Entscheidungsdatum
28.05.2020Norm
BFA-VG §22a Abs1 Z3Spruch
W250 2202695-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Nigeria, vertreten durch MigrantInnenverein St.Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2018, Zl. XXXX sowie über die Anhaltung in Schubhaft von 30.05.2018 bis 08.08.2018 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird gemäß § 22a Abs. 1 Z3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG idF BGBl I Nr. 145/2017 stattgegeben, der Schubhaftbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2018, Zl. XXXX , sowie die Anhaltung in Schubhaft von 30.05.2018 bis 08.08.2018 für rechtswidrig erklärt.
II. Gemäß § 35 Abs. 1 und 2 VwGVG iVm § 1 Z. 1 VwG-AufwErsV hat der Bund der Beschwerdeführerin zu Handen ihres ausgewiesenen Vertreters Aufwendungen in Höhe von EUR 737,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
III. Der Antrag der Behörde auf Kostenersatz wird gemäß § 35 Abs. 2 VwGVG abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Beschwerdeführerin (in weiterer Folge als BF bezeichnet) reiste mit einem internationalen Reisezug aus Italien kommend am 30.05.2018 in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufgegriffen. Dabei konnte festgestellt werden, dass es sich bei der BF um eine sichtvermerkspflichtige Drittstaatsangehörige handelt, welche im Besitz eines noch für zwei Tage gültigen italienischen Aufenthaltstitels (Permesso die soggiorno per motivi umanitari) war. Einen Reisepass oder sonstige Dokumente, welche die Identität der BF hätten bestätigen können, konnten von dieser nicht vorgewiesen werden. Die BF wurde festgenommen und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt bezeichnet) vorgeführt. Der italienische Aufenthaltstitel sowie ein Zugticket von Rom nach Wien, gültig für den 30.05.2018, wurden sichergestellt.
I.2. Am 30.05.2018 wurde die BF vom Bundesamt unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Englisch zu den Voraussetzungen für die Anordnung der Schubhaft einvernommen. Dabei gab sie im Wesentlichen an, dass sie gesund sei und am Morgen des 30.05.2018 mit dem Zug von Italien kommend nach Österreich eingereist sei. Sie besitze EUR 400,-- und wolle einen Freund besuchen. Sie sei ledig und habe keine Kinder. In Österreich habe sie keine Angehörigen, ihre Familie lebe in Nigeria. Einen Reisepass habe sie nicht, sie sei aber nach Österreich gekommen, um in der nigerianischen Botschaft einen Reisepass zu beantragen. Deutsch spreche sie nicht.
I.3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30.05.2018 wurde gemäß § 76 Abs. 2 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG iVm § 57 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 über die BF Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich die BF illegal im Bundesgebiet aufhalte und sich bei ihrer Anhaltung nur mit einem "Permesso Motivi Umanitari" habe ausweisen können, welches alleine nicht den Aufenthalt im Bundesgebiet legalisieren könne. Außerdem habe sie weder über Bargeld noch über eine behördliche Meldung verfügt und habe auch nicht angeben können, wo sie in Österreich Unterkunft beziehen werde. Weiters wurde ausgeführt, dass sie keiner Erwerbstätigkeit bzw. Beschäftigung nachgehe und in Österreich auch nicht sozialversichert sei, wodurch die BF zu einer Belastung für die österreichischen Gebietskörperschaften werden könne. Sie habe weder familiäre noch private Bindungen in Österreich, sei ledig und für niemanden sorgepflichtig. In Österreich sei sie weder beruflich noch sozial verankert und es bestehe auch kein schützenswertes Privatleben. Darüber hinaus bestehe gegen die BF eine Anordnung zur Außerlandesbringung.
Der Bescheid wurde der BF am 30.05.2018 durch persönliche Übergabe zugestellt, die Unterschrift zur Bestätigung der Übernahme wurde von der BF verweigert.
I.4. Am 01.06.2018 unterzeichnete die BF einen Rechtsmittelverzicht, nach welchem sie im Verfahren zu ihrem "Antrag auf internationalen Schutz" mit der Zahl XXXX auf ein Rechtsmittel gegen den am 30.05.2018 ergangenen Bescheid verzichte und sich mit einer Überstellung in den im Rahmen eines Konsultationsverfahrens als zuständig festgestellten Mitgliedsstaat Italien einverstanden erkläre.
I.5. Am XXXX wurde die BF einer Delegation der nigerianischen Vertretungsbehörde vorgeführt. Die Ausstellung eines Heimreisezertifikates wurde abgelehnt, da die BF im Besitz eines italienischen Aufenthaltstitels war.
I.6. Am 13.06.2018 wurde das Verfahren zur Rückübernahme der BF mit Italien eingeleitet.
I.7. Am 02.07.2018 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der BF zur amtswegigen Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft. Dabei wurde die BF darüber aufgeklärt, dass das Rückübernahmeverfahren mit Italien vom Bundesamt eingeleitet worden sei, jedoch aufgrund der noch fehlenden Antwort der italienischen Behörden die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung nach Italien aufrechterhalten werde. Die BF wurde darüber informiert, dass bei den italienischen Behörden ein weiteres Mal urgiert worden sei, woraufhin die BF angab, Hilfe zu brauchen und zurück nach Italien zu wollen.
I.8. Am 04.07.2018 erhielt das Bundesamt die Verständigung von den italienischen Behörden, dass die geplante Rückübernahme der BF abgelehnt werde, weil ihr kein Status als Asylberechtigte zukomme und der humanitäre Aufenthaltstitel abgelaufen sei.
I.9. Am XXXX wurde die BF neuerlich der nigerianischen Delegation zur Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes vorgeführt. Dabei wurde die BF als nigerianische Staatsangehörige identifiziert, ein Heimreisezertifikat wurde jedoch nicht ausgestellt, da die BF bereit sei, freiwillig nach Nigeria auszureisen.
I.10. Am 05.08.2018 erhob die BF durch ihren ausgewiesenen Rechtsvertreter Beschwerde gegen den Schubhaftbescheid vom 30.05.2018 und brachte dazu vor, dass die BF durch die Anhaltung in Schubhaft in ihren subjektiven Rechten verletzt sei und den Bescheid daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang bekämpfe. Die BF habe im Zeitpunkt der Einreise nach Österreich einen noch gültigen italienischen Aufenthaltstitel besessen, welchen sie aufgrund der Anhaltung in Schubhaft nicht verlängern habe können. Dass die BF im Zeitpunkt ihrer Anhaltung noch keinen Meldezettel vorweisen habe können ergebe sich aus der Tatsache, dass sie in einem Zug aus Italien kommend verhaftet worden sei. Außerdem habe sie im Zeitpunkt ihrer Verhaftung über ausreichend Barmittel (EUR 400, --) verfügt und sei dadurch auch eine Rückreise nach Italien gesichert gewesen. Die österreichischen Behörden hätten ihr sofort EUR 200, -- für die Bezahlung der Strafe abgenommen, jedoch hätte sie sich selbst noch von den restlichen EUR 120, -- ein Zug- oder Busticket nach Italien kaufen können. Die BF brachte weiters vor, dass sie nur deshalb nach Österreich gereist sei, um sich in der nigerianischen Botschaft einen Reisepass ausstellen zu lassen und sie nicht die Absicht gehabt habe, sich lange in Österreich aufzuhalten. Die Anhaltung in Schubhaft sei in rechtswidriger Weise erfolgt, weil bei der BF keine Fluchtgefahr bestanden habe. Die BF wolle so schnell als möglich zurück nach Italien, um sich dort um ihren Aufenthaltstitel kümmern zu können. Sie habe nie die Absicht gehabt, sich in Österreich niederzulassen. Jedenfalls falsch sei außerdem die Feststellung, dass die BF keine Angehörigen und kein Privatleben in Italien habe. Zusammengefasst fehle es dem Bescheid daher an der Rechtsgrundlage und entspreche es auch keinesfalls einer sparsamen Verwaltung, einen Menschen über zwei Monate in Schubhaft anzuhalten, welcher jederzeit zur sofortigen Ausreise bereit gewesen sei und auch die finanziellen Mittel dafür gehabt habe.
Die BF beantragte die Schubhaftnahme und die Anhaltung für rechtswidrig zu erklären, den bekämpften Bescheid zu beheben, gegebenenfalls eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die ordentliche Revision zuzulassen sowie Kostenersatz.
I.11. Am 08.08.2018 wurde die BF aus der Schubhaft entlassen.
I.12. Das Bundesamt legte den Verwaltungsakt am 09.08.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vor und gab gleichzeitig eine Stellungnahme ab. Darin fasste das Bundesamt den Verfahrensgang zusammen und führte ergänzend aus, dass die BF zwar bei der Einreise im Bundesgebiet aufgegriffen worden sei, jedoch nicht im Besitz eines gültigen Reisedokumentes gewesen sei und ihr italienischer Aufenthaltstitel zwei Tage später abgelaufen wäre. Die BF hätte daher vor ihrer Einreise nach Österreich einen Verlängerungsantrag in Italien stellen können. Aufgrund des Rechtsmittelverzichts der BF sei ein Rückübernahmeersuchen an Italien gestellt worden, welches jedoch aufgrund des abgelaufenen Aufenthaltstitels abgelehnt worden sei. Anschließend sei die BF der nigerianischen Delegation vorgeführt worden und habe diese einer Ausstellung eines Heimreisezertifikates nicht zugestimmt, weil die BF freiwillig nach Italien zurückkehren habe wollen. Die BF sei am 08.08.2018 niederschriftlich einvernommen und anschließend aus der Schubhaft entlassen worden, um ihr die freiwillige Ausreise nach Italien zu ermöglichen.
Das Bundesamt beantragte die Beschwerde als unbegründet abzuweisen bzw. als unzulässig zurückzuweisen und die BF zum Kostenersatz zu verpflichten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1. Zum Verfahrensgang
Der unter I.1. bis I.12. geschilderte Verfahrensgang wird zur Feststellung erhoben.
2. Zur Person der BF und den Voraussetzungen der Schubhaft
2.1. Die Identität der BF steht nicht fest, sie ist eine volljährige nigerianische Staatsangehörige, die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt sie nicht. Sie war weder Asylberechtigte noch subsidiär Schutzberechtigte.
2.2. Die BF ist in Österreich unbescholten und verfügte in Österreich über keinen Wohnsitz außerhalb eines Polizeianhaltezentrums.
2.3. Die BF verfügte über einen von 01.12.2017 bis 01.06.2018 gültigen italienischen Aufenthaltstitel (Permesso die soggiorno per motivi umanitari).
2.4. Die BF war gesund und haftfähig.
2.5. Die BF wurde von 30.05.2018 bis 08.08.2018 in Schubhaft angehalten. Am 30.05.2018 wurde über die BF Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung angeordnet. Am XXXX wurde die BF einer Delegation der nigerianischen Vertretungsbehörde zur Erlangung eines Heimreisezertifikates vorgeführt. Erst als dieses nicht erlangt werden konnte, wurde am 13.06.2018 ein Verfahren zur Rückübernahme der BF mit Italien eingeleitet. Am 08.08.2018 wurde die BF aus der Schubhaft entlassen um ihr die freiwillige Ausreise nach Italien zu ermöglichen. Vom Bundesamt wurde gegen die BF weder eine Rückkehrentscheidung noch eine Anordnung zur Außerlandesbringung erlassen.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des Bundesamtes, in den vorliegenden Akt des Bundesverwaltungsgerichtes, in das Zentrale Fremdenregister, in das Strafregister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Zentrale Melderegister und in die Anhaltedatei des Bundesministeriums für Inneres.
1. Zum Verfahrensgang
Die Feststellungen zum Verfahrensgang ergeben sich aus dem Verwaltungsakt des Bundesamtes und dem vorliegenden Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
2. Zur Person der BF und den Voraussetzungen der Schubhaft
2.1. Die BF hat keine Dokumente zum Nachweis ihrer Identität vorgelegt, dass sie nigerianische Staatsangehörige ist, wurde entsprechend dem im Verwaltungsakt einliegenden internen Schriftverkehr des Bundesamtes durch die nigerianische Vertretungsbehörde bestätigt. Anhaltspunkte dafür, dass sie die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, finden sich im Verwaltungsakt nicht. Da von der BF kein Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt wurde, konnte die Feststellung getroffen werden, dass sie weder Asylberechtigte noch subsidiär Schutzberechtigte ist.
2.2. Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus dem Strafregister. Dass die BF noch nie in Österreich außerhalb eines Polizeianhaltezentrums gemeldet war, ergibt sich aus dem Zentralen Melderegister.
2.3. Die Feststellung, dass die BF über einen (zum Zeitpunkt ihrer Festnahme) gültigen italienischen Aufenthaltstitel verfügte, beruht auf der im Verwaltungsakt einliegenden Kopie dieses Dokumentes.
2.4. Im Verwaltungsakt finden sich keine Hinweise auf eine gesundheitliche Beeinträchtigung der BF und wurden derartige Umstände auch in der Beschwerde nicht vorgebracht. In ihrer niederschriftlichen Einvernahme vom 30.05.2018 gab die BF insbesondere an, dass es ihr gesundheitlich gut gehe und sie keine Medikamente nehme, weshalb die Feststellung getroffen werden konnte, dass die BF gesund und haftfähig war.
2.5. Dass die BF von 30.05.2018 bis 08.08.2018 in Schubhaft angehalten wurde, ergibt sich aus dem Verwaltungsakt sowie den damit übereinstimmenden Eintragungen in der Anhaltedatei. Die Feststellungen über die Vorführung der BF vor eine Delegation der nigerianischen Botschaft zur Erlangung eines Heimreisezertifikates sowie der Einleitung des Verfahrens zur Rückübernahme der BF durch Italien nachdem ein Heimreisezertifikat nicht erlangt werden konnte beruhen auf den im Verwaltungsakt einliegenden internen Schreiben des Bundesamtes bezüglich der Vorführung der BF vor die nigerianische Vertretungsbehörde am XXXX sowie bezüglich der Einleitung des Verfahrens zur Rückübernahme der BF mit Italien. Dass die BF am 08.08.2018 aus der Schubhaft entlassen wurde um ihr die freiwillige Ausreise nach Italien zu ermöglichen, ergibt sich aus der Stellungnahme des Bundesamtes vom 09.08.2018. Dass gegen die BF keine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wurde, ergibt sich zum einen aus dem Verwaltungsakt, in dem kein derartiger Bescheid einliegt sowie aus der Stellungnahme des Bundesamtes vom 09.08.2018, in der ein solcher Bescheid in der ausführlichen Schilderung des Verfahrensganges nicht erwähnt wird.
Weitere Beweise waren wegen Entscheidungsreife nicht aufzunehmen.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu Spruchteil A. - Spruchpunkt I.- Schubhaftbescheid, Anhaltung in Schubhaft
3.1.1. Gesetzliche Grundlagen
Der mit "Schubhaft" betitelte § 76 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) in der zum Zeitpunkt der Anordnung der Schubhaft gültigen Fassung BGBl I Nr. 145/2017 lautete:
§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.
(2) Die Schubhaft darf nur dann angeordnet werden, wenn
1. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der Abschiebung notwendig ist und sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder
2. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.
(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.
(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,
1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;
1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;
2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;
3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;
4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;
5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;
6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern
a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,
b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder
c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;
7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;
8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;
9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.
(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.
(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.
(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß."
Der mit "Rechtsschutz bei Festnahme, Anhaltung und Schubhaft" überschriebene § 22a des BFA-Verfahrensgesetzes lautet:
"§ 22a. (1) Der Fremde hat das Recht, das Bundesverwaltungsgericht mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen, wenn
1. er nach diesem Bundesgesetz festgenommen worden ist,
2. er unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird oder wurde, oder
3. gegen ihn Schubhaft gemäß dem 8. Hauptstück des FPG angeordnet wurde.
(1a) Für Beschwerden gemäß Abs. 1 gelten die für Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist.
(2) Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über die Fortsetzung der Schubhaft hat binnen einer Woche zu ergehen, es sei denn, die Anhaltung des Fremden hätte vorher geendet. Hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 3 AVG aufgetragen, innerhalb bestimmter Frist einen Mangel der Beschwerde zu beheben, wird der Lauf der Entscheidungsfrist bis zur Behebung des Mangels oder bis zum fruchtlosen Ablauf der Frist gehemmt.
(3) Sofern die Anhaltung noch andauert, hat das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen.
(4) Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfen. Das Bundesamt hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem Bundesverwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das Bundesamt hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung hat zu entfallen, soweit eine Beschwerde gemäß Abs. 1 bereits eingebracht wurde.
(5) Gegen die Anordnung der Schubhaft ist eine Vorstellung nicht zulässig."
§31 Abs. 1 Z. 3 FPG lautet:
(1) Fremde halten sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf,
Z3: wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen;
Art. 21 SDÜ lautet:
(1) Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, können sich auf Grund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments höchstens bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen, soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste der betroffenen Vertragspartei stehen.
§ 52 Abs. 6 FPG 2005 lautet:
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115/EG lauten:
(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
(2) Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.
3.1.2. Zur Judikatur:
Die Anhaltung in Schubhaft ist nach Maßgabe der grundrechtlichen Garantien des Art. 2 Abs 1 Z7 PersFrBVG und des Art. 5 Abs 1 lit f EMRK nur dann zulässig, wenn der Anordnung der Schubhaft ein konkreter Sicherungsbedarf zugrunde liegt und die Schubhaft unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen. Kann der Sicherungszweck auf eine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Weise, wie etwa durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG, erreicht werden (§ 76 Abs. 1 FPG), ist die Anordnung der Schubhaft nicht zulässig (VfGH 03.10.2012, VfSlg. 19.675/2012; VwGH 22.01.2009, Zl. 2008/21/0647; 30.08.2007, Zl. 2007/21/0043).
Ein Sicherungsbedarf ist in der Regel dann gegeben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder diese zumindest wesentlich erschweren werde (§ 76 Abs. 3 FPG). Es ist allerdings nicht erforderlich, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bereits eingeleitet worden ist (VwGH 28.06.2002, Zl. 2002/02/0138).
Die fehlende Ausreisewilligkeit des Fremden, d.h. das bloße Unterbleiben der Ausreise, obwohl keine Berechtigung zum Aufenthalt besteht, vermag für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss der - aktuelle - Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein, etwa in mangelnder sozialer Verankerung in Österreich. Dafür kommt insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei der Prüfung des Sicherungsbedarfes auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen, wobei frühere Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung maßgeblich vergrößern kann (VwGH 21.12.2010, Zl. 2007/21/0498; weiters VwGH 08.09.2005, Zl. 2005/21/0301; 23.09.2010, Zl. 2009/21/0280).
"Die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs 1 FrPolG 2005 ist eine Ermessensentscheidung. Auch die Anwendung gelinderer Mittel setzt das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraus. Fehlt ein Sicherungsbedarf, dann darf weder Schubhaft noch ein gelinderes Mittel verhängt werden. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Der Behörde kommt aber auch dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (Hinweis E 17.03.2009, 2007/21/0542; E 30.08.2007, 2007/21/0043). Mit anderen Worten: Kann das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, dann wäre es rechtswidrig, Schubhaft zu verhängen; in diesem Fall hat die Behörde lediglich die Anordnung des gelinderen Mittels vorzunehmen (Hinweis E 28.05.2008, 2007/21/0246). Der Ermessenspielraum besteht also für die Behörde nur insoweit, als trotz eines die Schubhaft rechtfertigenden Sicherungsbedarfs davon Abstand genommen und bloß ein gelinderes Mittel angeordnet werden kann. Diesbezüglich liegt eine Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn die eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten wurden, also nicht vom Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde" (VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, vgl. auch VwGH vom 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).
"Je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liegt, umso weniger bedarf es einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel. Das diesbezügliche Begründungserfordernis wird dagegen größer sein, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliegt. Das wurde in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, angenommen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 22.05.2007, Zl. 006/21/0052, und daran anknüpfend das Erkenntnis vom 29.04.2008, Zl. 2008/21/0085; siehe auch die Erkenntnisse vom 28.02.2008, Zl. 2007/21/0512, und Zl. 2007/21/0391) und wird weiters auch regelmäßig bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein. Mit bestimmten gelinderen Mitteln wird man sich insbesondere dann auseinander zu setzen haben, wenn deren Anordnung vom Fremden konkret ins Treffen geführt wird" (VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).
"In Bezug auf die Überprüfung eines Schubhaftbescheides ist es nur Aufgabe des VwG, diesen Bescheid einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung ist die Rechtmäßigkeit des konkret erlassenen Bescheides zu beurteilen, es ist also zu klären, ob es zum Zeitpunkt der Anordnung aus damaliger Sicht rechtens war, über den Fremden Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FrPolG 2005 zum Zweck der Sicherung seiner Abschiebung zu verhängen (VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0122)." (VwGH vom 24.10.2019, Ra 2019/21/0198)
"Art. 21 (hier: Abs. 1) SDÜ 1990, dessen "Geltung" im Zusammenhang mit § 31 Abs. 1 Z 3 FrPolG 2005 ausdrücklich angeordnet wird, ist bei der Auslegung dieser Bestimmung einzubeziehen (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0103). Einem Fremden als Inhaber eines Aufenthaltstitels eines (anderen) Mitgliedsstaates und Inhaber eines gültigen Reisepapieres kommt nur unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 SDÜ 1990 ein Einreise- und Aufenthaltsrecht in Österreich zu." (VwGH vom 07.03.2019, Ro 2018/21/0009)
"§ 52 Abs. 6 FrPolG 2005 ist vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG zu lesen. Dort wird angeordnet, dass ein nicht rechtmäßig aufhältiger Drittstaatsangehöriger mit einem Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaates zunächst zu verpflichten ist, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben. Nur wenn dieser Verpflichtung nicht entsprochen wird, hat es zu einer Rückkehrentscheidung zu kommen. Demnach bedarf es also vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung einer "Verpflichtung" des Drittstaatsangehörigen, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben (vgl. VwGH 10.4.2014, 2013/22/0310). Die Frage der "Unverzüglichkeit" stellt sich dann in Bezug auf die Zeitspanne, die seit Ausspruch der "Verpflichtung" ergangen ist. Wird ihr "unverzüglich" entsprochen, hat eine Rückkehrentscheidung zu unterbleiben, andernfalls ist sie zu verhängen." (VwGH vom 21.12.2017, Ra 2017/21/0234)
"Für die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit iSd § 52 Abs. 2 letzter Satz zweiter Fall FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 ist eine Einzelfallprüfung erforderlich, für die insoweit auf die Rechtsprechung des VwGH zur Erstellung einer Gefährlichkeitsprognose bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots zurückgegriffen werden kann (Hinweis E 15. Dezember 2011, 2011/21/0237). Es ist daher auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die geforderte Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an. Dasselbe gilt für das Bestrafungen nach den Verwaltungsgesetzen zu Grunde liegende Verhalten (Hinweis E 10. September 2013, 2013/18/0052; E 19. Februar 2013, 2012/18/0230). Diese Feststellungen sind auch für die Beurteilung der Dauer eines Einreiseverbots erforderlich (vgl. E 15. Dezember 2011, 2011/21/0237)." (VwGH vom 10.04.2014, Ra 2013/22/0310)
"Im Kontext des § 52 Abs. 6 FrPolG 2005 kommt es nicht schlichtweg auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit an, sondern darauf, ob angesichts einer solchen Gefährdung die SOFORTIGE AUSREISE des Drittstaatsangehörigen aus dem Bundesgebiet erforderlich ist." (VwGH vom 03.07.2019, Ro 2018/21/0007)
3.1.3. Die BF besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, sie ist daher Fremde im Sinne des § 2 Abs. 4 Z. 1 FPG. Sie war weder Asylberechtigte noch subsidiär Schutzberechtigte in Österreich, weshalb die Verhängung der Schubhaft über die BF grundsätzlich - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen- möglich war. Voraussetzung für die Verhängung der Schubhaft sind das Vorliegen eines Sicherungsbedarfes hinsichtlich der Durchführung bestimmter Verfahren oder der Abschiebung, das Bestehen von Fluchtgefahr sowie die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Schubhaft.
3.1.4. Im vorliegenden Fall wurde die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung der BF angeordnet. Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann in Betracht, wenn die Abschiebung auch tatsächlich im Raum steht (VwGH vom 19.04.2012, 2009/21/0047).
3.1.4.1. Die BF war im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Mandatsbescheides im Besitz eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels (Permesso die soggiorno per motivi umanitari).
Gemäß § 31 Abs. 1 Z. 3 FPG hält sich ein Fremder dann rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn er Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels ist bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern er während seines Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgeht.
Gemäß Art. 21 Schengener Durchführungsübereinkommen - SDÜ können sich Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, auf Grund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments höchstens bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen, soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e leg.cit. aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste der betroffenen Vertragspartei stehen.
Da die BF nur in Besitz eines italienischen Aufenthaltstitels war, aber kein gültiges Reisedokument vorweisen konnte, war ihr Aufenthalt daher wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ nicht rechtmäßig im Sinne des § 31 Abs. 1 Z. 3 FPG.
3.1.4.2. Gemäß § 52 Abs. 6 FPG hat sich ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates ist, unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG zu erlassen.
Da die BF als nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige im Besitz eines italienischen Aufenthaltstitels war, wäre die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nur unter den in § 52 Abs. 6 FPG genannten Voraussetzungen zulässig gewesen. Dabei ist es unerheblich, dass der italienische Aufenthaltstitel der BF zwei Tage nach ihrer Festnahme und nach der Anordnung der Schubhaft abgelaufen wäre, weil die Behörde den im Zeitpunkt ihrer Entscheidung, daher im Zeitpunkt der Bescheiderlassung, maßgeblichen Sachverhalt und nicht einen in Zukunft liegenden Sachverhalt zu berücksichtigen hat.
Die BF reiste mit Bargeld in Höhe von EUR 400, -- in das österreichische Bundesgebiet ein und hatte nach Bezahlung ihrer Strafe noch Bargeld in Höhe von EUR 120, --. Im Strafregister scheinen keine Verurteilungen der BF auf und ergeben sich auch sonst keine Anhaltspunkte dafür, dass eine sofortige Ausreise der BF aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich war. Im Gegenteil zeigte sich die BF willig nach Italien zurückzukehren.
3.1.4.3. Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 6 FPG lagen im Zeitpunkt der Erlassung des Schubhaftbescheides nicht vor. Die BF hätte zunächst dazu verpflichtet werden müssen, das österreichische Bundesgebiet zu verlassen und in das Hoheitsgebiet Italiens zurückzureisen, da sie über einen Aufenthaltstitel dieses Staates verfügte. Erst wenn die BF dieser Verpflichtung nicht nachgekommen wäre, hätte eine Rückkehrentscheidung erlassen werden können. Weiters hat das Bundesamt keine konkreten Feststellungen zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit durch die BF getroffen, welche eine sofortige Ausreise erforderlich gemacht hätten.
3.1.5. Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung kam im Zeitpunkt der Anordnung der Schubhaft ebenfalls nicht in Betracht, da vom Bundesamt - entgegen den Ausführungen in der Begründung des angefochtenen Bescheides - keine aufenthaltsbeendende Maßnahme - insbesondere eine Anordnung zur Außerlandesbringung - erlassen worden war.
3.1.6. Da die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht vorlagen und im Zeitpunkt der Anordnung der Schubhaft die Abschiebung der BF mangels aufenthaltsbeendender Maßnahme nicht im Raum stand, war der Zweck der angeordneten Schubhaft nicht erreichbar. Der Beschwerde war daher gemäß § 22a Abs. 1 Z3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG idF BGBl I Nr. 145/2017 stattzugeben und der angefochtene Bescheid für rechtswidrig zu erklären.
Daran ändert auch die von der BF am 01.06.2018 abgegebene Erklärung, wonach sie im Verfahren zu ihrem "Antrag auf internationalen Schutz" auf ein Rechtsmittel gegen den am 30.05.2018 ergangenen Bescheid verzichte und sich mit ihrer Rückkehr nach Italien einverstanden erkläre, nichts. Da sich diese Erklärung ausdrücklich auf ein Verfahren auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz bezieht und auch in der angeführten Aktenzahl nicht jene des Schubhaftbescheides genannt wird, bezieht sich dieses als "Rechtsmittelverzicht" bezeichnete Schreiben nicht auf den angefochtenen Schubhaftbescheid. Vielmehr bringt die BF darin ihre Bereitschaft freiwillig nach Italien zurückkehren zu wollen zum Ausdruck, was auf eine Beschleunigung des Verfahrens und damit auf eine zeitnahe Entlassung aus der Schubhaft abzielt. Dass sich die BF mit dem Entzug ihrer persönlichen Freiheit einverstanden erklärt und auf ein Rechtsmittel gegen den Schubhaftbescheid verzichtet, ist diesem Schreiben nicht zu entnehmen.
3.1.7. War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die auf den Schubhaftbescheid gestützte Anhaltung gelten (VwGH vom 11.06.2013, 2012/21/0114). Die Anhaltung der BF in Schubhaft von 30.05.2018 bis 08.08.2018 ist daher rechtswidrig.
3.2. Zu Spruchteil A. - Spruchpunkte II. und III. - Kostenersatz
3.2.1. Gemäß § 22a Abs. 1a BFA-VG gelten für Beschwerden nach dieser Bestimmung die für Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist (VwGH vom 11.05.2017, Ra 2015/21/0240).
3.2.2. Gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG hat die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt obsiegende Partei Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei. Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist gemäß Abs. 2 der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei. Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist gemäß Abs. 3 die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei. Die §§ 52 bis 54 VwGG sind gemäß Abs. 6 auf den Anspruch auf Aufwandersatz gemäß Abs. 1 sinngemäß anzuwenden.
Im gegenständlichen Verfahren wurde sowohl gegen den im Spruch genannten Schubhaftbescheid als auch gegen die Anhaltung in Schubhaft Beschwerde erhoben. Die BF beantragte den Mandatsbescheid und die Anhaltung für rechtswidrig zu erklären. Das Bundesamt beantrage die Abweisung der Beschwerde. Sowohl die BF als auch das Bundesamt haben einen Antrag auf Kostenersatz im Sinne des § 35 VwGVG gestellt. Da der Beschwerde stattgegeben und sowohl der angefochtene Bescheid als auch die Anhaltung in Schubhaft für rechtswidrig erklärt werden, ist die BF die obsiegende Partei. Ihr gebührt daher gemäß § 35 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG iVm § 1 Z. 1 VwG-AufwErsV Kostenersatz in der Höhe von EUR 737,60. Dem Bundesamt gebührt als unterlegener Partei kein Kostenersatz.
3.3. Entfall einer mündlichen Verhandlung
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn (Z. 1) der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder (Z. 2) die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen. Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 5 VwGVG von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben, weil der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt war und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die für die gegenständliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltselemente nicht vorlagen.
3.4. Zu Spruchteil B. - Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Die Revision war daher nicht zuzulassen.
Schlagworte
Aufenthaltstitel Ausreiseverpflichtung Ausreisewilligkeit Kostenersatz Mitgliedstaat Rechtswidrigkeit Rückkehrentscheidung Schubhaft VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W250.2202695.1.00Im RIS seit
07.09.2020Zuletzt aktualisiert am
07.09.2020