXX . Der BF wird im Falle einer Rückkehr keine finanziellen Schwierigkeiten zu gewärtigen haben.

I.5. Der BF hält sich seit dem Jahr 2014 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

I.6. Der BF bezieht keine Leistungen der staatlichen Grundversorgung.

Vor seiner Inhaftierung pflegte der BF normale soziale Kontakte. Der BF hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Er stand in Kontakt zu einem kurdischen Verein, den er aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen hat. Zur Zeit ist er weder in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.

Über eine konkrete Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt verfügt der BF nicht, es wurde ihm auch keine konkrete Beschäftigungen in Aussicht gestellt.

Der BF besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache. Der BF spricht Deutsch, welches mitunter aber schwer verständlich ist.

1.7. Der Aufenthalt des BF war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten (und dem Beschwerdeführer offengelegten) Quellen getroffen:

KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul, (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage und 13.1.Opposition)

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdogan mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019).

Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem Imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019).

Imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).

Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für Imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).

KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.

Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.

Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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