RS Vfgh 2019/10/10 E1025/2018

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Veröffentlicht am 10.10.2019
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Index

40/01 Verwaltungsverfahrensgesetze außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

B-VG Art83 Abs2
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art8
AVG §17, §45
ORF-G §31c Abs1
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung einer Beschwerde des ORF mangels Verletzung subjektiver Rechte anstelle der Feststellung der Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Verfahren vor der Kommunikationsbehörde Austria durch das Bundesverwaltungsgericht; Erforderlichkeit der Interessenabwägung zwischen Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und der Wahrung des Rechts auf Parteiengehör bei der Akteneinsicht in Mehrparteienverfahren betreffend den Erwerb von Übertragungsrechten für die Spiele der UEFA Champions League

Rechtssatz

Die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria) ist in ihrem im Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) angefochtenen Bescheid erkennbar davon ausgegangen, dass einschlägige, ua vom ORF vorgelegte Unterlagen in gewissem Ausmaß Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten. Die betroffenen Unterlagen seien aber, weil für die Entscheidungsfindung der Behörde wesentlich, allen Verfahrensparteien und damit auch der nunmehr beteiligten Partei zu übermitteln, um das Parteiengehör zu wahren.

Die KommAustria hat also das insbesondere in Mehrparteienverfahren wie dem vorliegenden öfters auftretende Spannungsfeld zwischen der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und der Wahrung des Rechts auf Parteiengehör bei der Akteneinsicht erkannt. Mangels diesbezüglich spezieller gesetzlicher Regelung hat die KommAustria im hier maßgeblichen Kontext der Wettbewerbsaufsicht nach dem Abschnitt 6a des ORF-G die damit erforderliche Abwägung auf Grundlage von §17 Abs3 und §45 Abs3 AVG dahingehend vorgenommen, dass - im Anschluss an zum Telekommunikationsrecht ergangene Entscheidungen des VwGH - zur Hintanhaltung "geheimer Beweismittel" der Verfahrenstransparenz zur Wahrung der Rechte gegenbeteiligter Verfahrensparteien jedenfalls der Vorzug gegenüber Geheimhaltungsinteressen zu geben sei. Dementsprechend hat die KommAustria die einschlägigen Unterlagen der nunmehr beteiligten Partei ebenso übermittelt wie deren Unterlagen, für die ebenso Geheimhaltungsansprüche geltend gemacht wurden, dem ORF.

Die KommAustria hat ihre diesbezügliche Entscheidung in Ansehung des §17 Abs4 AVG nicht in einem selbstständig anfechtbaren verfahrensrechtlichen Bescheid getroffen, sondern die jeweiligen Unterlagen der jeweils anderen Verfahrenspartei zur Kenntnis gebracht. Dagegen ist eine gesonderte Beschwerde an das Verwaltungsgericht nicht möglich; eine allfällige Verletzung von Verfahrensvorschriften kann (nur) im Wege einer Beschwerde an das zuständige Verwaltungsgericht gegen die das Verfahren abschließende (Sach-)Entscheidung geltend gemacht werden. Dass die Rechtsverletzung nicht im Eigentlichen durch die Anordnung des verwaltungsbehördlichen Bescheides (im Spruch) selbst, sondern durch eine Entscheidung der Behörde während des Verfahrens erfolgt, ist die Konsequenz der Verfahrensvorschrift des §17 Abs3 AVG. Wie durch den das Verwaltungsverfahren abschließenden Bescheid das Recht auf Parteiengehör verletzt sein kann, weil die Behörde im Verfahren dieses nicht entsprechend gewahrt hat, kann dieser Bescheid auch das in §17 Abs3 AVG zum Ausdruck kommende Recht auf Ausnahme bestimmter Aktenbestandteile von der Einsichtnahme verletzen, wenn eine solche zu Unrecht nicht erfolgt.

In Mehrparteienverfahren können die Interessen von Verfahrensparteien auf Zugang zu verfahrensrelevanten Informationen mit den Interessen von Verfahrensparteien auf Schutz vertraulicher Angaben und Geschäftsgeheimnisse in Konkurrenz treten. Weder das grundrechtlich durch Art6 EMRK im Rahmen des Prinzips der Waffengleichheit gewährleistete Recht auf Zugang zu Verfahrensakten noch das grundrechtlich insbesondere durch Art8 EMRK geschützte Recht auf Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen vermögen eine absolut geschützte Rechtsposition zu begründen. Vielmehr ist im Verwaltungsverfahren bzw im verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Zugangsrecht zu entscheidungsrelevanten Informationen gegen das Recht anderer Verfahrensparteien auf Schutz ihrer vertraulichen Angaben und ihrer Geschäftsgeheimnisse abzuwägen. Der Grundsatz des Schutzes von vertraulichen Informationen und Geschäftsgeheimnissen muss so ausgestaltet sein, dass er mit den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes und der Wahrung der Verfahrensrechte der am Verfahren Beteiligten im Einklang steht und dass sichergestellt ist, dass insgesamt das Recht auf ein faires Verfahren beachtet wird.

Der Umstand, dass einzelne Aktenbestandteile nach §17 Abs3 AVG von der Akteneinsicht ausgenommen werden, bedeutet vor diesem Hintergrund daher noch nicht zwingend, dass damit eine Verletzung des Rechts auf Parteiengehör im Sinne des §45 Abs3 AVG einhergeht, wenn die Behörde die entsprechenden Aktenbestandteile dennoch heranzieht. Zwar stellt es den Grundsatz jedes rechtsstaatlich geordneten behördlichen Verfahrens dar, dass es keine geheimen Beweismittel geben darf. In bestimmten, außergewöhnlichen Fällen kann es aber zur Wahrung der Grundrechte eines Dritten bzw anderer Verfahrensbeteiligter oder zum Schutz wichtiger Interessen der Allgemeinheit erforderlich sein, den Parteien bestimmte Informationen vorzuenthalten, solange sichergestellt ist, dass sowohl die Behörde als auch das im Rechtsmittelweg angerufene Verwaltungsgericht über alle entscheidungserheblichen Unterlagen vollumfänglich verfügen. Die den Verfahrensparteien vorenthaltenen Informationen sind dabei auf das unbedingt notwendige Ausmaß zu beschränken und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Entscheidungsgrundlagen so zu begrenzen, dass vorzuenthaltende Informationen zur Entscheidungsfindung nicht herangezogen werden müssen. Die Behörde bzw das Verwaltungsgericht haben dabei die ihrer Vorgangsweise zugrunde liegende Abwägung zwischen Geheimhaltungsanspruch und Recht auf Akteneinsicht und damit Transparenz der Entscheidungsgrundlage nachvollziehbar zu begründen, sodass die Verfahrensparteien diese zum Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Kontrolle bzw einer Revision an den Verwaltungsgerichtshof machen können.

Grundsätzlich sind damit auf dem Boden des §17 AVG effektiver Rechtsschutz und wirksame Beschwerde (Art13 EMRK) gewährleistet.

Zwar entsteht im Fall eines Streits über die Notwendigkeit der Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, wenn der Informationsfluss einmal erfolgt ist, der "Schaden" für die betroffene Partei bereits im Zeitpunkt der Offenlegung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und kann auch - anders als etwa eine Verweigerung der Akteneinsicht und die daraus folgende Verletzung des Parteiengehörs - im Rechtsschutzweg nicht wieder rückgängig gemacht werden. Dies ist aber in Fällen von Informationsweitergaben unumgänglich. Der "Schaden" könnte entweder nur durch einen unbedingten Vorrang des Geheimhaltungsanspruchs oder dadurch vermieden werden, dass mit selbstständig bekämpfbarem verfahrensrechtlichen Bescheid über die Informationsweitergabe im Verfahren entschieden wird, sodass im Rechtsschutzweg geklärt werden kann, ob die Offenlegung der Information rechtmäßig ist. In beiden Fällen ginge der Geheimhaltungsanspruch jedenfalls vor und wäre insoweit absolut: einmal gegenüber gegenläufigen, ebenso grundrechtlich verankerten Rechten anderer Verfahrensparteien, das andere Mal gegenüber dem öffentlichen Interesse und dem ebenso grundrechtlich verankerten Interesse anderer Verfahrensparteien an einer raschen Erledigung des Verfahrens. Einen solchen absoluten Vorrang der Geheimhaltungsinteressen gegenüber verfahrensrechtlichen Gewährleistungen begründet Art8 EMRK aber, wie dargelegt, ebenso wenig wie umgekehrt Art6 EMRK einen absoluten Vorrang verfahrensrechtlicher Gewährleistungen gegenüber Geheimhaltungsinteressen.

Die im vorliegenden Fall bereits erfolgte Offenlegung der einschlägigen Informationen kann durch eine den angefochtenen Bescheid aufhebende oder abändernde Entscheidung des BVwG in der Sache freilich nicht (mehr) beseitigt werden. Das BVwG hat sich daher im fortgesetzten Verfahren - falls es eine einschlägige Rechtsverletzung gegenüber dem ORF für gegeben erachtet - auf den Ausspruch zu beschränken, dass eine Verletzung der beschwerdeführenden Partei in ihrem Recht aus §17 Abs3 AVG stattgefunden hat.

Einer solchen Feststellung durch das BVwG stehen weder die Art130 und 132 B-VG noch Bestimmungen des VwGVG, insbesondere nicht deren §9, §27 und §28 VwGVG, entgegen. In der hier vorliegenden besonderen Konstellation entscheidet das BVwG die Beschwerdesache inhaltlich durch Feststellung.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Rundfunk, Privatfernsehen, Parteiengehör, Privat- und Familienleben, fair trial, Wettbewerbsrecht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E1025.2018

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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