TE Vwgh Erkenntnis 2020/7/27 Ra 2020/01/0083

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Veröffentlicht am 27.07.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des M M in W, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Oktober 2019, Zl. W228 2166022-1/19E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Ghazni, stellte am 8. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst mit einer Verfolgung durch die Taliban begründete.

2        Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14. Juli 2017 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. Oktober 2019 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Begründend führte das BVwG aus, es könne im Falle der Rückkehr des Revisionswerbers nach Afghanistan keine Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban festgestellt werden. Die Mutter, der Onkel und die Schwester des Revisionswerbers hätten Afghanistan nach einem Angriff der Taliban auf Ghazni Stadt verlassen und würden nunmehr im Iran leben. Es könne nicht festgestellt werden, wo sich der Bruder des Revisionswerbers aufhalte. Selbst bei Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens erstrecke sich der Einflussbereich der Taliban nicht bis Mazar-e Sharif und es bestehe daher für den Revisionswerber die Möglichkeit, sich dort niederzulassen. Es sei dem Revisionswerber „aufgrund der Beweiswürdigung“ nicht gelungen, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft zu machen.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen Begründungsmängel in Zusammenhang mit dem Vorbringen des Revisionswerbers, wonach sein Vater ein von den Taliban ermordeter Beamter und sein Bruder Polizist sei, geltend macht.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0225, mwN).

9        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR aufgrund des einschlägigen Unionsrechts besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“; vgl. VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0457, mwN). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. VwGH 11.3.2020, Ra 2019/18/0443, mwN).

10       In den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (UNHCR-Richtlinien) wird unter anderem ausgeführt, dass „Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ einem Risikoprofil unterliegen würden. Regierungsfeindliche Kräfte hätten Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere seien Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung geworden (vgl. S. 54 der UNHCR-Richtlinien).

11       Die Revision macht zu Recht geltend, dass sich das BVwG nicht nachvollziehbar und unzureichend damit auseinandergesetzt hat, ob dem Revisionswerber angesichts der vorgebrachten Tätigkeit seines Bruders als Polizist eine Verfolgung durch die Taliban drohe; es fehlen auch jegliche Feststellungen dazu. Insbesondere hat sich das BVwG - entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung beizumessen ist - nicht mit den entsprechenden Passagen dieses Berichtes auseinandergesetzt.

12       Soweit das BVwG in diesem Zusammenhang ausführt, der Revisionswerber habe eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung seiner Person nicht vorgebracht, widerspricht dies dem Akteninhalt. Der Revisionswerber gab nämlich in der mündlichen Verhandlung an, dass seine Familie von den Taliban bedroht worden sei, weil sein Bruder Polizist gewesen sei. Die Taliban hätten den Revisionswerber anstatt seines Bruders mitnehmen wollen (vgl. dazu Verhandlungsprotokoll S. 3).

13       Der Alternativbegründung des BVwG, wonach dem Revisionswerber selbst im Fall einer Wahrunterstellung eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe, hält die Revision zu Recht konkret entgegen, dass sich das BVwG nicht mit den entsprechenden Ausführungen in den UNHCR-RL auseinandersetzte, wonach „angesichts des geografisch großen Wirkungsradius u.a. der Taliban für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine IFA existiert“.

14       Da das BVwG die gebotene Auseinandersetzung mit den UNHCR-Richtlinien fallbezogen unterließ, hat es sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet. Die Revision zeigt auch konkret die Relevanz des Verfahrensfehlers auf.

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16       Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. Juli 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010083.L01

Im RIS seit

03.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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