TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/6 W238 2199951-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.02.2020
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Entscheidungsdatum

06.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W238 2199951-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Nadja LORENZ, Burggasse 116, 1070 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.06.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.11.2019 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.10.2015 gab der - damals 14-jährige Beschwerdeführer - zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken sunnitisch-muslimischen Glaubens sei. Er sei im Jahr 2001 geboren worden, stamme aus der Provinz Panjsher und habe sieben Jahre die Schule besucht. Zuletzt habe er in der Stadt Kabul gelebt. Als Fluchtgrund gab er an, dass er Afghanistan wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen habe. Er habe deshalb nicht in die Schule gehen und sich keine Zukunft aufbauen können.

3. Anlässlich der am 02.03.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eines vom Kinder- und Jugendhilfeträger der Stadt Wien bevollmächtigten Rechtsvertreters und einer Vertrauensperson durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt (im Folgenden: BFA), wiederholte der - im Zeitpunkt der Einvernahme 16-jährige - Beschwerdeführer seine Angaben hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie Herkunftsprovinz. Weiters führte er aus, dass er sechs Jahre eine Koranschule in Kabul besucht und seinem Vater beim Verkauf von Obst und Gemüse geholfen habe; er könne schreiben und lesen. Seine Mutter und seine Geschwister (vier Brüder und vier Schwestern) seien in Kabul aufhältig. Sein Vater sei auf der Flucht gestorben. In Österreich würden zwei Onkel väterlicherseits leben. Er gab an, dass er körperlich gesund sei, aber an psychischen Problemen leide; er wolle keinen Arzt aufsuchen und nehme keine Medikamente ein. Er erläuterte seinen Fluchtgrund, wobei er Probleme seines Onkels mütterlicherseits und seines Vaters mit Feinden des Onkels geltend machte; den genauen Grund der Ausreise habe ihm sein Vater nicht gesagt. Sein Onkel mütterlicherseits seit etwa fünf bis sechs Monate nach der Einreise des Beschwerdeführers nach Österreich von dessen Feinden getötet worden. Zudem brachte er vor, dass bewaffnete Männer junge Burschen aus der Schule mitgenommen hätten, um sie als Tanzjungen auszunutzen. Der Beschwerdeführer legte Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich sowie einen Kurzbefund eines Ambulatoriums für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung vor.

4. Am 15.03.2018 erstattete der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zur Asylrelevanz des Vorbringens sowie zur Sicherheitslage in Afghanistan.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 07.06.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin führte der Beschwerdeführer aus, dass er als besonders vulnerabel anzusehen sei, weil er ein unbegleiteter Minderjähriger sei, als Halbwaise in Kabul keine männliche Bezugsperson habe und bereits länger nicht mehr in Afghanistan lebe bzw. einen entscheidenden Teil seiner Entwicklung außerhalb Afghanistans vollzogen habe. Die belangte Behörde habe diese Umstände im angefochtenen Bescheid nicht ausreichend gewürdigt und dem Bescheid keine Länderberichte zur Situation von Kindern zugrunde gelegt. Mit Blick auf die Versorgungs- und Sicherheitslage in (ganz) Afghanistan scheide eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat aus.

7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 04.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 30.09.2019 erstattete der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme, in der unter Vorlage eines ÖSD-Zertifikats B1 und Bezugnahme auf die Absolvierung des Pflichtschulabschlusses eine fortgeschrittene Integration des Beschwerdeführers geltend gemacht wurde und zum Beweis der engen Bindung des Beschwerdeführers zu seinem in Österreich lebenden Onkel dessen Einvernahme als Zeuge beantragt wurde. Weiters wurde eine Verschlechterung der Situation in Afghanistan vorgebracht und unter Verweis auf die bisherige Verfahrensdauer um Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ersucht.

Am 08.10.2019 wurde das Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung nachgereicht.

9. Am 18.11.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Ein Onkel des Beschwerdeführers wurde vom Gericht als Zeuge einvernommen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

Der - zum Zeitpunkt der Verhandlung volljährige - Beschwerdeführer wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden vom erkennenden Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren eingebracht. Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wurde eine Frist von drei Wochen für die Erstattung einer Stellungnahme eingeräumt. Der Beschwerdeführer legte Empfehlungsschreiben, eine Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft Wien vom 07.10.2019 über die Einstellung des Verfahrens wegen §§ 125, 126 Abs. 1 Z 7 StGB, eine Verständigung der Staatsanwaltschaft Wien vom 24.10.2019 über den vorläufigen Rücktritt von der Verfolgung wegen § 27 Abs. 1 SMG gemäß § 35 Abs. 9 SMG, eine Terminvormerkung über eine ärztliche Untersuchung gemäß § 12 SMG für 12.09.2019 sowie Ausdrucke aus dem Internet über die Exekution eines näher bezeichneten wegen Mordes, Kidnappings, bewaffneten Raubes und weiterer schwerer Verbrechen verurteilten Straftäters in Kabul am 08.10.2014 vor.

10. Am 06.12.2019 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur Sicherheits- und Versorgunglage in Afghanistan ein, der zwei weitere Empfehlungsschreiben und eine Einstellungszusage angeschlossen wurden.

11. Der belangten Behörde wurde dazu Parteiengehör eingeräumt, von dem sie keinen Gebrauch machte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch dieses Erkenntnisses enthaltenen Namen. Die genaue Schreibweise seines Familiennamens konnte nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Paschtu, Englisch und Deutsch.

Er wurde am XXXX in Afghanistan, Provinz Panjsher, Dorf XXXX geboren. Im Kleinkindalter zog er mit seiner Familie in die Stadt Kabul, wo er bis zu seiner Ausreise lebte.

Die Herkunftsprovinz seines Vaters ist Panjsher; die Herkunftsprovinz seiner Mutter ist Kabul.

Der Beschwerdeführer stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Zuge der Erstbefragung mit der schlechten Sicherheitslage und fehlenden Bildungsmöglichkeiten in Afghanistan. Anlässlich der Einvernahme vor dem BFA brachte er vor, dass ihm in Afghanistan Verfolgung durch Feinde seines Onkels mütterlicherseits drohe, wobei er diese Befürchtung nicht konkretisierte. Weiters brachte er vor, dass bewaffnete Männer junge Burschen aus der Schule mitgenommen hätten, um sie als Tanzjungen auszunutzen.

In der Beschwerde wurde eine besondere Gefährdungslage für Minderjährige geltend gemacht.

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit seinem bisherigen Fluchtvorbringen erstmals vor, dass sein Onkel mütterlicherseits und sein Vater heimlich Alkohol im Geschäft seines Onkels verkauft hätten. Mitglieder einer kriminellen Gruppierung, dessen Anführer XXXX gewesen sei, seien immer wieder in das Geschäft gekommen und hätten Geld erpresst. Als sein Onkel und sein Vater eines Tages nicht mehr bezahlen wollten, seien Mitglieder der Gruppierung in das Geschäft gekommen und hätten seinen ältesten Onkel XXXX getötet. Daraufhin hätten sein Onkel XXXX und sein Vater den Mörder seines Onkels XXXX namens XXXX auf einer Hochzeit in Kabul getötet. Danach sei sein Vater unruhig und verängstigt gewesen. Einige Monate nach der Einreise des Beschwerdeführers sei sein Onkel XXXX von seinen Feinden getötet worden.

Der frühere Anführer der kriminellen Gruppierung XXXX sei exekutiert worden. Die Gruppierung werde nun von XXXX angeführt, der ebenfalls ein sehr gefährlicher Mann sei und von der Regierung gesucht werde. Der Beschwerdeführer äußerte die Befürchtung, dass XXXX oder einer seiner Leute ihn in Afghanistan finden und töten könnten.

Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht im Einzelnen Folgendes festgestellt:

Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung durch Mitglieder einer kriminellen Gruppierung ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt.

Angehörige seiner Familie, konkret zwei Onkel mütterlicherseits, wurden nicht von Mitgliedern einer kriminellen Gruppierung wegen unterbliebener Schutzgeldzahlungen und der Rache für einen behaupteten Mord eines Bandenmitglieds durch einen Onkel getötet. Weder der (auf dem Weg nach Europa verstorbene) Vater des Beschwerdeführers noch der Beschwerdeführer selbst waren jemals einer Verfolgung durch Kriminelle ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer wäre im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keiner Verfolgung wegen seines Alters ausgesetzt. Insbesondere besteht für ihn nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, als Tanzjunge missbraucht zu werden.

Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Tadschiken), seiner Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers wird festgestellt, dass er derzeit an keinen (lebensbedrohenden) Krankheiten leidet. Im Befund des Ambulatoriums für Kinder- und Jugendpsychiatrie des SOS-Kinderdorfs vom 06.03.2018 wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Der Beschwerdeführer nahm vom 18.04.2016 bis 22.06.2016 sowie am 23.11.2016 eine ambulante Psychotherapie in Anspruch, beendete diese aber auf eigenen Wunsch. Der Beschwerdeführer nimmt aktuell keine Behandlungen oder Therapien in Anspruch und bezeichnet sich selbst als gesund.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig.

Er besuchte in Afghanistan sechs Jahre eine Koranschule. Er erhielt Unterricht in Religion, Mathematik und Dari. Er kann lesen und schreiben.

Der Beschwerdeführer unterstützte seinen Vater in Afghanistan beim Verkauf von Obst und Gemüse.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bei der Überquerung des Meeres von der Türkei nach Griechenland ertrunken. Die Großmutter, die Mutter, vier Brüder und vier Schwestern des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Stadt Kabul. Es wird nicht festgestellt, dass sich die Familie des Beschwerdeführers seit Mai 2019 in einem türkischen Flüchtlingslager aufhält.

Die Familie lebt von den Einkünften, welche die Mutter durch Näharbeiten und der derzeit ca. 14-jährige Bruder des Beschwerdeführers XXXX beim Verkauf von Plastiksäcken erzielt.

Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Herkunftsprovinz Panjsher, in der er geboren wurde und aus der sein Vater stammt, scheidet aus, weil die Provinz für den Beschwerdeführer nicht sicher erreichbar wäre.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Heimatstadt Kabul, wo er seit seiner frühen Kindheit bis zur Ausreise lebte und aus der seine Mutter stammt, ist hingegen möglich. Der Beschwerdeführer kann sich zudem im Rückkehrfall auch in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.

Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer hat zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif gelebt und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner schulischen Ausbildung, seiner Schreib- und Lesekompetenz, seiner Sprachkenntnisse (Dari, Paschtu, Englisch, Deutsch), seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit und seiner Erfahrungen beim Verkauf von Obst und Gemüse könnte sich der Beschwerdeführer dennoch sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Im Falle der Rückkehr nach Kabul könnte er in den Familienverband zurückkehren, der ihm zumindest Zugang zu Unterkunft und Nahrung gewähren würde. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul, aber auch in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Kabul sowie in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

Er kann die Städte Kabul sowie Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg (via Kabul) sicher erreichen.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Seine Kernfamilie lebt in Kabul.

Zwei Onkel väterlicherseits leben in Österreich. Der Beschwerdeführer lebt mit seinen Onkeln nicht im gemeinsamen Haushalt. Er lernte seine Onkel erst in Österreich persönlich kennen.

XXXX , einem Halbbruder des Vaters des Beschwerdeführers, wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.05.2014, Zahl W143 1423526-1/10E, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt, wobei ihm der Asylstatus nur in Ableitung von seiner Ehefrau und nicht aufgrund der von ihm vorgebrachten Fluchtgründe zuerkannt wurde. Er lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in Wien. Vier seiner Kinder weisen gesundheitliche Beeinträchtigungen auf (z.B. Epilepsie, Muskeldystrophie).

Der Beschwerdeführer besucht seinen Onkel XXXX und dessen Familie durchschnittlich zwei- bis dreimal pro Woche. Der Beschwerdeführer unterstützt seinen Onkel, indem er gelegentlich auf dessen Kinder aufpasst oder Einkäufe erledigt. Sein Onkel versucht ebenfalls, den Beschwerdeführer zu unterstützen; er gibt ihm manchmal kleinere Geldbeträge. Der Beschwerdeführer ist von seinem Onkel aber nicht finanziell abhängig. XXXX beschreibt das Verhältnis zum Beschwerdeführer so, dass dieser für ihn wie ein eigener Sohn sei.

Sein Onkel XXXX ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung Asylwerber und lebt in Niederösterreich. Der Beschwerdeführer trifft seinen Onkel XXXX regelmäßig, wenn er seinen anderen Onkel XXXX besucht. Manchmal besucht der Beschwerdeführer ihn auch in Niederösterreich und unternimmt Ausflüge mit ihm.

Der Beschwerdeführer führt ca. seit Juni 2019 eine Beziehung mit einer 17-jährigen Österreicherin, die er von der Schule kennt. Der Beschwerdeführer wohnt nicht mit seiner Freundin zusammen und ist nicht von ihr finanziell abhängig. Er war noch nie bei ihr zu Hause, da sie einer streng moslemischen türkischen Familie angehört. Der Beschwerdeführer trifft seine Freundin ab und zu.

Der Beschwerdeführer verfügt über weitere freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Privatpersonen und brachte diverse Unterstützungsschreiben in Vorlage.

Der Beschwerdeführer war außerordentlicher Schüler an einer Neuen Mittelschule (Schuljahre 2015/2016, 2016/2017). Im Schuljahr 2017/2018 war er Schüler an einer Bundeshandelsakademie/Bundeshandelsschule. Er nahm 2017 an einem Lesewettbewerb teil und besuchte Spanisch- und Slowakischkurse. Weiters nahm er am Sparkling Science Projekt "ZwischenWeltenÜberSetzen" der Universität Wien teil und besuchte ein Jahr eine Privatschule ( XXXX ). Am 30.09.2019 absolvierte er die Pflichtschulabschlussprüfung.

Der Beschwerdeführer wird im Rahmen der Grundversorgung versorgt. Er ist in Österreich nicht legal beschäftigt. Er verfügt über eine Einstellungszusage der Firma XXXX . Er besuchte Deutschkurse und legte den Nachweis einer bestandenen Deutschprüfung auf Niveau B1 vor. Zum Zeitpunkt der Verhandlung wies der Beschwerdeführer schon recht gute Deutschkenntnisse auf. Er war Mitglied in einem Ringer-Verein. Aktuell ist er Mitglied in einem Fitnesscenter.

Die Bindung des Beschwerdeführers zu Afghanistan ist angesichts seiner langen Aufenthaltsdauer im Herkunftsstaat - insbesondere auch unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache Dari und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur - deutlich intensiver als jene zu Österreich, zumal seine Familie nach wie vor in Afghanistan lebt. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 19.10.2015 im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

1.2.1. Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO - EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019 - enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Sicherheitslage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019, S. 12).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019, S. 18). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019, S. 18ff).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung. Die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, sodass Engpässe entstehen. Dadurch können manchmal auch Kräfte fehlen um Territorium zu halten. Die Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau (LIB 13.11.2019, S. 19).

Für das gesamte Jahr 2018 gab es gegenüber 2017 einen Anstieg in der Gesamtzahl ziviler Opfer und ziviler Todesfälle. Für das erste Halbjahr 2019 wurde eine niedrigere Anzahl ziviler Opfer registrierten, im Juli, August und September lag ein hohes Gewaltniveau vor. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren 2018 am stärksten vom Konflikt betroffen (LIB 13.11.2019, S. 24).

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele (High Profile Angiffe - HPA) aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind jedoch stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs (LIB 13.11.2019, S. 25).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, S. 26).

Taliban

Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB 13.11.2019, S. 26; S. 29).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, S. 27).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, S. 27).

Haqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB 13.11.2019, S. 27).

Islamischer Staat (IS/DaesH) - Islamischer Staat Khorasan Provinz

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB 13.11.2019, S. 27f).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB 13.11.2019, S. 29).

Al-Qaida

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, S. 29).

Sicherheitsbehörden

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police) (LIB 13.11.2019, S. 249).

Die Afghanische Nationalarmee (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.374 autorisiert (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan National Police (ANP) gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan Local Police (ALP) wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB 13.11.2019, S. 251).

Panjsher/Panjshir

Panjsher (auch Panjshir) liegt im Zentrum Afghanistans und grenzt im Norden an die Provinzen Baghlan und Takhar, im Nordosten an Badakhshan, im Osten an Nuristan, im Süden an Laghman und Kapisa und im Westen an Parwan. Die Provinzhauptstadt von Panjsher ist Bazarak. Die Provinz ist in folgende Distrikte unterteilt: Bazarak, Darah (oder Ab Shar oder Hes-e-Duwumi), Hissa-e-Awal (Khinj), Unaba (oder Anawa), Paryan, Rukha und Shutul. sowie einen temporären Distrikt Ab Shar. Die afghanische zentrale Statistikorganisation schätzte die Bevölkerung von Panjsher für den Zeitraum 2019-20 auf 167.000 Personen. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Tadschiken, Hazara, Pashai, Nuristani und Ghilzai-Paschtunen.

Die Provinz Panjsher ist mit Kabul durch eine lokale Straße verbunden, die durch den Distrikt Bagram in der Provinz Parwan führt. Die Entfernung zwischen Kabul und Bazarak beträgt 150 Kilometer.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die Provinz Panjsher führte den Widerstand gegen die Sowjets und gegen den Taliban-Aufstand in den 1980er- und 1990er-Jahren an. Die Provinz ist die Heimat des Tadschiken Ahmad Shah Massoud, des "Löwen von Panjshir", der gegen die Sowjets kämpfte und die Nordallianz gegen die Taliban anführte.

Die Provinz Panjshir gilt als relativ friedlich und sicher, wobei der Distrikt Kiran wa Menjan der Provinz Badakhshan an die Provinz angrenzt und von strategischer Bedeutung für die Taliban ist. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind einsatzfähig, die Provinz gegen Aufständische zu verteidigen.

Viele Panjshiris waren Mitglieder der afghanischen politischen und militärischen Elite, wie CEO Abdullah Abdullah oder der ehemalige NDS-Chef und einige Vizepräsidentschaftskandidaten.

In Bezug auf die Anwesenheit von regulären staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Panjsher in der Verantwortung des 201. ANA Corps, das der Task Force East angehört, die von US-amerikanischen und polnischen Truppen geleitet wird.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA keine zivilen Opfer in der Provinz Panjsher (UNAMA 24.2.2019).

Der Vize-Schattengouverneur der Taliban für die Provinz Panjsher wurde nach Angaben des afghanischen Innenministeriums im August 2019 von den Regierungskräften in Kapisa getötet

IDPs - Binnenvertriebene

UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 keine Binnenvertriebenen aus der Provinz Panjsher. Auch für den Zeitraum 1.1.-30.6.2019 wurden keine Personen erfasst, die aus der Provinz Panjsher konfliktbedingt binnenvertrieben wurden. Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 189 konfliktbedingt Binnenvertriebene in die Provinz, die aus anderen Provinzen stammten. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 847 konfliktbedingt in die Provinz vertriebene Personen, die aus anderen Provinzen stammten.

(LIB 13.11.2019, S. 188 ff.).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 (LIB 13.11.2109, S. 36). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB 13.11.2109, S. 38). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB 13.11.2109, S. 37; S. 237).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 38ff).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB 13.11.219, S. 41).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB 13.11.2109, S. 335f).

Balkh

Die Provinzhauptstadt von Balkh ist Mazar-e Sharif. Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistan und ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Es leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in Mazar-e Sharif (LIB 13.11.2019, S. 61).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren (LIB 13.11.2019, S. 62). Im Jahr 2018 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 63). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89; S. 92f).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen. Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) zu erreichen (LIB 13.11.2019, S. 61; S. 336).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB 13.11.2019, S. 347).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 "minimal" (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 "stressed" eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019).

Herat

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und ist eine der größten Provinzen Afghanistans. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (LIB 13.11.2019, S. 105). Die Provinz verfügt über 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen (LIB 13.11.2019, S. 106).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen erreichbar (LIB 13.11.2019, S. 106).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. In der Stadt Herat steigt die Kriminalität und Gesetzlosigkeit (LIB 13.11.2019, S. 106). Im Jahr 2018 gab es mit 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat einen Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (LIB 13.11.2019, S. 108f). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89, S. 99f).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB 13.11.2019, S. 336).

Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch "stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).

Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB 13.11.2019, S. 264).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben zwischen 32-35 Millionen Menschen. Es sind ca. 40-42% Pashtunen, rund 27-30% Tadschiken, ca. 9-10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB 13.11.2019, S. 287f).

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit.

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Aus historischer Perspektive identifizierten sich dari-persisch sprechende Personen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa durch das Siedlungsgebiet oder der Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Panjsher) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete ursprünglich traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Heute werden unter dem Terminus tajik "Tadschike" fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst.

Tadschiken dominierten die "Nordallianz", eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominierendste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.b). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB 13.11.2019, S.289 f.).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80-89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB 13.11.2019, S. 277).

Sexueller Missbrauch und körperliche Züchtigung von Kindern (LIB 13.11.2019, S. 320 ff.)

In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Obwohl gesetzlich verboten, bleibt die körperliche Bestrafung in Schulen, Rehabilitationszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen weit verbreitet. Ein im Jahr 2017 erlassenes Gesetz zur Bekämpfung von Belästigungen stellt physische, verbale, psychologische und sexuelle Belästigung von Frauen und Kindern unter Strafe. Das novellierte Strafrecht sieht unter anderem bei Kindesmisshandlung, bzw. körperlicher Züchtigung Geldbußen und Gefängnisstrafen vor.

Die afghanische Polizei war im Jahr 2018 nur begrenzt zur Bekämpfung von Sexualverbrechen fähig, teilweise aufgrund der niedrigen Anzahl von Frauen in der Polizei (rund 1.8% der Kräfte). Im Jahr 2018 dokumentierte die UNAMA in dieser Hinischt 37 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Fünf Vergewaltigungen und eine Zwangsheirat wurden von UNAMA bestätigt, welche von Konfliktparteien begangen wurden - unter anderem von Mitgliedern der Taliban sowie einer weiteren nicht identifizierten Person einer regierungsfeindlichen Gruppierung. In fünf von sechs Fällen wurden die Angeklagten von den Behörden belangt und verurteilt. UNAMA hat auch zwei Fälle von sexueller Gewalt gegen Buben durch Mitglieder der afghanischen Nationalpolizei überprüft; in einem Fall handelte es sich um Bacha Bazi. Obwohl Bacha Bazi kriminalisiert wurde, sind Verfolgungen von Fällen selten und die Praxis bleibt verbreitet.

Berichten zufolge schlug die Polizei Kinder und missbrauchte sie sexuell. Kinder, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiteren Belästigungen durch Exekutivbeamte - insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi. Es wird von von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet.

Bacha Bazi

Eine in Afghanistan praktizierte Form der Kinderprostitution ist Bacha Bazi (sog. "Tanzjungen" auch "Knabenspiel"), was in der afghanischen Gesellschaft in Bezug auf Jungen nicht als homosexueller Akt erachtet und als Teil der gesellschaftlichen Norm empfunden wird. Bacha Bazi ist eine Praxis, bei der Buben von reichen oder mächtigen Männern zur Unterhaltung, insbesondere Tanz und sexuellen Handlungen, ausgebeutet werden. In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Mehrheit der Vorfälle nicht angezeigt wird. UNAMA konnte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 aufgrund der mit dem Thema verbundenen gesellschaftlichen Befindlichkeiten lediglich vier Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige überprüfen und dokumentieren. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist durch das afghanische Gesetz unter Strafe gestellt, die strafrechtliche Verfolgung scheint nur in Einzelfällen stattzufinden. Mit einer Ergänzung zum Strafgesetz, die am 14. Februar 2018 in Kraft trat, wurde die Bacha Bazi-Praxis erstmalig explizit unter Strafe gestellt. Das Anheuern von Bacha Bazi wird nun durch das revidierte Strafgesetzbuch als Straftat definiert und im Artikel 653 mit Strafe bedroht. Aber auch hier verläuft die Durchsetzung des Gesetzes nur schleppend und Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet. Missbrauchte Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt.

Üblicherweise sind die Buben zwischen zehn und 18 Jahren alt; viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben. Viele der Buben wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft. Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Buben, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen.

Wirtschaft und Grundversorgung:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (LIB 13.11.2019, S. 333 ff.). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%. Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.

Arbeitsmarkt (LIB 13.11.2019, S. 334 f.)

Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen, gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen gaben an, in der Landwirtschaft tätig zu sein.

Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte.

In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor: Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind.

Wirtschaft und Versorgungslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif (LIB 13.11.2019, S. 335 ff.)

Kabul

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten (USIP 10.4.2017). Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten.

Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent). Im Gegensatz dazu zeigt die Provinz Ghor ist der traditionelle Agrarsektor hier bei weitem der größte Arbeitgeber, des weiteren, existieren hier sehr wenige Möglichkeiten (Jobs und Ausbildung) für Kinder, Jugendliche und Frauen.

Herat

Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den ?bessergestellten' und ?sichereren Provinzen' Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass die Hälfte der arbeitstätigen Bevölkerung in Herat Tagelöhner sind, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind.

Die Herater Wirtschaft bietet seit langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt. Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung). Die meisten der in KMUs Beschäftigten sind entweder Tagelöhner oder kleine Unternehmer. Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit, bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt.

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan, wie auch ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten.

Dürre und Überschwemmungen (LIB 13.11.2019, S. 337)

Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Dies verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter und hatte zerstörerische Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken.

Günstige Regenfälle im Frühling und beinahe normale Temperaturen haben 2019 die Weidebedingungen wieder verbessert. Da sich viele Haushalte noch von der Dürre des Jahres 2018 erholen müssen, gilt die Ernährungslage für viele Haushalte im Zeitraum 10.2019-1.2020, weiterhin als ?angespannt' bis ?krisenhaft'. Es wird erwartet, dass viele Haushalte vor allem in den höher gelegenen Regionen ihre Vorräte vor dem Winter aufbrauchen werden und bei begrenztem Einkommen und Zugang auf Märkte angewiesen sein werden.

Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge, Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen. Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben wurden.

Armut und Lebensmittelsicherheit (LIB 13.11.2019, S. 337)

Einer Befragung aus dem Jahr 2016/2017 an rund 155.000 Personen zufolge (Afghan Living Condition Survey - ALCS), sind rund 45% oder 13 Millionen Menschen in Afghanistan von anhaltender oder vorübergehender Lebensmittelunsicherheit betroffen, wobei der Anteil der Betroffenen im Osten, Norden und Nordosten am höchsten ist. Gegenüber dem Zeitraum 2011-12 ist ihr Anteil bei einem Ausgangsniveau von 30% um 15 Prozentpunkte gestiegen.

Im Zeitraum 2016-17 lebten dem ALCS zufolge 54,5% der Afghanen unter der Armutsgrenze. Gegenüber früheren Erhebungen ist der Anteil an armen Menschen in Afghanistan somit gestiegen (2007-08: 33,7%, 2011-12: 38,3%). Im ländlichen Raum war der Anteil an Bewohnern unter der Armutsgrenze mit 58,6% höher als im städtischen Bereich (41,6%). Es bestehen regionale Unterschiede: In den Provinzen Badghis, Nuristan, Kundus, Zabul, Helmand, Samangan, Uruzgan und Ghor betrug der Anteil an Menschen unter der Armutsgrenze gemäß offizieller Statistik 70% oder mehr, während er in einer Provinz - Kabul - unter 20% lag. Schätzungen zufolge, ist beispielsweise der Anteil der Bewohner unter der Armutsgrenze in Kabul-Stadt und Herat-Stadt bei rund 34-35%. Damit ist der Anteil an armen Menschen in den beiden urbanen Zentren zwar geringer als in den ländlichen Distrikten der jeweiligen Provinzen, jedoch ist ihre Anzahl aufgrund der Bevölkerungsdichte der Städte dennoch vergleichsweise hoch. Rund 1,1 Millionen Bewohner von Kabul-Stadt leben unter der Armutsgrenze. In Herat-Stadt beträgt ihre Anzahl rund 327.000.

2018 gaben rund 30% der 15.012 Befragten an, dass sich die Qualität ihrer Ernährung verschlechtert hat, während rund 17% von einer Verbesserung sprachen und die Situation für rund 53% gleich blieb. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Personen, welche angaben, dass sich ihre Ernährungssituation verschlechtert habe, im Westen des Landes über dem Anteil in ganz Afghanistan. Beispielsweise die Provinz Badghis war hier von einer Dürre betroffen.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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