TE Vwgh Erkenntnis 2020/8/3 Ra 2020/20/0083

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Veröffentlicht am 03.08.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des M H in G, vertreten durch Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2020, W153 2168494-2/5E, betreffend Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie rechtlich davon abhängende Aussprüche nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 12. Mai 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2        Mit Bescheid vom 12. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis zum 12. Juli 2018. Begründend führte das BFA aus, der Revisionswerber geriete im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Situation, weil er in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfände und über kein soziales Netzwerk in einer sicheren Provinz verfüge. Zudem sei er ein unbegleiteter Minderjähriger.

3        Mit Erkenntnis vom 9. November 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung von Asyl als unbegründet ab.

4        Über Antrag des Revisionswerbers vom 25. Juni 2018 verlängerte das BFA mit Bescheid vom 9. Juli 2018 die Gültigkeit der Aufenthaltsberechtigung bis zum 12. Juli 2020.

5        Der Revisionswerber stellte am 8. Oktober 2019 neuerlich einen Verlängerungsantrag. Am 6. November 2019 fand seine Einvernahme vor dem BFA statt.

6        Mit Bescheid vom 14. November 2019 erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab und entzog ihm die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung. Zudem erteilte die Behörde dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. In seiner Begründung führte das BFA im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes lägen nicht mehr vor. Dem Revisionswerber stehe eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul offen, weil er nun ein alleinstehender Mann im arbeitsfähigen Alter sei, der über Berufs- und Lebenserfahrung verfüge.

7        Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8        In seiner Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, der Revisionswerber sei mittlerweile volljährig, gesund, arbeitsfähig und verfüge über Berufserfahrung, die er in Österreich gesammelt habe. Die persönliche Situation des Revisionswerbers habe sich geändert, weil er sich aufgrund seines nunmehrigen Lebensalters nicht mehr in der gleichen vulnerablen Lage befände wie zum Zeitpunkt der Zuerkennung. Ihm sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat nunmehr zumutbar. Im Gegensatz zum BFA verneinte es hingegen das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene Revision nach Vorlage derselben sowie der Verwaltungsakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, wann nach § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden darf, abgewichen.

11       Die Revision ist zulässig und auch begründet.

12       Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.1.2020, Ra 2019/01/0412, mwN).

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits festgehalten, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch dann geboten ist, wenn das Bundesverwaltungsgericht zur Situation im Herkunftsstaat des Asylwerbers aktuelle Länderberichte einholt und die Feststellungen des BFA ergänzt (vgl. etwa VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0131, mwN).

14       Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde die Feststellungen des BFA substantiiert bestritten. Er hat insbesondere unter Verweis auf zusätzliche Länderinformationen, unter anderem die sich auf Afghanistan beziehenden UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018, die Annahme des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative, deren Inanspruchnahme ihm auch zumutbar sei, in Zweifel gezogen.

15       Das Bundesverwaltungsgericht setzte sich mit den in der Beschwerde angesprochenen Länderberichten inhaltlich auseinander und traf gegenüber dem Bescheid zur Lage im Heimatland des Revisionswerbers neue Feststellungen. Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor (vgl. wiederum VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0131; 30.4.2020, Ra 2019/19/0309; jeweils mwN).

16       Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2018/19/0656, mwN).

17       Das angefochtene Erkenntnis war daher - zur Gänze, weil die vom Ausspruch über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtlich abhängenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. August 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200083.L01

Im RIS seit

03.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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