TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/16 W251 2183830-1

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Veröffentlicht am 16.04.2020
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Entscheidungsdatum

16.04.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W251 2183816-1/13E

W251 2183830-1/13E

W251 2183832-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) mj. XXXX alias XXXX , geb. XXXX , und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.12.2017 zu 1.) Zl. 1081306900 - 151024717, 2.) Zl. 1081307102 - 151024784, und 3.) Zl. 1081306802 - 151024741, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 06.08.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des Zweitbeschwerdeführers und die Schwester des Drittbeschwerdeführers.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung der Erst- und des Drittbeschwerdeführers fand am 06.08.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass vor ca. fünf Jahren ihre Schwester an einen Paschtunen zwangsverheiratet werden sollte. Der Mann der Erstbeschwerdeführerin sei gegen diese Heirat gewesen, weshalb er von Paschtunen getötet worden sei. Daraufhin sei ein Bruder der Erst- und des Drittbeschwerdeführers mit ihrer Schwester in den Iran geflüchtet. Dieser sei weitergereist, die Schwester der Erst- und des Drittbeschwerdeführers sei jedoch verloren gegangen. Die Erstbeschwerdeführerin habe Angst bekommen, dass jemand ihre Tochter heiraten wolle, weshalb sie mit ihren beiden Kindern (Sohn und Tochter) und ihrem Bruder - dem Drittbeschwerdeführer - in den Iran gereist sei. Ihre Tochter sei im Iran beim Onkel mütterlicherseits der Erst- und des Drittbeschwerdeführers geblieben. Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer seien mit dem Sohn der Erstbeschwerdeführerin - dem Zweitbeschwerdeführer - schließlich nach Österreich gereist.

Hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

3. Am 27.10.2015 wurden die Erst- und der Drittbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) im Zulassungsverfahren niederschriftlich einvernommen. Sie gaben an, dass seit ca. fünf Jahren in Österreich ein Bruder von ihnen lebe, mit dem sie regelmäßigen Kontakt hätten.

Am 28.10.2015 brachten die Beschwerdeführer eine Stellungnahme zum Zulassungsverfahren ein.

4. Am 18.07.2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Sie gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass ein paschtunischer Freund ihres Vaters um die Hand ihrer Schwester angehalten habe, diese den älteren Mann jedoch nicht heiraten habe wollen. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin sei deshalb zu dem Paschtunen gegangen um ihm mitzuteilen, dass die Schwester der Erstbeschwerdeführerin ihn nicht heiraten werde. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin sei dabei getötet worden. Ihr Bruder XXXX habe nach dem Ehemann der Erstbeschwerdeführerin gesucht und sei dabei von dem Paschtunen festgehalten und an der Schläfe verletzt worden. Es sei ihm gelungen durch ein Fenster zu fliehen. Die Schwester und der Bruder der Erstbeschwerdeführerin seien daraufhin geflohen, wobei ihre Schwester an der Grenze verschollen sei. Bei einer Explosion in Afghanistan sei ein anderer Bruder der Erstbeschwerdeführerin gestorben, fünf bis sechs Monate danach sei ihre Mutter an einem Hirninfarkt gestorben. Die Erstbeschwerdeführerin sei mit ihren Kindern und dem Drittbeschwerdeführer in Kabul oft umgezogen, weil der Paschtune nach ihnen gesucht habe. Da die Erstbeschwerdeführerin Angst davor gehabt habe, dass der Paschtune ihre Tochter heiraten wollen würde, habe sie schließlich mit ihren Kindern und ihrem Bruder Afghanistan verlassen. Ihre Tochter sei bei ihrem Onkel mütterlicherseits im Iran geblieben.

Hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Am 05.09.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Drittbeschwerdeführers beim Bundesamt statt. Dieser gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass ein paschtunischer Freund seines Vaters um die Hand seiner Schwester XXXX angehalten habe, sich diese jedoch geweigert habe den älteren Mann zu heiraten und deshalb zu ihrer älteren Schwester - der Erstbeschwerdeführerin - gegangen sei. Deren Ehemann sei zu dem Paschtunen gegangen um mit ihm zu reden. Es sei jedoch zu einer Auseinandersetzung gekommen, bei der sein Schwager getötet worden sei. Seine Mutter habe daraufhin seine Schwester XXXX und seinen Bruder XXXX in den Iran geschickt. Als die beiden die iranisch-türkische Grenze hätten überqueren wollen, hätten sie sich aus den Augen verloren. Die Familie des Drittbeschwerdeführers sei in Afghanistan bedroht worden, weshalb sie innerhalb Kabuls ihren Wohnort gewechselt hätten. An einem religiösen Feiertag sei es in einer Moschee zu einer Explosion gekommen. Der Drittbeschwerdeführer sei verletzt worden und im Krankenhaus aufgewacht, sein Bruder XXXX , mit dem er bei der Moschee gewesen sei, sei bei der Explosion ums Leben gekommen.

5. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführer keine asylrelevanten Fluchtgründe geltend bzw. glaubhaft gemacht hätten. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführer verfügen über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und sei es der Erst- und dem Drittbeschwerdeführer zumutbar durch Aufnahme von Tätigkeiten den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Beschwerdeführer würden in Österreich - abgesehen voneinander - zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass es das Bundesamt unterlassen habe das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer mit der gebotenen Tiefe zu ermitteln und seiner Entscheidung einschlägige und aktuelle Länderberichte zugrunde zu legen. So habe es weder die Erst- noch den Drittbeschwerdeführer zu ihrer westlichen Orientierung befragt. Den Beschwerdeführern drohe in Afghanistan Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sowie aufgrund des ehrverletzenden Verhaltens der Schwester der Erst- und des Drittbeschwerdeführers. Den Beschwerdeführern würde zudem unterstellt werden eine pro-westliche Gesinnung zu haben bzw. die in Afghanistan vorherrschende Wertehaltung nicht zu vertreten, weshalb ihnen auch eine Verfolgung wegen zumindest unterstellter oppositioneller Gesinnung drohe. Den Beschwerdeführern drohe auch als schiitische Muslime Verfolgung in Afghanistan. Hätte das Bundesamt die seitenweise zitierten Berichte und Entscheidungen berücksichtigt, hätte es zum Schluss kommen müssen, dass im gegenständlichen Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben sei. Eine Rückkehr nach Afghanistan würde für die besonders vulnerablen Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK darstellen, weswegen den Beschwerdeführern jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Darüber hinaus hätte die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig erklärt und den Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung (plus) erteilt werden müssen.

7. Mit Dokumentenvorlage vom 06.02.2019 legten die Beschwerdeführer Unterlagen zur Integration vor.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.09.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

9. Mit Parteiengehör vom 21.11.2019 wurde den Parteien die Möglichkeit gegeben zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 Stellung zu nehmen sowie aufgetragen bekannt zu geben, ob sich seit der letzten Verhandlung etwas an ihren Angaben, an ihrer Situation in Österreich bzw. im Herkunftsland oder an der Situation in Afghanistan geändert hat.

Bisher ist keine Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Zweitbeschwerdeführer ist der leibliche Sohn der Erstbeschwerdeführerin. Er führt den Namen XXXX alias XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Drittbeschwerdeführer ist der Bruder der Erstbeschwerdeführerin und führt den Namen XXXX sowie das Geburtsdatum XXXX . Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt der Erstbeschwerdeführerin - BF 1 AS 1; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin - BF 2 AS 1, 141 ff; Verhandlungsprotokoll vom 18.09.2019 = VP, S. 8, 25, 37).

1.1.2. Die Erstbeschwerdeführerin wurde in der Provinz Maidan Wardak in der Stadt XXXX geboren und ist dort zunächst mit ihren Eltern aufgewachsen. Im Alter von ca. 14 Jahren ist die Erstbeschwerdeführerin mit ihren Eltern in die Stadt Kabul, in den Stadtteil XXXX gezogen. Im Alter von ca. 18 Jahren hat die Erstbeschwerdeführerin geheiratet und ist danach zu ihrem Ehemann gezogen. Der Ehe entstammen eine Tochter und ein Sohn, der Zweitbeschwerdeführer. Die Tochter der Erstbeschwerdeführerin hat vier Jahre, der Sohn zwei Jahre lang die Schule in Kabul besucht. Die Erstbeschwerdeführerin hat mit ihrem Ehemann Taschen hergestellt und diese am Bazar verkauft (BF 1 AS 143; VP, S. 9). Die Erstbeschwerdeführerin ist Analphabetin.

Der Drittbeschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul im Stadtteil XXXX geboren und ist dort mit seinen Eltern und - abgesehen von seiner Schwester der Erstbeschwerdeführerin - mit seinen Geschwistern in einem gemieteten Haus aufgewachsen. Der Drittbeschwerdeführer hat drei Monate lang eine Schule in Kabul besucht. Im Alter von ca. 14 Jahren hat der Drittbeschwerdeführer in einem Fahrrad und Motorradgeschäft gearbeitet (BF3 AS 141; VP, S. 27 f).

Der Ehemann der Erstbeschwerdeführer verstarb ca. im Jahr 2010. Es kann nicht festgestellt werden, weshalb der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin gestorben ist. Die Erstbeschwerdeführerin arbeitete dann als Reinigungskraft bei Nachbarn und wurde finanziell von ihren beiden Brüdern - darunter der Drittbeschwerdeführer - unterstützt. Nach dem Tod der Mutter der Erst- und des Drittbeschwerdeführers zog dieser zur Erstbeschwerdeführerin und ihren Kindern. Die Erst- und der Drittbeschwerdeführer sind gemeinsam für ihren Unterhalt sowie den der Kinder der Erstbeschwerdeführerin aufgekommen (BF 1 AS 143; BF 2 AS 141; VP, S. 9).

1.1.3. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 06.08.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.4. Die Mutter und ein Bruder der Erst- und des Drittbeschwerdeführers sind bereits verstorben. Es kann weder festgestellt werden, woran die Mutter der Erst- und des Drittbeschwerdeführers gestorben ist noch wann der Bruder der Erst- und des Drittbeschwerdeführers gestorben ist. Eine Schwester der Erst- und des Drittbeschwerdeführers ist bei ihrer Reise mit dem nunmehr in Österreich lebenden Bruder der Erst- und des Drittbeschwerdeführers verschollen.

Der Vater der Erst- und des Drittbeschwerdeführers lebt nach wie vor in Kabul. Er ist weder bereits verstorben noch drogenabhängig. Die Beschwerdeführer stehen regelmäßig in Kontakt mit ihrem Vater.

Eine Tante und ein Onkel mütterlicherseits der Erst- und des Drittbeschwerdeführers leben in Kabul. Ebenso leben die Kinder der bereits verstorbenen Tante väterlicherseits sowie die Kinder des Onkels väterlicherseits der Erst- und des Drittbeschwerdeführers in Kabul (BF 1 AS 145; BF 2 AS 141). Insbesondere die Erstbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihrem Onkel in Kabul.

Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin ist bereits verstorben. Die Tochter der Erstbeschwerdeführerin lebt Im Iran bei einem Onkel der Erstbeschwerdeführerin. Ebenso lebt eine Tante mütterlicherseits der Erst- und des Drittbeschwerdeführers im Iran. Die Erst- und der Drittbeschwerdeführer haben regelmäßig Kontakt insbesondere zu ihrer Tochter (Erstbeschwerdeführerin) bzw. Nichte (Drittbeschwerdeführer) und ihren Verwandten im Iran (BF 1 AS 5; VP, S. 9, 29).

1.1.5. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten (VP, S. 35, 42). Die Erstbeschwerdeführerin weist eine XXXX auf, die durch XXXX ausgeglichen werden kann (Beilage ./X). Die Beschwerdeführer sind arbeitsfähig

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Vorfall, wonach um die Hand der Schwester der Erst- und des Drittbeschwerdeführers von einem paschtunischen Freund ihres Vaters angehalten worden wäre, hat sich nicht ereignet. Weder diese noch der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin hat einen Heiratsantrag dieses paschtunischen Freundes ihres Vaters abgelehnt. Auch der Vorfall, wonach der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin vom paschtunischen Freund des Vaters der Erst- und des Drittbeschwerdeführers oder dessen Familienangehörigen getötet worden wäre, hat sich nicht ereignet. Die Beschwerdeführer wurden weder vom paschtunischen Freund ihres Vaters bedroht noch verfolgt.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

1.2.2. Die Beschwerdeführer wurden in Afghanistan niemals konkret bedroht und waren keiner Verfolgung durch die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Gruppierungen ausgesetzt. Die Explosion in Kabul, bei dem der Bruder der Erst- und des Drittbeschwerdeführers ums Leben gekommen ist und der Drittbeschwerdeführer verletzt worden ist, war weder gezielt auf diese gerichtet noch waren die Beschwerdeführer davor oder danach einer individuellen und konkreten Bedrohung ausgesetzt.

1.2.3. Der Drittbeschwerdeführer wuchs als Angehöriger der muslimischen Religion schiitischer Ausrichtung auf, ist allerdings gegenwärtig wenig religiös interessiert. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Drittbeschwerdeführer - abgesehen von seinem geringen religiösen Interesse - vom Islam abgefallen ist, aktiv einer anderen (neuen) religiösen Überzeugung nachgeht bzw. religionsfeindlich oder gar spezifisch gegen den Islam auftritt.

Keiner Person in Afghanistan ist bekannt, dass der Drittbeschwerdeführer in seinem Asylverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht angegeben hat vom Islam abgefallen zu sein.

1.2.4. Die Beschwerdeführer hatten in Afghanistan keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.

1.2.5. Die Erstbeschwerdeführerin ist in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt. Ihr droht in Afghanistan keine Zwangsverheiratung.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie absolviert zwar Deutsch- und Basisbildungskurse, ist darüber hinaus jedoch auf die Unterstützung durch ihren Sohn angewiesen. Darüber hinaus kümmert sie sich primär um den Haushalt und ihren Sohn und bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie hat lediglich Kontakte zu Bekannten aus dem Deutschkurs.

1.2.6. Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils, ihres geringen religiösen Interesses oder ihres Aufenthaltes in einem europäischen Land in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wären. Der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer haben sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Zweit- oder Drittbeschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden ist und die sie in Afghanistan exponieren würde.

Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass afghanischen Staatsangehörigen, die aus Europa nach Afghanistan zurückkehren, in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthaltes außerhalb Afghanistans psychische und/oder physische Gewalt droht.

1.2.7. Dem Zweitbeschwerdeführer ist es möglich, sich wieder in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihm droht aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation für Minderjährige in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch ist er deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt Kabul kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit.

Die Beschwerdeführer können in der Stadt Kabul ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer sind mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Die Beschwerdeführer können von ihrem Vater und Onkel mütterlicherseits in Kabul, insbesondere bei der Unterkunfts- und Arbeitssuche sowie der Verpflegung unterstützt werden. Sie können zumindest vorübergehend bei ihrem Vater wohnen. Die Beschwerdeführer können zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und finanzielle Unterstützung durch ihren in Österreich lebenden Bruder bzw. Onkel erhalten Die Beschwerdeführer können für ihr Auskommen und Fortkommen sorgen.

Dem Zweitbeschwerdeführer ist es möglich sich in der Stadt Kabul an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Hochschule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen. Ihm droht dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe, Entführungen, Zwangsheirat, Zwangsarbeit oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände.

Es ist den Beschwerdeführern somit möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 06.08.2015 durchgehend in Österreich auf.

Die Erst-, der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer leben wie bereits vor ihrer Einreise nach Österreich gemeinsam in einem Haushalt in einem Quartier der Grundversorgung. Die Beschwerdeführer beziehen seit ihrer Einreise nach Österreich Leistungen aus der Grundversorgung (Beilage ./I).

Die Beschwerdeführer verfügen über einen Bruder (Erst- und Drittbeschwerdeführer) bzw. einen Onkel (Zweitbeschwerdeführer) in Österreich. Die Beschwerdeführer leben mit diesem in keinen gemeinsamen Haushalt, haben regelmäßig telefonischen Kontakt und besuchen sich hin und wieder. Es besteht kein Abhängigkeitsverhältnis der Beschwerdeführer zu diesem.

Die Beschwerdeführer haben im Jahr 2017 an verschiedenen Programmen eines Kunstvereins mitgewirkt (BF 1 AS 155; BF 2 AS 97; BF 3 AS 151; Beilage ./U). Die Erst- und der Drittbeschwerdeführer haben an einer Lehrveranstaltung "Entwerfen Spezialisierter Themen" im Sommersemester 2016 am Institut für Zeitgenössische Kunst einer Technischen Universität sowie an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (BF 1 AS 157; BF 3 AS 149; Beilage ./J; ./K, :/S, ./V).

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.1. Die Erstbeschwerdeführerin:

Die Erstbeschwerdeführerin hat Alphabetisierungs- und Deutschkurse besucht (BF 1 AS 159-165; Beilage ./A, ./B, ./F bis ./i) jedoch keine ÖSD Deutschprüfung absolviert. Sie verfügt über geringe Deutschkenntnisse (VP, S. 12 f).

Die Erstbeschwerdeführerin hat einen Basisbildungskurs von 03.07.2018 bis 02.08.2018 im Ausmaß von 45 von 45 Stunden sowie von 11.09.2018 bis 19.12.2018 im Ausmaß von 82 von 90 Stunden besucht und zusätzlich 3 bzw. 4 Stunden Online-Einheiten pro Woche absolviert (Beilage ./C und ./E). Sie hat von 17.09.2018 bis 13.12.2018 an dem Projekt "Begleitende Integration 2018" (Beilage ./D) teilgenommen.

Die Erstbeschwerdeführerin geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP, S. 13). Sie hat freiwillig in ihrer früheren Unterkunft, in der sie bis August 2018 gewohnt hat (Beilage ./I), als Reinigungskraft geputzt (VP, S. 14 f).

Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich keine freundschaftlichen Kontakte geknüpft. Sie trifft sich in Österreich gelegentlich mit Bekannten aus dem Deutschkurs (VP, S. 16 f). Es besteht keine enge soziale Bindung zu diesen.

1.4.2. Der Zweitbeschwerdeführer:

Der XXXX ährige Zweitbeschwerdeführer besuchte in Österreich im Schuljahr 2015/16 die XXXX Schulstufe, im Schuljahr 2016/17 die XXXX Schulstufe und im Schuljahr 2017/18 die XXXX Schulstufe sowie im Schuljahr 2018/19 die XXXX Schulstufe der neuen Mittelschule (Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführer - BF 2 AS 87-95; Beilage ./Q). Er hat beim Stationenlauf in der Schule den 1. Platz erreicht (Beilage ./N). Der Zweitbeschwerdeführer hat bei einem Talentcheck im Jahr 2017 teilgenommen (Beilage ./P). Der Zweitbeschwerdeführer wurde von seinen Schulkollegen sehr geschätzt (BF 2 AS 87; Beilage ./O)

Der Zweitbeschwerdeführer hat im Rahmen seines Besuchs einer Polytechnischen Schule im Fachbereich Poly Plus die Gegenstände Deutsch vertiefend, Englisch vertiefend, Mathematik vertiefend, Berufsorientierung und Projektarbeit mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen (Beilage ./M).

Der Zweitbeschwerdeführer verfügt über gute Deutschkenntnisse (VP, S. 38 f).

Er geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP, S. 13). Er hat im Rahmen der Schule jeweils ein einwöchiges Praktikum in einem Supermarkt und in einer KFZ-Werkstatt absolviert (VP, S. 39). Er erbringt in Österreich keine gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten und ist kein Mitglied in einem Verein (VP, S. 40).

1.4.3. Der Drittbeschwerdeführer:

Der Drittbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht (BF 3 AS 153, 353 f; Beilage ./R), jedoch keine ÖSD Deutschprüfung abgelegt. Er verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse um auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren (VP, S. 30 f).

Der Drittbeschwerdeführer hat von 29.01.2018 bis 28.01.2019 im Ausmaß von 20 Stunden pro Woche ein Jugendcollege absolviert (Beilage ./R) und von 11.06.2018 bis 16.08.2019 im Ausmaß von 87,5 Stunden gemeinnützige Arbeit in Form von Straßenreinigung durchgeführt (Beilage ./W).

Der Drittbeschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP, S. 32).

Der Zweit- und der Drittbeschwerdeführer haben freundschaftliche Kontakte in Österreich knüpfen können. Es bestehen keine engen sozialen Kontakte zu diesen.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.5.1. Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 - LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlingsund Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen ist. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 17.3).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre turko-mongolide Physiognomie, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 17.3).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB, Kapitel 17.3).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 17.3).

1.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten und c.a 10 - 19% Shiiten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16, 16.1).

1.5.5.1. Schiiten

Die Schiiten Afghanistans sind mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren lokale Diskriminierungsfälle (LIB Kapitel 16.1).

In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (LIB Kapitel 16.1).

1.5.5.2. Apostaten (Abfall vom Islam)

Es gibt viele Personen die freitags nicht beten oder während des Ramadans nicht fasten. Dies ist eine heiklere Angelegenheit in den ländlichen Gebieten, als in den städtischen Gebieten. Für das Nichtbeten des Freitagsgebetes werden solche Personen nicht bestraft und von den staatlichen Behörden nicht angewiesen, dies zu tun. Für das Nichtfasten während des Ramadans würden staatliche Behörden bzw. die Gesellschaft dem Nichtfastenden-des-Ramadan anraten und anweisen den Ramadan einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt dies als kleine Vergehen (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan vom 12.07.2017 - Beilage ./V, S. 5f).

Für gebürtige Muslime ist ein Leben in der afghanischen Gesellschaft möglich, ohne, dass sie den Islam praktizieren würden und auch dann, wenn sie Apostaten oder Konvertiten sind. Solche Personen sind dann in Sicherheit, wenn diese Stillschweigen bewahren. Es kann zu einer Gefährdung kommen, wenn öffentlich bekannt wird, dass diese aufgehört haben an den Islam zu glauben (Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation von Apostaten, christlichen Konvertiten, Personen, die Kritik am Islam äußern, 01.06.2017 - Beilage ./VI, S. 7).

Apostasie und Blasphemie stellen Kapitalverbrechen dar, bei denen Todesstrafe droht. In beiden Fällen haben die Betroffenen vor Gericht drei Tage Zeit um ihre "Tat" zu widerrufen (Beilage ./VI, S. 14).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschaftsbzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).

1.5.8. Korruption, Dokumente

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2018 von Transparency International belegt Afghanistan, von 180 untersuchten Ländern den 172. Platz, was eine Verbesserung um fünf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (LIB, Kapitel 7).

Korruption findet in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens statt. Beamte gehen oft ungestraft korrupten Praktiken nach. Es kam jedoch in den vergangenen Jahren zu leichten Verbesserungen bei der Wahrnehmung der Rechenschaftspflicht in der öffentlichen Verwaltung (LIB, Kapitel 7).

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor. Sämtliche Urkunden in Afghanistan können problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden (LIB, Kapitel 24).

1.5.9. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 3.1 und Kapitel 3.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 3.1).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 21).

1.5.10. Situation für Rückkehrer

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).

Die "Reception Assistance" umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).

1.5.11. Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR, Kapitel III. A. 14).

1.5.12. Frauen

Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017).

Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten (Frauen in urbanen Zentren, S. 2).

In Kabul- Stadt gibt es ein Familienkino für Frauen und den "Frauen-Garten" (Bagh-e zanan) - ein öffentlicher Park für Frauen mit verschiedenen Unterhaltungs-, Bildungs- und Sportmöglichkeiten. Der Garten, der sich über 13 Hektar Land streckt und vom Frauenministerium verwaltet wird, erlebt täglich einen großen Ansturm, vor allem am Wochenende (Frauen in urbanen Zentren, S. 29 f).

Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten (Beilage ./V, S. 22). In urbanen Zentren werden zudem vermehrt Freizeitangebote speziell für Frauen angeboten (Beilage ./V, S. 29 ff).

Traditionen, Rollenbilder, die Sicherheitslage, ländliche Umgebungen und die Armut bzw. beschränkte finanzielle Ressourcen sind Faktoren dafür, dass Mädchen seltener die Schule besuchen als Buben. Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich seit 2015 erhöht. Es gibt Bildungsprogramme für Mädchen und junge Frauen, die sich auch mit sicheren Transportmöglichkeiten für diese befassen. Es gibt auch Stipendien für Frauen (LIB Kapitel 18.1).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert. Der Anteil der Erwerbsbeteiligung bei Frauen hat sich auf 27% erhöht. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB Kapitel 18.1).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB Kapitel 18.1).

Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen, doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann eine alleinstehende Frau selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In den Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif können sich Frauen auch ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen (LIB Kapitel 18.1).

Trotz eines Gesetzes, das das minimale Heiratsalter auf 18 Jahre für Männer und 16 Jahre bei Mädchen (bzw. 15 Jahren bei Einverständnis der Eltern oder eines Richters) festlegt, ist die Praxis von erzwungenen Heiraten und Kinderehen in Afghanistan verbreitet. Armut, Analphabetismus, Genderdiskriminierung und fehlender Zugang zu Gesundheit und Bildung sind die wichtigsten treibenden Faktoren für Kinderheirat. Für eine Kinderehe bedarf es der Zustimmung der Eltern (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Kinderehen, Zwangsehen vom 03.05.2019; LIB, Kapitel 18.1)

1.5.13. Kinder

Die Stadt Kabul hat über vier Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl für die Stadt Herat beträgt 507.000 Einwohner, für die Stadt Mazar-e Sharif 428.000 Einwohner. In der Provinz Kabul sind ca. 41% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 24% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 18% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Herat sind ca. 49% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 20% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 15% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 13% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Balkh (Hauptstadt Mazar-e Sharif) sind ca. 44% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 22% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 17% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen (A

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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