TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/25 Ra 2019/18/0444

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Veröffentlicht am 25.06.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
E6J
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
EURallg
32011L0095 Status-RL Art10 Abs1 litd
32011L0095 Status-RL Art4 Abs3 lita
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 litc
62012CJ0199 VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des C J, vertreten durch Mag. Mario Hopf, Rechtsanwalt in 9500 Villach, Moritschstraße 5/Stiege 2/2. Stock, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. September 2019, I406 2000066-1/52E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Nigerias, stellte am 18. November 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er nach Bekanntwerden seiner jahrelangen, geheimen homosexuellen Beziehung überfallen und mit einem Messer am Oberkörper verletzt worden sei. Es sei auch versucht worden, seinen Penis abzuschneiden, und er sei daraufhin geflohen. In Nigeria würde Homosexualität mit dem Tode bestraft werden. Im Falle einer Rückkehr nach Nigeria befürchte er, eingesperrt oder getötet zu werden.

2        Mit Bescheid vom 3. Dezember 2013 wies das damals zuständige Bundesasylamt diesen Antrag zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und sprach aus, dass der Revisionswerber nach Nigeria ausgewiesen werde (Spruchpunkt III.).

3        Mit Erkenntnis vom 8. Juni 2015 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. als unbegründet ab und verwies das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

4        Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. November 2015, Ra 2015/20/0204, wurde dieses Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben, „weil das Bundesverwaltungsgericht - trotz konkreter Hinweise und eines ausdrücklichen und auch substantiierten Vorbringens zum Bestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung - in seinen Erwägungen auf den psychischen Gesundheitszustand des Revisionswerbers überhaupt nicht eingegangen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass psychische Erkrankungen im Hinblick auf konstatierte Unstimmigkeiten im Aussageverhalten zu berücksichtigen sind“ (vgl. VwGH 19.11.2015, Ra 2019/20/0204).

5        Im fortgesetzten Verfahren holte das BVwG sodann ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie zum psychischen Zustand des Revisionswerbers ein, in welchem eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und deren Auswirkungen dargestellt wurden. Weiters beauftragte das BVwG einen Facharzt für Gerichtsmedizin mit der Erstattung eines Gutachtens zu den Narben des Revisionswerbers. Nach diesem Gutachten seien diese Narben am Oberkörper des Revisionswerbers durchaus auf Stichverletzungen zurückzuführen, eine Selbstverletzung sei aufgrund der Lage mancher Narben auf der Schulter auszuschließen. Für eine rituelle Selbstverletzung mangle es aufgrund der unregelmäßigen Verteilung an der Symmetrie der Narben. Das Verletzungsmuster sei für eine Selbstbeibringung atypisch.

6        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. erneut als unbegründet ab und verwies das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 hinsichtlich des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das BFA zurück (Spruchpunkte A.I. und A.II.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B.).

7        Den Feststellungen des BVwG zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers nach, weise der Revisionswerber keine groben neurologischen Auffälligkeiten auf, er sei in psychischer Hinsicht allseits orientiert und etwas angespannt, auf seine Homosexualität angesprochen aufbrausend, berichte von Flashbacks und Albträumen, blende einige Vorgänge aus. Er habe Schwierigkeiten von traumatisierenden Erfahrungen zu berichten, eine ambulante Psychotherapie sei erfolgt. Bei einer Außerlandesbringung könne es zu einem Suizid kommen. Der Oberkörper weise drei „Veränderungen“ auf, bei denen es sich um „Endzustände jeweiliger Verletzungen, dem Aspekt nach Stichverletzungen“ handeln könnte. Der Revisionswerber habe am Rücken und am Oberkörper jeweils zwei weitere Narben, bei denen es sich ebenso um Schnittverletzungen handeln könnte. Weiters führt das BVwG wörtlich aus: „Mit Ausnahme der Verletzung an der Schulter ist es möglich, dass der Beschwerdeführer sich die Verletzungen selber zugefügt hat, das Bild der Verletzungen ist jedoch für eine Selbstbeibringung atypisch. Es ist möglich, dass die Verletzungsspuren die Folge von banalen, nicht auf Gewalttätigkeiten zurückzuführende Verletzungen sind.“

8        Begründend führte das BVwG - zusammengefasst - weiter aus, dass es dem Vorbringen des Revisionswerbers aufgrund von widersprüchlichen Angaben die Glaubwürdigkeit abspreche und es dem Revisionswerber somit nicht gelungen sei, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen. Die Widersprüche im Vorbringen könnten aufgrund ihrer Einbettung sowohl in der Beschwerde als auch in den Verhandlungen in eine Erzählung, „die ohne diese Aussagen keinen Sinn ergeben hätten“, nicht einfach als Versehen angesehen werden. Daran vermögen auch die Ausführungen des Sachverständigen, wonach der Revisionswerber Schwierigkeiten hätte, über traumatisierende Erfahrungen zu berichten, nichts zu ändern. Es sei auch in einem derartigen Fall zu erwarten, dass Vorfälle im Kern zutreffend geschildert werden. Auch subsidiärer Schutz sei dem Revisionswerber nicht zu gewähren, weil es sich bei ihm um einen arbeitsfähigen Mann handle, der im Falle der Rückkehr für sich sorgen werde können. Auch seine vorgebrachte psychische Erkrankung führe im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht dazu, dass er bei seiner Rückkehr das reale Risiko einer Art. 3 EMRK Verletzung zu gewärtigen hätte. Hinsichtlich der Zurückverweisung des Verfahrens an das BFA zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung hielt das BVwG fest, dass das BFA zu prüfen haben werde, ob eine solche erlassen werden dürfe.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die Begründungsmängel geltend macht und sich gegen die Beweiswürdigung des BVwG wendet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision erweist sich als zulässig und auch als begründet.

11       Der VwGH hat zur Begründungspflicht bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 19.12.2017, Ra 2017/18/0260, mwN).

12       Die Revision rügt, dass dem Erkenntnis keine Auseinandersetzung mit der vorgebrachten Homosexualität des Revisionswerbers zu entnehmen sei, obwohl dieser fortwährend im Verfahren vorbrachte, dass er homosexuell sei und - unabhängig von der Glaubwürdigkeit seiner vorgebrachten Fluchtgeschichte - eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der homosexuellen Personen in Nigeria zu befürchten habe.

Aus den vom BVwG selbst seiner Entscheidung zugrunde gelegten Länderfeststellungen ergibt sich ein nicht unproblematisches Bild hinsichtlich der Situation homosexueller Personen in Nigeria. Wenngleich aus den zitierten Berichten teilweise hervorgeht, dass Homosexuelle auch innerstaatlich auf Unterstützung zurückgreifen können und keine systematische staatliche Verfolgung gegeben sei, sprechen andere zitierte Quellen von einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen (Erk. S. 33 ff). Das BVwG setzt sich nun zwar mit dem Vorbringen hinsichtlich des Übergriffs auf den Revisionswerber auseinander, nicht aber mit dem Vorbringen zu seiner sexuellen Orientierung. Es trifft dazu weder Feststellungen noch geht es in seiner Beurteilung auf eine mögliche Verfolgung des Revisionswerbers aufgrund seiner vorgebrachten Homosexualität bei Rückkehr in den Herkunftsstaat ein.

13       Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes wurden vor dem Hintergrund der Statusrichtlinie (nunmehr: Richtlinie 2011/95/EU) in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12 im Urteil vom 7. November 2013 zur Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung folgende Vorgaben gemacht: Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie ist dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt noch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 iVm Art. 9 Abs. 2 lit. c der Statusrichtlinie dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar. Die nationalen Behörden haben, wenn ein Asylwerber geltend macht, dass in seinem Herkunftsland Rechtsvorschriften bestünden, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände nach Art. 4 der Statusrichtlinie alle das Herkunftsland betreffenden relevanten Tatsachen einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, zu prüfen, wie dies in Art. 4 Abs. 3 lit. a der Statusrichtlinie vorgesehen ist. Von einem Asylwerber kann nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden (vgl. VwGH 16.11.2016, Ra 2015/18/0295, mwH auf EuGH 7.11.2013, Minister voor Immigratie en Asiel/X, Y, Z, C-199/12 bis C-201/12).

Die Revision macht zutreffend geltend, dass das angefochtene Erkenntnis aufgrund fehlender Feststellungen und fehlender Würdigung dieses Vorbringens mangelhaft ist.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15       Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 6 VwGG abgesehen werden.

16       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Juni 2020

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180444.L00

Im RIS seit

01.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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