TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/4 W103 2212496-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.06.2020
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Entscheidungsdatum

04.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W103 2212492-1/6E

W103 2212498-1/4E

W103 2212495-1/4E

W103 2212496-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation und vertreten durch den Verein XXXX sowie dessen XXXX XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 22.11.2018, Zln. 1.) 1184666906-180718437, 2.) 1184663000-180718445, 3.) 1184664106-180718453 und 4.) 1184667010-180718461, zu Recht:

A) Den Beschwerden wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG idgF stattgegeben und 1.) XXXX und 2.) XXXX , 3.) XXXX und 4.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX und 4.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der russischen Volksgruppe; der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin.

Nachdem die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam unter Mitführung ihrer russischen Reisepässe und gültiger österreichischer Schengenvisa auf dem Luftweg ins Bundesgebiet eingereist waren, stellten sie am 30.07.2018 die diesem Verfahren zugrundeliegenden Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin am gleichen Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurden.

Der Erstbeschwerdeführer gab an, die Familie hätte den Entschluss zur Ausreise Ende Mai 2018 gefasst und sei am 19.07.2018 von Moskau auf dem Luftweg nach Wien gereist. Zum Grund der Flucht führte der Erstbeschwerdeführer aus, seine Familie gehöre der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an, welche seit April 2017 in Russland gesetzlich verboten sei. Mitglieder müssten in ständiger Angst leben, Telefone würden von der Polizei abgehört, das Eigentum an Immobilien und diversen Dokumenten werde abgenommen. Sie hätten sich heimlich in Privatwohnungen treffen müssen, da offizielle Versammlungen verboten wären. Der Erstbeschwerdeführer sorge sich im Besonderen um seine Gattin, da diese durch den Druck gesundheitliche Probleme bekommen hätte. Er habe Angst, dass ihre Kinder ihnen vom Jugendamt abgenommen werden könnten. Im Falle einer Rückkehr fürchte er eine mögliche Verhaftung und Verurteilung.

Die Zweitbeschwerdeführerin führte zum Grund ihrer Flucht im Wesentlichen aus, sie sei im Jahr 1994 offiziell in die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas eingetreten und habe in der Glaubensgemeinschaft später ihren Mann kennengelernt. Sie hätten in Russland gut gelebt und keine Probleme gehabt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Religion durch die Behörden kritisiert, verfolgt und zuletzt im Jahr 2017 gesetzlich verboten worden sei. Seitdem würden sie als Extremisten eingestuft und könnten dafür verhaftet oder verurteilt werden. In letzter Zeit hätten sie bei sich zu Hause Treffen mit anderen Mitgliedern abgehalten, da offizielle Versammlungen verboten seien. Eine Nachbarin hätte plötzlich den Kontakt abgebrochen und die Zweitbeschwerdeführerin fürchte, dass diese sie bei der Polizei anzeigen könnte. Aus Angst vor dem Gefängnis und um ihre Kinder hätten sie beschlossen, aus Russland zu fliehen. Die minderjährige Viertbeschwerdeführerin leide an einer Erbkrankheit und sei geistig behindert.

Jeweils am 03.10.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen.

Der Erstbeschwerdeführer gab zusammengefasst an, er sei gesund, benötige keine Medikamente und habe im Verfahren bisher wahrheitsgemäße Angaben erstattet. Der Erstbeschwerdeführer legte u.a. Zertifikate über seine Schul- und Berufsbildung, zwei Briefe der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation sowie einen Schriftverkehr mit der dortigen Generalstaatsanwaltschaft vor. Zu seiner Person führte er aus, er sei Russe und im Jahr 1999 als Zeuge Jehovas getauft worden. Er besitze eine Ausbildung im Bereich Maschinenbau und Elektrik und habe im Vorfeld der Ausreise in unterschiedlichen Beschäftigungen gearbeitet, die finanzielle Situation der Familie sei gut gewesen. Seine Tochter leide an einem unheilbaren Gendefekt und benötige rund um die Uhr Pflege. Der Erstbeschwerdeführer habe noch mehrere Angehörige im Herkunftsstaat, welche zum Teil ebenfalls der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören würden. Die Familie hätte die Russische Föderation im Juli 2018 legal auf dem Luftweg verlassen und hätte im Zuge der Ausreisekontrollen keine Probleme erlebt. Sie seien bereits im April 2018 in Österreich aufhältig gewesen und im Anschluss in die Russische Föderation zurückgekehrt, wobei es im Zuge der Reisebewegungen zu keinen Problemen gekommen wäre.

Zum Grund seiner Flucht aus der Russischen Föderation und seines Antrags auf internationalen Schutz führte der Erstbeschwerdeführer aus, er habe Angst um seine Familie. Die Spannungen seien in ihrer Heimat zu spüren gewesen. Der Erstbeschwerdeführer habe Angst, dass die Familie im Fall einer Verhaftung seiner Person mittellos werden würde. Bisher habe es keine persönliche Drohung oder Gefahr gegen ihn gegeben, andernfalls hätte er nicht hierherkommen können. Die Angst um seine Familie sei sein Hauptgrund, der zweite Grund sei, dass er seinen Glauben nicht leben dürfe. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. In der Zeit von April 2018 bis zu seiner Ausreise im Juli 2018 habe es in der Russischen Föderation Fälle von Festnahmen von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft gegeben. Von diesen seien einige Personen noch im Gefängnis, einige seien freigelassen worden. Bei den Zeugen Jehovas sei der Erstbeschwerdeführer für die Reinigung der Versammlungsräume zuständig gewesen, er habe technische Vorbereitungen für die Kongresse getroffen und sei für das Inventar verantwortlich gewesen.

In Österreich besuche er regelmäßig Versammlungen der Zeugen Jehovas. Seine Kinder seien bislang noch nicht getauft. In Österreich lebe die Familie von der Grundversorgung, den größten Teil des Alltags würde die Wahrnehmung von ärztlichen Terminen der beiden Kinder ausmachen. Der Erstbeschwerdeführer wolle in Österreich künftig arbeiten, seine Familie versorgen und seinen Glauben leben. Für den Fall einer Rückkehr befürchte er, dass die Familie bereits am Flughafen festgenommen werden könnte sowie dass er eventuell keine Arbeit finden würde und die Kinder keine Schule besuchen dürften. Auf Vorhalt der problemlosen Rückkehr der Familie in den Herkunftsstaat im April 2018 und ihrem dortigen Aufenthalt bis Juli 2018 erklärte der Erstbeschwerdeführer, es müsse nicht sofort etwas passieren; in Russland sei es Ziel, die Zeugen Jehovas zu vernichten.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zusammengefasst an, sie sei gesund und habe bislang der Wahrheit entsprechende Angaben erstattet. Die Zweitbeschwerdeführerin legte ihre Heiratsurkunde, diverse Diplome über ihre Ausbildung im medizinischen Bereich, Geburtsurkunden und Staatsbürgerschaftsnachweise ihrer Kinder sowie diverse Unterlagen zum Beleg der Situation der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation vor. Die Zweitbeschwerdeführerin sei im Jahr 1994 als Zeugin Jehovas getauft worden. Die Zweitbeschwerdeführerin schilderte ihren beruflichen Werdegang und gab an, sich zuletzt um ihre behinderte Tochter gekümmert zu haben. Sie hätten Pflegegeld für diese bezogen, zusätzlich habe ihr Mann bis zur Ausreise gearbeitet. Sie hätten in einem Eigentumshaus gelebt, welches nun leer stehe und von ihren Schwiegereltern betreut werde. Ihrem Sohn ginge es gut, dieser sei gesund und ginge in Österreich in die Schule. Ihre zehnjährige Tochter leide an der unheilbaren genetischen Erkrankung Bloch-Sulzberger-Syndrom, befinde sich auf der Entwicklungsstufe einer Zweijährigen und benötige rund um die Uhr Pflege. Im Herkunftsstaat würden noch zahlreiche Verwandte der Zweitbeschwerdeführerin, welche ohne religiöses Bekenntnis wären und von keinen Problemen berichtet hätten, leben.

Zum Grund der Flucht erklärte die Zweitbeschwerdeführerin, sie hätten Angst um ihre Kinder, da es ein neues Gesetz gebe, wonach Kinder von Zeugen Jehovas ihren Eltern weggenommen würden. Ihre Daten seien bei der Polizei gespeichert worden. Ihr Mann sei aktiv in der Gemeinschaft gewesen. Bei ihnen zu Hause hätte es Versammlungen und daher die Gefahr einer Festnahme gegeben. Sie hätten verschiedene Schreiben an höchste Beamte in ihrem Land gerichtet und Antworten erhalten, demzufolge alles rechtens sei. Sie hätten in ständiger Angst gelebt. Die russische Verfassung garantiere Religionsfreiheit, nur im Falle der Zeugen Jehovas sei dies ein Problem. Diese würden als Extremisten bezeichnet. Sie könne ihre Kinder nicht in ihrem Glauben erziehen, da dies verboten sei. Persönliche Verfolgung habe sie bislang nicht erlebt. In der Vergangenheit sei die Zweitbeschwerdeführerin als Pionierin unterwegs gewesen, hätte Informationsbroschüren verteilt, Gespräche geführt und die Bibel gelehrt. Dann sei sie normaler Verkünder gewesen. In letzter Zeit sei sie aus Angst weniger aktiv gewesen. In Österreich nehme sie regelmäßig an Versammlungen der Zeugen Jehovas teil.

In der Folge legten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Bestätigungen der Zeugen Jehovas in Österreich vor, wonach diese getaufte Zeugen Jehovas seien und regelmäßig Gottesdienste besuchen würden.

Im Rahmen eines Schreibens vom 11.10.2018 bezogen die beschwerdeführenden Parteien zu den ihnen übermittelten Länderberichten (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Stand 31.08.2018, Anfragebeantwortungen zu Verbot und Strafverfolgung der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation vom 26.09.2017 sowie vom 28.05.2018 zu Verfolgung, Strafmaß und Repressionen gegenüber einfachen Gläubigen) Stellung und führten im Wesentlichen aus, die übermittelten Informationen erwiesen sich als nicht hinreichend aktuell. Tatsächlich seien alle Zeugen Jehovas von Verfolgung bedroht, zumal die getroffene Unterscheidung von "einfachen Gläubigen" unrichtig sei. Zusätzlich zu den bereits vorgelegten Unterlagen führte die Stellungnahme eine Auflistung von im Internet abrufbaren Berichten über rezente Fälle von Übergriffen auf und Verhaftungen von Zeugen Jehovas an.

Mit Eingabe vom 19.10.2018 langte eine ergänzende schriftliche Stellungnahme der beschwerdeführenden Parteien zur Situation der Zeugen Jehovas im Herkunftsstaat ein.

2. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 22.11.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz der beschwerdeführenden Parteien hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.), den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt (Spruchpunkte II.), diesen einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die beschwerdeführenden Parteien Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkte V.) und deren Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).

In der Entscheidungsbegründung hielt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören würden und innerhalb derselben als "einfache Gläubige" keine besondere Funktion innegehabt hätten. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien im Herkunftsstaat einer persönlichen Bedrohung von staatlicher oder dritter Seite ausgesetzt gewesen wären oder eine solche künftig zu befürchten hätten. Die beschwerdeführenden Parteien hätten anlässlich der niederschriftlichen Einvernahmen keinerlei Angaben hinsichtlich einer tatsächlichen persönlichen Bedrohung ihrer Familie im Herkunftsstaat vorgebracht, sondern eine solche vielmehr verneint. Gemäß dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 12.11.2018 richte sich die Entscheidung des Obersten Gerichts vom 20.04.2017 gegen das Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland, nicht jedoch gegen einfache Gläubige. Eine Recherche der Österreichischen Botschaft Moskau hätte keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen würden, von legalen Repressionen betroffen wären. Auch die von den beschwerdeführenden Parteien vorgelegten Schreiben der Verwaltung des Präsidenten sowie der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation aus dem Jahr 2017 würden bestätigen, dass die beschwerdeführenden Parteien keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wären. Wären die beschwerdeführenden Parteien einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen, wären die russischen Behörden gegen diese tätig geworden und hätten Maßnahmen gegen sie gesetzt. Die beschwerdeführenden Parteien hätten im Juni 2017 russische Reisepässe ausgestellt bekommen und mit diesen in der Folge mehrfach legale Reisebewegungen unternommen, im Zuge derer sie keine Komplikationen bei Ein- und Ausreisekontrollen erlebt hätten. Im Falle einer tatsächlichen Verfolgung wäre die Familie zudem infolge ihres Aufenthalts in Österreich im April 2018 nicht in den Herkunftsstaat zurückgekehrt, sondern hätte sogleich Anträge auf internationalen Schutz eingebracht. Die beschwerdeführenden Parteien hätten vorgebracht, für ihre gesundheitlich beeinträchtigte Tochter, die Viertbeschwerdeführerin, in der Russischen Föderation ungehindert Zugang zu ärztlicher Behandlung gehabt zu haben und hätten von einer allfälligen Benachteiligung aufgrund der Glaubenszugehörigkeit nichts berichtet.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin seien gesund, würden über qualifizierte Berufsausbildung verfügen und könnten den Lebensunterhalt für sich und die minderjährigen Kinder im Fall einer Rückkehr wie bereits vor der Ausreise eigenständig bestreiten. Zudem könnten die beschwerdeführenden Parteien angesichts der zahlreich unverändert im Herkunftsstaat aufhältigen Angehörigen auf die Unterstützung durch ein verwandtschaftliches Netz zurückgreifen.

Eine Gefährdung, welche die Zuerkennung von Asyl oder subsidiärem Schutz rechtfertigen würde, sei im Falle der beschwerdeführenden Parteien nicht festzustellen gewesen. Die beschwerdeführenden Parteien würden ein Familienleben lediglich untereinander führen und hätten während des kurzen Zeitraums ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keine maßgeblichen privaten oder familiären Bindungen begründet und keine Integrationsverfestigung erlangt, sodass sich der Ausspruch von Rückkehrentscheidungen als zulässig erweise.

3. Mit für alle Familienmitglieder gleichlautendem undatiertem Schriftsatz brachten die beschwerdeführenden Parteien durch die nunmehr bevollmächtigte Vertreterin fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde ein und führten in dieser zusammengefasst aus, die Behörde komme zum unrichtigen Schluss, dass die beschwerdeführenden Parteien als "einfache Gläubige" trotz der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas nichts zu befürchten hätten. Tatsächlich seien die russischen Behörden schon seit einigen Monaten dazu übergegangen, die Zeugen Jehovas systematisch zu verfolgen. Zwischenzeitlich sei die Abwesenheit der minderjährigen beschwerdeführenden Parteien in der Schule im Herkunftsstaat bei der Polizei gemeldet worden, in solchen Fällen stelle die Polizei die gesamte Familie auf die Fahndungsliste. Am 27.11.2018 hätten zwei FSB-Beamte, die sich als Untersuchungsbeamte vorgestellt hätten, beim Haus und bei der Wohnung der Familie eine Kontrolle durchgeführt. Es lägen daher alle Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl, zumindest aber von subsidiärem Schutz, vor. Der EuGH habe in ständiger Rechtsprechung betont, dass ein Verheimlichen oder Nichtausleben der religiösen Überzeugung nicht zumutbar sei.

4. Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 09.01.2019 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt.

Im Rahmen einer Ergänzung zur Beschwerde legten die beschwerdeführenden Parteien mit Eingaben vom 27.01.2019 und vom 09.05.2019 Berichtsmaterial zu Verfolgungshandlungen gegen Zeugen Jehovas im Jahr 2018 vor. Zudem wurde in einer weiteren Stellungnahme vom 08.05.2019 ausgeführt, die beschwerdeführenden Parteien hätten panische Angst vor einer Abschiebung in die Russische Föderation. Dies nicht nur wegen der allgemeinen, sich verschärfenden Lage für die Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation, sondern weil sie bereits persönlich verfolgt worden wären und auf der Fahndungsliste stünden. Die Familie erhalte weiterhin und permanent von der Schulleitung Aufforderungen, ihren jetzigen Aufenthaltsort bekannt zu geben, wobei hinter diesen Aufforderungen der Föderale Sicherheitsdienst Russlands stecke, da die Familie wegen ihres Glaubens auf der Fahndungsliste stünde. Mehrere Zeugen Jehovas befänden sich bereits in Haft. Die Integration der Familie in Österreich sei bereits gut vorangeschritten. Eine Rückkehr würde für die Eltern die sichere Verhaftung und für die Kinder eine Einweisung in ein Erziehungsheim für Kinder von Extremisten bedeutet, was insbesondere für die schwerkranke Viertbeschwerdeführerin katastrophal wäre. Übermittelt wurden Screenshots von über soziale Medien erhaltenen Nachrichten sowie Unterlagen über den Sonderschulbesuch der Viertbeschwerdeführerin in Österreich.

Mit E-Mail vom 30.01.2020 teilte der bevollmächtigte Vertreter der beschwerdeführenden Parteien mit, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin auf der Fahndungsliste des FSB stünden und im Kreise der Bekannten und Freunde der Genannten zuletzt mehrere Verhaftungen stattgefunden hätten. Sie würden damit bedroht, dass den Eltern das Sorgerecht für die minderjährige Viertbeschwerdeführerin entzogen werde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen und zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Parteien:

Die beschwerdeführenden Parteien führen die im Spruch ersichtlichen Personalien, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der russischen Volksgruppe. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin. Die aus dem Oblast XXXX stammenden beschwerdeführenden Parteien reisten im Juli 2018 unter Mitführung russischer Auslandsreisepässe sowie gültiger österreichischer Schengen-Visa der Kategorie C auf dem Luftweg in das österreichische Bundesgebiet ein und halten sich seither im Bundesgebiet auf.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind seit 1999 bzw. 1994 getaufte, aktive Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Nach Verbot der Zeugen Jehovas im April 2017 fanden im Haus der beschwerdeführenden Parteien Treffen der Glaubensgemeinschaft statt. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer und die minderjährige Viertbeschwerdeführerin werden von ihren Eltern im Glauben der Zeugen Jehovas erzogen, sind jedoch noch nicht getauft.

Die beschwerdeführenden Parteien haben glaubhaft vorgebracht, dass sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor landesweiter religiös motivierter (strafrechtlicher) Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates befinden.

Die minderjährige Viertbeschwerdeführerin leidet am Bloch Sulzberger Syndrom sowie an symptomatischer Epilepsie und bedarf daher ständiger Pflege.

Die beschwerdeführenden Parteien sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

...

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018

- Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 3.8.2018

- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

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Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein "demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform" ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach "sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 21.5.2018).

Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren 2016 knapp 10% der anhängigen Fälle Russland zuzurechnen (77.821 Einzelfälle). Der EGMR hat 2016 228 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führte Russland die Liste der verhängten Urteile mit großem Abstand an (an zweiter Stelle Türkei mit 88 Urteilen). Die EGMR-Entscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus (222 von 228 Fällen) und konstatierten mehr oder wenige gravierende Menschenrechtsverletzungen. Zwei Drittel der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 21.5.2018).

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2017 weiter eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs sahen sich nach wie vor mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert (AI 22.2.2018). Auch Journalisten und Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt zu werden (FH 1.2018). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur, führten zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Angehörige religiöser Minderheiten mussten mit Schikanen und Verfolgung rechnen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde häufig verletzt. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wurde weiter erschwert. Im Nordkaukasus kam es auch 2017 zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie einer unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018, AA 21.5.2018). Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. "fünfte Kolonne" innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland ist derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt. Laut einer Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%). Der Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die jüngsten Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2017).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. (AA 21.5.2018). Auch 2017 wurden aus dem Nordkaukasus schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet. Im Februar 2016 führte das Komitee gegen Folter des Europarats eine Mission in die Republiken Dagestan und Kabardino-Balkarien durch. Auch Vertreter des russischen präsidentiellen Menschenrechtrats bereisten im Juni 2016 den Nordkaukasus und trafen sich mit den einzelnen Republiksoberhäuptern, wobei ein Treffen mit Ramzan Kadyrow abgesagt wurde, nachdem die tschetschenischen Behörden gegen die Teilnahme des Leiters des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin protestiert hatten (ÖB Moskau 12.2017).

Der konsultative "Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte" beim russischen Präsidenten unter dem Vorsitz von M. Fedotow übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 8.8.2018

- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 8.8.2018

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 8.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Haftbedingungen

Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 90er Jahre langsam aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil noch immer nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. In dem Piloturteil-Verfahren des EGMR zum Fall Ananyev und andere v. Russland hat das Gericht festgestellt, dass die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen (russ. SIZO) einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK entsprechen, und das Problem systemischer Natur ist (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). 2012 legte Russland einen Aktionsplan zur Bekämpfung der Probleme im Strafvollzug vor, der vom Ministerkomitee des Europarates positiv aufgenommen wurde. Konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation, insbesondere in den Untersuchungsgefängnissen, werden jedoch nur schleppend umgesetzt. Im März 2017 veröffentlichte die Föderale Strafvollzugsbehörde (FSIN) einen Bericht, laut welchem die Zahl der Selbstmorde und der Erkrankungen mit direkter Todesfolge auf Grund verbesserter Bedingungen im Jahr 2016 um 12 bzw. 13% gesunken ist, Menschenrechtsverteidiger äußerten jedoch Zweifel an diesen Zahlen (ÖB Moskau 12.2017). Die häufigsten Vorwürfe betrafen die schlechten hygienischen Zustände, den Mangel an medizinischer Betreuung, den akuten Platzmangel (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018) und Misshandlungen durch Aufsichtspersonen (FH 1.2018, vgl. US DOS 20.4.2018). Amnesty International übte Kritik an der häufig vorkommenden Verbringung von Häftlingen in weit entfernte Strafkolonien unter dürftigen Transportbedingungen (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AI 22.2.2018). Zum Jahresende 2017 waren laut offiziellen Daten etwas über 600.000 Personen in Haft. Die Anzahl an inhaftierten Personen erreichte bereits im Jänner 2017 einen historischen Tiefstand. Derzeit nimmt Russland weltweit den vierten Platz der größten Häftlingspopulationen ein (nach den USA, China und Brasilien). Dies entspricht einer Quote von 420 pro 100.000 Einwohner (Platz 15 weltweit) (ÖB Moskau 12.2017). Die Regierung ist bestrebt, die Zahl der Gefängnisinsassen noch weiter zu verringern. So gibt es Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen (wie beispielsweise im Bereich der Drogendelikte ein Gesetzentwurf zu freiwilliger Entziehungstherapie oder Arbeitseinsatz statt Freiheitsstrafe) zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich; sie reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis zu solchen, die laut NGOs als "Folterkolonien" berüchtigt seien. Hauptprobleme sind Überbelegung (in Moskau, weniger in den Regionen), qualitativ schlechtes Essen und veraltete Anlagen mit den einhergehenden hygienischen Problemen. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen von über 40 Personen und ist häufig sehr schlecht. Duschen ist in der Regel nur einmal wöchentlich möglich. In den Strafkolonien schützt die Unterbringung in Gruppen den einzelnen Häftling am ehesten vor schikanöser Behandlung durch das Gefängnispersonal. Laut Menschenrechtsorganisationen kann jedoch in allen Strafkolonien gegen Häftlinge, denen Verstöße gegen die Anstaltsregeln vorgeworfen werden, sogenannte Strafisolierhaft (Schiso) angeordnet werden. Häftlinge sind in dieser Isolationshaft oft besonders üblen Haftbedingungen und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls unbefriedigend. Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Todesfälle wegen unterlassener medizinischer Hilfeleistung sollen vorkommen. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs deutlich besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Hauptproblem ist u.a. die Überbelegung. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer stellten die Gerichte Notwendigkeit und Dauer der U-Haft nicht in Frage und verlängerten die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 21.5.2018).

Im Allgemeinen sind die Haftbedingungen von Frauengefängnissen besser als in Männergefängnissen, aber auch diese sind unzulänglich. Es gibt 13 Einrichtungen, in denen auch Kleinkinder von Insassinnen leben können (US DOS 20.4.2018).

Russland erweiterte Anfang 2017 seinen Strafkatalog: Künftig können Richter bei einigen Vergehen statt einer Haftstrafe Zwangsarbeit anordnen. Die russische Gefängnisbehörde FSIN eröffnet im Januar vier "Besserungszentren" - in Sibirien, Russlands Fernost, im Kaukasus und im Wolgagebiet - und sieben Aufnahmepunkte für Zwangsarbeiter. Insgesamt bieten sie zunächst einmal 900 Verurteilten Platz. Im Gegensatz zur Haftstrafe seien die Täter "nicht von der Gesellschaft isoliert", betonte der Vizedirektor der FSIN Waleri Maximenko. Sie könnten Telefon und Internet benutzen, einen Teil des verdienten Geldes behalten, einen normalen Arzt aufsuchen und nach Verbüßung von einem Drittel der Strafe auch außerhalb der Zentren mit ihren Familien zusammenleben - vorausgesetzt, sie verstoßen weder gegen ihre Arbeitspflicht noch gegen andere Auflagen: Der Konsum von Alkohol und Drogen zieht die Umwandlung der Zwangsarbeit in Haft nach sich (Handelsblatt 2.1.2017; vgl. auch Standard.at 10.1.2017).

Laut Berichten einzelner NGOs müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern speist, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. In den Fällen, in denen die Strafverfolgung nicht sachfremd motiviert ist, oder die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, d.h. im Bereich "normaler" Kriminalität, kann davon ausgegangen werden, dass Strafverfahren in nordkaukasischen Regionen mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung (Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan) ähnlich wie im Rest der Republik verlaufen. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen besser als im Durchschnitt Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien i. d. R. als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an denen die Sicherheitsbehörden kein besonderes "sachfremdes" Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien i.d.R. eher günstig auswirken, da sie neben den besseren materiellen Bedingungen auch auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 21.5.2018).

Die öffentlichen Aufsichtskommissionen, die der unabhängigen Überwachung der Haftanstalten dienten, verloren weiter an Bedeutung und erzielten kaum Wirkung, nicht zuletzt wegen ihrer chronischen Unterfinanzierung. Die Mitglieder der Kommissionen wurden von öffentlichen Kammern ernannt, bei denen es sich um beratende Gremien handelte, die sich aus staatlich ausgewählten Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammensetzten. Eine Änderung der Ernennungsregeln führte dazu, dass einige Aufsichtskommissionen weniger Mitglieder umfassten. Dies wirkte sich zum Teil auf die Unabhängigkeit der Kommissionen aus, weil bestimmte Menschenrechtsverteidiger faktisch von einer Mitwirkung ausgeschlossen waren. Es gab Berichte, wonach Mitgliedern der öffentlichen Aufsichtskommissionen und des Menschenrechtsrats des Präsidenten sowie anderen unabhängigen Beobachtern der Zugang zu Strafkolonien von der jeweiligen Gefängnisverwaltung willkürlich verweigert wurde (AI 22.2.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 21.8.2018

- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 21.8.2018

- Handelsblatt (2.1.2017): Zwangsarbeit statt Knast, http://www.handelsblatt.com/politik/international/russlands-neuer-strafenkatalog-zwangsarbeit-statt-knast/19195230.html, Zugriff 4.7.2017

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- Standard.at (10.1.2017): Zwangsarbeit statt Haft in Russland, http://derstandard.at/2000050437057/Zwangsarbeit-statt-Knast-in-Russland, Zugriff 4.7.2017

- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 17.8.2018

Todesstrafe

Das Strafgesetzbuch sieht seit 1997 für schwere Kapitalverbrechen die Todesstrafe vor. Seit 1996 gilt jedoch ein Moratorium des Staatspräsidenten gegen die Verhängung der Todesstrafe. Der Verpflichtung, bis spätestens 1999 dem 6. Protokoll zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe beizutreten, ist Russland bisher nicht nachgekommen. Die Bevölkerung ist Befragungen zufolge mehrheitlich für die Beibehaltung der Todesstrafe. Im Hinblick auf die Europaratsmitgliedschaft hat das russische Verfassungsgericht trotz des de-iure-Fortbestehens der Todesstrafe bereits 1999 entschieden und 2009 bestätigt, dass die Todesstrafe in Russland auch weiterhin nicht verhängt werden darf; man kann somit von einer de facto-Abschaffung der Todesstrafe sprechen. Die letzte Hinrichtung fand am 2. September 1996 statt (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

Religionsfreiheit

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei eine herausgehobene Stellung. Art. 14 der Verfassung schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) erhebt Anspruch auf einen Vorrang unter den Religionsgemeinschaften und auf "Symphonie" mit der Staatsführung. Sie propagiert ihren Wertekanon als Basis einer neuen "nationalen Idee". Faktisch wird sie vom Staat bevorzugt behandelt. Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime. Der Islam in Russland ist grundsätzlich von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflusste Gruppen stehen insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden (AA 21.5.2018). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen. Seit Ende der Achtziger Jahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer "religiösen Renaissance" bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als ungläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Offizielle Statistiken zur Zahl der Gläubigen verschiedener Konfessionen gibt es nicht, und die Zahlen in den meisten Quellen unterscheiden sich erheblich. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein "kanonisches Territorium" verfügt. Es erstreckt sich über die GUS-Staaten mit der Ausnahme von Armenien, wo es eine eigene orthodoxe Kirche gibt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat. Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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