TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/10 W203 2150003-3

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Veröffentlicht am 10.02.2020
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Entscheidungsdatum

10.02.2020

Norm

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG-DV 2005 §4 Abs1 Z2
AVG §13 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §17
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W203 2150003-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX .1997, StA. AFGHANISTAN, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.12.2019, Zl. 1100713000/190176631, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Am 19.02.2019 stellte der Beschwerdeführer einen "Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK - Aufrechterhaltung des Privat und Familienlebens" mittels Formblatt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde). In diesem Formular wurden lediglich die Felder "Daten des Antragstellers", "Derzeitiger Wohnsitz des Antragstellers im Inland" sowie "Zustelladresse des Antragstellers" ausgefüllt.

2. Am 04.09.2019 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Als Gegenstand der Amtshandlung wurde "Antrag auf Aufenthaltstitel gemäß Artikel 8 EMRK / § 55 Abs. 1 oder 2 AsylG / Antrag auf Erteilung einer Duldung gem. § 46a FPG" vermerkt. Im Rahmen dieser Befragung wurde der Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass die Vorlage eines Reisepasses, einer Geburtsurkunde oder eines sonstigen Identitätsnachweises "Grunderteilungsvoraussetzung" sei, um einen "Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG" zu erhalten. Auf die Frage, wie der Beschwerdeführer "sich vorstelle", seine Identität nachzuweisen, wenn er "keinerlei Dokumente" vorlege, gab dieser an, dass er bei seiner letzten Einvernahme bereits gesagt habe, dass er eine alte Mutter habe, die es nicht schaffe, Dokumente für ihn zu besorgen. Er habe letztes Jahr einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels eingebracht. Er könne keine Dokumente beschaffen und bitte um Unterstützung, um einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Seine Mutter sei jetzt auch krank und es sei unmöglich, an die Dokumente heranzukommen. Der Beschwerdeführer habe einen Bruder und eine Schwester, sonst habe er keine Verwandten. Der Bruder sei krank und seine Schwester sei eine junge Frau, sie könne dem Beschwerdeführer die Dokumente nicht alleine beschaffen. Sie könne nicht nach Afghanistan reisen, um Dokumente zu besorgen. Wenn sie aus Pakistan ausreise, dürfe sie nicht mehr einreisen. Vorgelegt wurde eine Einstellungszusage. Darauf hingewiesen, dass das Verfahren des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz am 19.12.2017 in "2. Instanz" rechtskräftig negativ abgeschlossen worden sei und dass im Zuge dieses Verfahrens auch das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers bezüglich Art. 8 EMRK beurteilt worden sei und dazu befragt, was sich seit damals und bis zur Stellung des nunmehr gegenständlichen Antrages auf einen Aufenthaltstitel geändert habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er sehr viele Bekannte in Österreich habe. Er werde von einem ehemaligen Dolmetscher unterstützt, dieser sei Dialysepatient und habe ihm eine Unterkunft gegeben. Nachfolgend wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass sich im Laufe des Aufenthaltes der Ansicht der belangten Behörde entsprechend keine maßgebliche Änderung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers ergeben habe und ihm kein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG erteilt werden könne, zumal er auch nicht die Grundvoraussetzung, nämlich den Nachweis seiner Identität, erfülle. Dazu gab der Beschwerdeführer an, dass er die Grundvoraussetzungen nicht erfüllen könne, da es bis vor zwei Jahren möglich gewesen sei, Kurse zu besuchen, nun sei es nicht mehr erlaubt, Kurse zu machen und eine Arbeitserlaubnis habe er auch nicht. Er habe alles versucht, um ein Dokument zu erhalten. Der Beschwerdeführer führte dazu aus, dass er sein Möglichstes versuchen und neuerlich auf die Botschaft gehen werde.

3. Mit Schreiben vom 30.10.2019 wurde der Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde "ersucht", einen "unbedenklichen nationalen Identitätsnachweis (Reisepass, Personalausweis, etc.)" vorzulegen. Es wurde eine Frist bis zum 18.11.2019 erteilt und der Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass, wenn er dieser Aufforderung nicht nachkomme, sein "Antrag gem. § 55 AsylG" vom 19.2.2019 "gem. § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG" als unzulässig zurückgewiesen werde.

4. Am 07.11.2019 teilte der Beschwerdeführer der Behörde mit, dass er mehrmals Ladungen der afghanischen Botschaft Folge geleistet habe, es sei ihm jedoch dort kein Reisepass ausgestellt worden und es sei ihm daher nicht möglich, die geforderten Dokumente vorzulegen. Beigeschlossen wurden zwei Zeitbestätigungen, datiert mit 08.11.2017 sowie 14.02.2018, denen zu entnehmen ist, dass der Beschwerdeführer zu näher bezeichneten Zeiträumen in der afghanischen Botschaft anwesend gewesen sei um "konsularische Angelegenheiten" zu erledigen.

5. Mit Bescheid vom 16.12.2019, zugestellt am 19.12.2019, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines "Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen des Artikels 8 EMRK - Antrag gem. § 55 AsylG - gemäß § 13. Abs. 3 AVG" zurückgewiesen.

Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer bis zum Tag der Bescheiderlassung, d.h. nach Ablauf der Frist, die erforderlichen Dokumente nicht vorgelegt habe. Ein Mängelbehebungsantrag sei ebenfalls nicht beim Bundesamt eingelangt. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass gemäß § 13 Abs. 3 AVG die Behörde bei Mängeln schriftlicher Anträge unverzüglich deren Behebung von Amts wegen zu veranlassen habe. Sie könne dem Einschreiter auch auftragen, den Mangel innerhalb einer angemessenen Frist zu beheben mit der Wirkung, dass bei Ablauf dieser Frist und Nichtverbesserung der Antrag zurückgewiesen wird. Das Anbringen des Beschwerdeführers habe den Mangel aufgewiesen, dass gemäß § 8 AsylG-DV dem Antrag ein entsprechendes Dokument (Reisepass, Geburtsurkunde, ...) beizulegen sei. Der Bescheid enthielt weiters den "Hinweis", dass es dem Beschwerdeführer "jederzeit freistehe, einen neuen Antrag einzubringen".

6. Am 07.01.2020 wurde gegen diesen Bescheid Beschwerde erhoben und diese wie folgt begründet: Es sei zuerst darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer zunächst keinen Antrag gem. § 55 AsylG gestellt habe, sondern vielmehr am 19.06.2019 einen Antrag auf Ausstellung einer Karte für Geduldete gem. § 46a Abs. 1 Z 3 FPG, da ihm seitens der afghanischen Botschaft die Ausstellung von Dokumenten verweigert worden war. In der Folge sei ihm von der belangten Behörde geraten worden, besser den gegenständlichen Antrag gem. § 55 AsylG 2005 zu stellen. Über den zuerst gestellten Antrag auf Ausstellung einer Karte für Geduldete sei nicht entschieden worden, es läge also nahe, dass die belangte Behörde den damals unvertretenen Beschwerdeführer derart manuduziert habe, um seinen Antrag in der Folge (leichter) zurückweisen zu können. Die belangte Behörde habe nicht erhoben, ob es möglich sei, von der afghanischen Botschaft eine Bestätigung über die Nichtausstellung von Reisedokumenten erhalten zu können und dies, obwohl der Beschwerdeführer vorgebracht und durch Zeitbestätigungen belegt habe, dass er mehrmals bei der Botschaft vorstellig geworden und ihm die Ausstellung eines Reisepasses jeweils verweigert worden sei. Diese Nachforschungen wären nötig gewesen, um beurteilen zu können, ob die Vorlage des geforderten Reisepasses überhaupt möglich sei. Da diese Nachforschungen nicht getätigt worden seien, fehle die notwendige Grundlage für eine nachvollziehbare Beweiswürdigung. Die unrichtige rechtliche Beurteilung beruhe darauf, dass nach dem Heilungstatbestand des § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV die belangte Behörde die Heilung eines Mangels (ua.) nach § 8 der AsylG-DV zuzulassen habe. Dem Beschwerdeführer sei es nicht möglich gewesen, eine Bestätigung der afghanischen Botschaft über seine Identität vorzulegen, da die Botschaft sich geweigert habe, ihm eine solche Bestätigung ohne Vorlage eines Ausweises auszustellen. Gerade die Ausstellung eines Ausweises bzw. der Aufenthaltsberechtigung plus werde ihm jedoch bisher von der belangten Behörde verweigert, wenn er keine Bestätigung der Botschaft vorlege. Einer in der Beschwerde angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes sei zu entnehmen, dass es bereits genüge, wenn der Beschwerdeführer mittels seiner Verfahrenskarte bezeugen könne, dass es sich bei ihm auch um den Antragsteller handele. Weiters habe der Beschwerdeführer im Verfahren implizit einen Antrag auf Heilung des Mangels gestellt, indem er mitgeteilt und dies auch mit Beweismitteln belegt habe, dass ihm die Ausstellung von Dokumenten durch die afghanische Botschaft nicht möglich sei. Es werde angemerkt, dass für den Heilungsantrag keine besondere Form vorgeschrieben sei und dass bei Zweifeln am Inhalt des Anbringens bzw. Antrages die belangte Behörde Nachforschungen zum Willen des Beschwerdeführers anstellen hätte müssen. Dies sei nicht geschehen und die belangte Behörde habe den impliziten Heilungsantrag vielmehr schlichtweg ignoriert. Ein solcher Antrag lag im Verfahren vor. Es sei dem Beschwerdeführer durch die belangte Behörde eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Der angefochtene Bescheid sei inhaltlich rechtswidrig, da die belangte Behörde verkannt habe, dass der Mangel der Nichtvorlage eines Reisepasses bereits geheilt gewesen sei.

7. Mit Schreiben vom 08.01.2020, einlangend am 09.01.2020, wurde die gegenständliche Beschwerde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Am 19.02.2019 stellte der Beschwerdeführer einen "Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK".

Am 04.09.2019 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

Am 30.10.2019 wurde dem Beschwerdeführer ein mit "Aufforderung zur Beweismittelvorlage" bezeichnetes Schreiben übermittelt, in welchem er ersucht wurde, einen unbedenklichen nationalen Identitätsnachweis (Reisepass, Personalausweis, etc.) vorzulegen. Es wurde dem Beschwerdeführer in diesem Schreiben mitgeteilt, dass, falls er dieser Aufforderung nicht nachkommt, sein Antrag als unzulässig zurückgewiesen werde.

Am 07.11.2019 teilte der Beschwerdeführer neuerlich mittels eines als "Stellungnahme" betitelten Schreibens mit, dass er mehrmals den Ladungen zur afghanischen Botschaft Folge geleistet habe, es sei ihm dort jedoch kein Reisepass ausgestellt worden und es sei ihm daher nicht möglich, die geforderten Dokumente vorzulegen.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 16.12.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 13 Abs. 3 AVG zurückgewiesen.

2. Beweiswürdigung:

Der festgestellte Verfahrensverlauf ergibt sich aus dem gegenständlichen Akt. Dieser ist unstrittig und kann somit festgestellt werden.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da eine Senatsentscheidung in den einschlägigen Bundesgesetzen nicht vorgesehen ist, liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer eheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

3.2. Zu Spruchpunkt A):

3.2.1. Zum Gegenstand des Verfahrens:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf ein Verwaltungsgericht aufgrund einer gegen eine Zurückweisung erhobenen Beschwerde nur über die Rechtmäßigkeit des Zurückweisungsbescheides, nicht hingegen über den zugrundeliegenden Antrag selbst entscheiden (vgl. etwa VwGH vom 12.10.2015, Ra 2015/22/0115 mit Verweis auf VwGH vom 29.04.2015, 2013/08/0136).

Die Berufungsbehörde (nunmehr und vorliegend: das Verwaltungsgericht) kann und darf demnach nur über die Frage entscheiden, ob die Zurückweisung durch die Vorinstanz zu Recht erfolgt ist. Es ist ihr aber verwehrt, über diesen Rahmen hinaus unter Überspringung der Vorinstanz mit einer Entscheidung über den Gegenstand des Verfahrens vorzugehen, würde doch dadurch der sachlichen Prüfung des gestellten Antrages und damit den Parteien eine Instanz genommen (VwGH 12.12.1989, 89/04/0151).

"Sache" im Sinne des § 28 Abs. 2 VwGVG und demnach Gegenstand des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht ist im vorliegenden Fall, die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK durch die belangte Behörde gemäß § 13 Abs. 3 AVG (vgl. VwGH vom 12.10.2015, Ra 2015/22/0115, mit Verweis auf VwGH vom 18.12.2014, Ra 2014/07/0002, 0003; VwGH vom 23.06.2015, Ra 2015/22/0040; VwGH vom 16.09.2015, Ra 2015/22/0082 bis 0084).

3.2.2. Rechtliche Grundlagen:

Die maßgebliche Bestimmung aus dem Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 53/2019 lautet:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."

"Antragstellung und amtswegiges Verfahren

§ 58. ...

(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist

1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Abs. 4) ohne weiteres einzustellen oder

2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.

Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.

...".

Die anzuwendenden Bestimmungen aus der Verordnung der Bundesministerin für Inneres zur Durchführung des Asylgesetzes 2005 (Asylgesetz-Durchführungsverordnung 2005 - AsylG-DV 2005), BGBl. II Nr. 448/2005, in der Fassung BGBl. II Nr. 228/2018 lauten wie folgt:

"Verfahren

§ 4. (1) Die Behörde kann auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs. 5, 6 und 12 AsylG 2005 zulassen:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls,

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK oder

3. im Fall der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise, wenn deren Beschaffung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

(2) Beabsichtigt die Behörde den Antrag nach Abs. 1 zurück- oder abzuweisen, so hat die Behörde darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen".

"Urkunden und Nachweise für Aufenthaltstitel

§ 8. (1) Folgende Urkunden und Nachweise sind - unbeschadet weiterer Urkunden und Nachweise nach den Abs. 2 und 3 - im amtswegigen Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 3) beizubringen oder dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) anzuschließen:

1. gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG);

2. Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument;

3. Lichtbild des Antragstellers gemäß § 5;

4. erforderlichenfalls Heiratsurkunde, Urkunde über die Ehescheidung, Partnerschaftsurkunde, Urkunde über die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, Urkunde über die Annahme an Kindesstatt, Nachweis oder Urkunde über das Verwandtschaftsverhältnis, Sterbeurkunde.

(2) Zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Urkunden und Nachweisen sind dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 weitere Urkunden und Nachweise anzuschließen:

1. Nachweis des Rechtsanspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft, insbesondere Miet- oder Untermietverträge, bestandsrechtliche Vorverträge oder Eigentumsnachweise;

2. Nachweis über einen in Österreich leistungspflichtigen und alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz, insbesondere durch eine entsprechende Versicherungspolizze, sofern kein Fall der gesetzlichen Pflichtversicherung bestehen wird oder besteht;

3. Nachweis des gesicherten Lebensunterhalts, insbesondere Lohnzettel, Lohnbestätigungen, Dienstverträge, arbeitsrechtliche Vorverträge, Bestätigungen über Pensions-, Renten- oder sonstige Versicherungsleistungen, Nachweise über das Investitionskapital, Nachweis eigenen Vermögens in ausreichender Höhe oder in den bundesgesetzlich vorgesehenen Fällen eine Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung.

(3) Ein Nachweis über die Duldung ist zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Urkunden und Nachweisen dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 anzuschließen.

...".

3.2.2. Umgelegt auf den gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Die belangte Behörde hat den Antrag des Beschwerdeführers auf "Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikels 8 EMRK" nach § 55 AsylG 2005 gemäß § 13 Abs. 3 AVG zurückgewiesen. Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer trotz Aufforderung durch die belangte Behörde keinen unbedenklichen nationalen Identitätsnachweis vorgelegt habe und auch damit, dass kein Mängelheilungsantrag bei der belangten Behörde eingelangt sei. Festgehalten wurde im Bescheid: "Hinweis: Ihnen steht frei, jederzeit einen neuen Antrag einzubringen".

Den nicht bei der belangten Behörde eingelangten Mängelbehebungsantrag betreffend ist vorwegnehmend festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sehr wohl ein mit "Stellungnahme" datiertes Schreiben an die belangte Behörde verfasst hat, aus dem hervorgeht, dass er mehrfach Ladungen der afghanischen Behörde Folge geleistet habe, ihm aber dort kein Reisepass ausgestellt worden sei und es ihm daher nicht möglich sei, die geforderten Dokumente vorzulegen. Der Beschwerdeführer hat somit - entgegen den Ausführungen der Behörde -, wenn auch implizit und nicht als solcher bezeichnet, was nach der Rechtsprechung des VwGH auch nicht notwendig ist, einen "Antrag auf Heilung" gemäß § 4 AsylG-DV 2005 gestellt, welcher von dieser nicht zur Kenntnis genommen und auch nicht im Bescheid erwähnt wurde.

Im Erkenntnis vom 30.06.2015, Ra 2015/21/0039, hat sich der VwGH ausführlich mit der Auslegung des § 58 Abs. 11 AsylG 2005 auseinandergesetzt. Er ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es mit den vom Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in das AsylG 2005 transferierten Regelungen für "Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen" insoweit der Sache nach lediglich zu einer Zusammenfassung der Absätze 4, 6 und 10 des § 19 NAG gekommen sei. Von Bedeutung ist allerdings, dass die unterbliebene Vorlage von Identitätsdokumenten, wie etwa eines Reisepasses, nunmehr einheitlich von § 58 Abs. 11 AsylG 2005 geregelt werde und diesbezüglich nicht mehr auf § 13 Abs. 3 AVG zurückgegriffen werden muss. Im Übrigen beziehe sich aber auch § 58 Abs. 11 AsylG 2005 (sonst nur) auf Mitwirkungsverpflichtungen im Zusammenhang mit erkennungsdienstlichen Daten und mit der Zustelladresse des Fremden, nicht aber auf solche, die mit der Erhebung

von inhaltlichen Erteilungsvoraussetzungen im Zusammenhang stehen (vgl. VwGH vom 26.01.2017, Ra 2016/21/0168).

Betreffend eine Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 hat der VwGH bereits ausgesprochen, dass die Bedingung, wonach die Erteilung des Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens i.S. des Art. 8 EMRK erforderlich sein muss, in jenen Konstellationen, in denen von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist, voraussetzungsgemäß erfüllt ist (vgl. VwGH vom 26.01.2017, Ra 2016/21/0168, mit Hinweis auf VwGH vom 15.09.2016, Ra 2016/21/0187). Auch - wie im vorliegenden Fall zutreffend -, im Falle eines Antrages auf Erteilung eines diesbezüglichen Aufenthaltstitels gilt, dass die Voraussetzungen für die verfahrensrechtliche Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 die gleichen sind, wie für die materielle Stattgabe des Antrages. Die Prüfung ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs, 1 Z2 AsylG-DV 2005 stattzugeben ist, unterscheidet sich inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist. Daraus folgt, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG 2005 in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der anzuwendenden Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (VwGH vom 26.01.2017, Ra 2016/21/0168, mit Hinweis auf VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).

Im konkreten Fall hat der BF - wenn auch implizit - in der Stellungnahme vom 07.11.2019 einen Antrag auf Heilung eines Mangels nach § 4 AsylG-DV 2005 gestellt, in dem er der belangten Behörde neuerlich mitteilte, dass er mehrmals den Ladungen der afghanischen Botschaft Folge geleistet habe, ihm dort aber kein Reisepass ausgestellt worden sei und er deswegen die geforderten Dokumente nicht vorlegen könne. Belegt wurde dies mit zwei Zeitbestätigungen der afghanischen Botschaft.

Im gegenständlichen Fall war es daher, auf Grundlage der oben zitierten Rechtsprechung des VwGH, selbst ohne explizite Bezugnahme auf die Z 2 im nur allgemein auf § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 gestützten Heilungsantrag erforderlich, zu prüfen, ob die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geboten war.

Die belangte Behörde hat es im vorliegenden Fall gänzlich unterlassen, eine Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vorzunehmen. Die Begründung des Bescheides beschränkt sich auf die Ausführungen, dass die belangte Behörde im Sinne des § 13 Abs. 3 AVG - der, wie bereits aus den vorgängigen Ausführungen entnommen werden kann, hier nicht die anzuwendende Rechtsgrundlage ist - den Antrag zurückzuweisen hatte, da der Beschwerdeführer einen vorliegenden Mangel nicht beseitigt habe.

Da sich die belangte Behörde nicht auch nur ansatzweise mit den Gründen des Art. 8 EMRK für eine Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 beschäftigt hat ist festzuhalten, dass die Zurückweisung des Antrages des Beschwerdeführers unrechtmäßig erfolgt ist und der Bescheid somit zu beheben ist.

Für das von der belangten Behörde in weiterer Folge fortzusetzende Verfahren ergibt sich, dass der verfahrensgegenständliche Antrag des Beschwerdeführers wieder als unerledigt anzusprechen ist und über diesen von der Behörde nach den dazu erforderlichen Ermittlungen unter Berücksichtigung allfällig eingetretener Sachverhaltsänderungen meritorisch, d.h. in der Sache, abzusprechen hat.

3.2.3. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben, zumal der entscheidungsrelevante Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt war. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 VwGVG kann - soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist - das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteienantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

Im vorliegenden Fall ergibt sich, dass aus dem Inhalt des Verwaltungsaktes in Verbindung mit der Beschwerde der maßgebliche Sachverhalt als geklärt anzusehen ist.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung. Des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Punkten bei Spruchteil A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK Behebung der Entscheidung Heilung Mängelbehebung Mitwirkungspflicht Rechtswidrigkeit Reisedokument Verbesserungsauftrag Zurückweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W203.2150003.3.00

Im RIS seit

07.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.09.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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