TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/18 Ra 2020/11/0087

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Veröffentlicht am 18.08.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
68/01 Behinderteneinstellung

Norm

AVG §52
BEinstG §14
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der N P in W, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in 1020 Wien, Praterstern 2/1.DG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Mai 2020, Zl. W207 2228904-1/4E, betreffend Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Mit aktenkundigem Bescheid der belangten Behörde vom 24. November 2014 wurde festgestellt, dass die Revisionswerberin ab dem 11. September 2014 mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50% dem Kreis der begünstigten Behinderten angehört. Ausschlaggebend dafür war nach dem zugehörigen ärztlichen Gutachten der Zustand nach einem operierten Magenkarzinom (eine weiters vorhandene Minderung der Sehschwäche erhöhe den GdB nicht), wobei vom Sachverständigen eine Nachuntersuchung im Jahre 2019 empfohlen wurde.

2        Mit Schreiben der belangten Behörde vom 2. September 2019 wurde die Revisionswerberin zur Vorlage aktueller Befunde aufgefordert. Mit handschriftlichem Schreiben vom 15. September 2019 berichtete sie von ihrem schlechten Gesundheitszustand seit der Krebserkrankung (u.a. Schmerzen im Bauchbereich, Atemprobleme und Panikattacken, wegen der sie immer wieder den Notarzt rufen müsse). Beigelegt waren ärztliche Schreiben, darunter u.a. jenes vom 20. September 2019, in welchem von Schmerzinfusionen zur Beruhigung von „chronisch rezidivierenden Abdominalgien“, „rez Dyspnoe mit schweren Infekten der oberen Atemwege“ sowie Schlafstörungen und Depressionen die Rede ist.

3        Im ärztlichen Gutachten vom 29. November 2019 gelangte der Sachverständige zu einem GdB von 30% mit der Begründung „Zustand nach Teilentfernung des Magens wegen bösartiger Neubildung 08/2014“, wobei die Einstufung zwei Stufen unter dem Rahmensatz aufgrund fehlenden Hinweises auf Progredienz bzw. Absiedlungen erfolge.

4        Die Depression der Revisionswerberin habe den Grad der Behinderung nicht erhöht, weil die „Depression durch aktuelle, aussagekräftige Facharztbefunde nicht ausreichend belegt“ worden sei. Die von der Revisionswerberin behauptete Dyspnoe „erreicht mangels Vorhandensein sowie ohne Hinweis auf relevante Einschränkungen der respiratorischen Leistungsbreite keinen GdB“.

5        Im Rahmen des Parteiengehörs vom 19. Dezember 2019 verwies die Revisionswerberin darauf, dass sie wegen der psychischen Leiden in ärztlicher Behandlung stehe und ersuchte um Einholung eines psychologisch-neurologischen Gutachtens.

6        In der ärztlichen Ergänzungsstellungnahme vom 28. Jänner 2020 wurde hinsichtlich „einer relevanten psychiatrischen Erkrankung“ der Revisionswerberin neuerlich darauf hingewiesen, dass „aktuelle, aussagekräftige Facharztbefunde“ fehlten.

7        Mit Bescheid vom 28. Jänner 2020 stellte die belangte Behörde gemäß § 14 Abs. 1 und 2 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) fest, dass die Revisionswerberin mit einem GdB von 30% nicht mehr dem Kreis der begünstigten Behinderten angehöre.

8        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die dagegen erhobene Beschwerde abgewiesen (dies mit der Maßgabe, dass im Spruch die Anführung des konkret festgestellten GdB entfalle). Gleichzeitig wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

9        Die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses besteht vorwiegend aus der Wiedergabe des Verfahrensgeschehens und der zugrunde gelegten Rechtsvorschriften sowie aus (dem Verwaltungsgerichtshof bereits aus anderen Verfahren bekannten) Textbausteinen zur Begründung des Entfalls der mündlichen Verhandlung. Der mit 30% festgestellte GdB wird zusammengefasst mit den „schlüssigen und nachvollziehbaren“ Ausführungen der erwähnten ärztlichen Gutachten begründet. Demnach seien die behaupteten psychischen Beeinträchtigungen nicht zu berücksichtigen gewesen, weil diese von der Revisionswerberin nicht durch „aktuelle, aussagekräftige Facharztbefunde inklusive nachvollziehbarer Verlaufsdokumentation ausreichend belegt“ worden seien. Hinsichtlich der behaupteten Dyspnoe habe sich „kein Hinweis auf eine relevante Einschränkung“ der respiratorischen Leistungsbreite gezeigt.

10       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit zutreffend ausgeführt wird, das Verwaltungsgericht habe entgegen näher bezeichneter Judikatur gegen die Verhandlungspflicht verstoßen und sich daher den nach der hg. Rechtsprechung für die Entscheidung wesentlichen persönlichen Eindruck von den körperlichen und seelischen Leiden der Revisionswerberin (unter Beiziehung des ärztlichen Sachverständigen) nicht verschafft.

11       Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13       Das Verwaltungsgericht stützte seine Entscheidung im Wesentlichen auf die im behördlichen Verfahren eingeholten ärztlichen Gutachten, die als schlüssig und nachvollziehbar beurteilt wurden. Die Ansicht, die von der Revisionswerberin behaupteten psychischen Leiden bzw. die von ihr angegebene Dyspnoe könnten zur Erhöhung des GdB nichts beitragen, begründete das Verwaltungsgericht (wie bereits die ärztlichen Gutachter) damit, dass die Revisionswerberin diese Leidenszustände nicht durch „aktuelle, aussagekräftige Facharztbefunde inklusive nachvollziehbarer Verlaufsdokumentation ausreichend belegt“ habe.

14       Damit wird vom Verwaltungsgericht die Verpflichtung verkannt, den maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 17 VwGVG iVm § 39 Abs. 2 AVG), sodass das angefochtene Erkenntnis schon alleine deshalb aufzuheben ist. Im Übrigen lässt sich das Unterlassen weiterer Ermittlungen zur Dyspnoe auch nicht mit dem Fehlen „relevanter Einschränkungen“ der respiratorischen Leistungsbreite begründen, solange Daten zur respiratorischen Leistungsfähigkeit (bzw. Einschränkung) der Revisionswerberin und eine darauf aufbauende schlüssige Darlegung des Sachverständigen, welche Einschränkung als relevant anzusehen ist, fehlen.

15       Schon weil das Verwaltungsgericht gegenständlich nicht von vollständigen und schlüssigen Gutachten und somit nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen durfte, stellt das von der Revisionswerberin zu Recht gerügte Unterlassen der mündlichen Verhandlung eine zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses führende Rechtswidrigkeit dar (vgl. aus vielen VwGH 4.12.2017, Ra 2017/11/0256, und die dort zitierte Vorjudikatur).

16       Bereits aus dem zitierten Erkenntnis und der dort referierten Vorjudikatur (VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036) ergibt sich, dass es bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten um ein „civil right“ iSd. Art. 6 EMRK geht und die Durchführung der Verhandlung daher essenziell ist, um Fragen an den Sachverständigen richten zu können und den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. VwGH 25.5.2016, Ra 2016/11/0057), also - in den Worten des vom Verwaltungsgericht ergänzend erwähnten § 3 Verwaltungsrechtliches COVID-19-Begleitgesetz, BGBl. I Nr. 16/2020 (hier:) idF BGBl. I Nr. 24/2020 - zur Aufrechterhaltung einer geordneten Verwaltungsrechtspflege unbedingt erforderlich ist.

17       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

18       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil der Aufwandersatz einen Pauschalbetrag darstellt, in dem die Umsatzsteuer u.Ä. bereits enthalten sind.

Wien, am 18. August 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020110087.L00

Im RIS seit

24.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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