Entscheidungsdatum
03.08.2020Index
82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes §3Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Landesverwaltungsgericht Tirol erkennt durch seinen Richter Dr. Hirn über die Beschwerde der AA, Adresse 1, Z, vertreten durch die Rechtsanwälte BB, CC und DD, Adresse 2, Y, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Y vom 16.04.2020, Zl ***, betreffend eine Verwaltungsübertretung nach der Verordnung LBGl Nr 35/2020 (belangte Behörde: Bezirkshauptmannschaft Y),
zu Recht:
1. Der Beschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis einschließlich des Kostenspruchs behoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG eingestellt.
2. Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahrensgang:
1. Verfahren vor der belangten Behörde:
Mit Schriftsatz vom 03.04.2020, Zl ***, hat die Polizeiinspektion (PI) Z Anzeige gegen AA, Adresse 1, Z, wegen des Verdachts einer Verwaltungsübertretung nach der Verordnung LBGl Nr 35/2020, erstattet. Aufgrund dieser Anzeige leitete die Bezirkshauptmannschaft Y gegen die nunmehrige Beschwerdeführerin ein Verwaltungsstrafverfahren ein.
Mit der Strafverfügung vom 04.04.2020, Zl ***, hat die Bezirkshauptmannschaft Y AA, Adresse 1, Z, zur Last gelegt, den eigenen Wohnsitz zwar aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen verlassen, dabei jedoch die Grenze des Gemeindegebietes von Z nach V übertreten zu haben, obwohl die Grundbedürfnisse nachweislich innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt hätten werden können. Dadurch habe sie § 4 Abs 4 in Verbindung mit (iVm) § 6 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, verletzt, weshalb über sie gemäß § 6 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020 iVm § 3 Abs 3 COVID-19-Maßnahmengesetz eine Geldstrafe in Höhe von Euro 360,00 (Ersatzfreiheitsstrafe 33 Stunden) verhängt wurde.
Mit Schriftsatz vom 09.04.2020 erhob AA fristgerecht Einspruch gegen die Strafverfügung vom 04.04.2020, Zl ***. Darin führte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen aus, sie habe auf Nachfrage bei der Bezirkshauptmannschaft X von Amtstierärztin EE die Auskunft erhalten, dass sie ihr Pferd aus therapeutischen Gründen versorgen dürfe. Deshalb sei sie zum Stall in W gefahren und mit dem Pferd spazieren gegangen.
Nachfolgend erließ die Bezirkshauptmannschaft Y das Straferkenntnis vom 16.04.2020, Zl ***, mit dem AA, Adresse 1, Z, zur Last gelegt wurde, sie habe den eigenen Wohnsitz zwar aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen verlassen, dabei jedoch die Grenze des Gemeindegebietes von Z nach V übertreten, obwohl die Grundbedürfnisse nachweislich innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt hätten werden können. Dadurch habe sie § 4 Abs 4 iVm § 6 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, verletzt, weshalb über sie gemäß § 6 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020 iVm § 3 Abs 3 COVID-19-Maßnahmengesetz eine Geldstrafe in Höhe von Euro 360,00 (Ersatzfreiheitsstrafe 33 Stunden) verhängt wurde. Begründend führte die belangte Behörde aus, das Straferkenntnis stütze sich auf die Anzeige der PI Z, woraus die zur Last gelegte Übertretung klar hervorgehe.
Mit Schreiben (E-Mail) vom 16.04.2020 wurde die PI Z von der Bezirkshauptmannschaft Y um Stellungnahme zu den Angaben der Beschwerdeführerin, wonach sie ihr Pferd versorgt hätte, ersucht. Mit Schreiben (E-Mail) vom 14.05.2020 äußerte sich die PI Z dahingehend, dass vollinhaltlich auf die Anzeige verwiesen werde. Sollte eine entsprechende Genehmigung für die Überschreitung der Gemeindegrenzen vorgelegen sein, so sei dies behördenintern abzuklären.
Mit Schriftsatz vom 29.05.2020 erhob die nunmehr rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin Beschwerde gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Y vom 16.04.2020, Zl ***, wegen Verfahrensmängeln, unrichtiger Feststellungen und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Der angefochtene Bescheid der belangten Behörde sei insofern mangelhaft, als einerseits die ihr [= der Beschwerdeführerin] zur Last gelegte Tat sich nicht aus dem Spruch ergebe und darüber hinaus keine Begründung des Straferkenntnisses vorliege. Zudem sei die belangte Behörde nicht auf den Inhalt ihres Einspruches vom 09.04.2020 eingegangen bzw sei dieser unrichtig wiedergegeben worden. Darüber hinaus habe die belangte Behörde keine Feststellungen dahingehend getroffen, ob ein triftiger Grund zum Verlassen des Gemeindegebietes vorgelegen habe. Die Bezirkshauptmannschaft Y habe es sohin unterlassen festzustellen, dass ein Ausnahmetatbestand gemäß § 3 Abs 2 lit d iVm § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020 vorliege. Zudem sei sie [= die Beschwerdeführerin] im Tatzeitpunkt in Fahrtrichtung Z – und nicht in Fahrtrichtung Z – mit ihrem PKW ohne Anhänger unterwegs gewesen. Aufgrund der Verletzung des Pferdes könne die Pflege einzig durch die Beschwerdeführerin selbst erfolgen und sei ihr darüber hinaus von der Bezirkshauptmannschaft X mitgeteilt worden, dass der Besuch am Einstellbetrieb aus therapeutischen Gründen erlaubt sei. Abschließend wurde beantragt, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und das Verwaltungsverfahren einzustellen, in eventu es bei einer Ermahnung zu belassen, in eventu die verhängte Strafe herabzusetzen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Erlassung eines Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen sowie eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Gleichzeitig mit der Beschwerde wurde ein E-Mail der Beschwerdeführerin vom 15.03.2020 an die Bezirkshauptmannschaft X sowie ein E-Mail der Amtstierärztin EE vom 16.03.2020 vorgelegt.
Mit Schriftsatz vom 29.05.2020, Zl ***, hat die Bezirkshauptmannschaft Y den Gegenstandsakt mit dem Ersuchen um Entscheidung über die Beschwerde gegen das Straferkenntnis vom 16.04.2020, Zl ***, dem Landesverwaltungsgericht Tirol vorgelegt.
2. Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol:
Auf Ersuchen des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 09.06.2020, Zl ***, wurde von der Bezirkshauptmannschaft Y mit Schreiben (E-Mail) vom 12.06.2020 die Anzeige der PI Z vom 03.04.2020, Zl ***, übermittelt.
Auf Anfrage des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 09.06.2020, Zl ***, hat sich die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 23.06.2020 geäußert und darin im Wesentlichen ausgeführt, dass ihr Pferd „FF“ bei GG in W untergestellt sei und an einer Rehe mit Hufbeinsenkung leide. Das Pferd „FF“ sei deshalb auf die Bewegung an der Hand angewiesen und dürfe nicht auf die Koppel. Die erforderliche tägliche Betreuung obliege ihr [= der Beschwerdeführerin] bzw ihrer Tochter, da die Stallbetreiberin eine solche Verantwortung nicht übernehme. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung wurden die Beilagen betreffend ein Röntgenbild, einen Aufnahmeschein der Pferdeklinik U sowie Lichtbilder der Futterzusätze vorgelegt.
Mit Schriftsatz vom 24.06.2020, Zl ***, ersuchte das Landesverwaltungsgericht Tirol den veterinärfachlichen Amtssachverständigen JJ um Erstellung eines Gutachtens zum Zustand, insbesondere der Verletzungen des Pferdes „FF“ sowie zur Frage, ob eine tägliche Pflege nötig ist, dieses Pferd nicht auf die Koppel darf und daher auf eine Bewegung an der Hand angewiesen ist.
Der veterinärfachliche Amtssachverständige JJ hat sodann mit Schriftsatz vom 02.07.2020, Zl ***, Befund und Gutachten erstattet.
Das Gutachten vom 02.07.2020, ***, wurde der rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde mit Schriftsatz vom 03.07.2020, Zl ***, mit der Möglichkeit zur Äußerung übermittelt.
Mit Schriftsatz vom 07.07.2020 wurde seitens der rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass ihrerseits keine Äußerung zum Gutachten ergehe.
II. Sachverhalt:
1. Allgemeine Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz an der Adresse 1 in Z. Sie ist unbescholten.
Die Stute „FF“, geboren am xx.xx.xxxx, ist in der österreichischen Pferdedatenbank (Equden DB) des Bundesministeriums für Gesundheit unter der UELN-Nummer ***, Chipcode ***, auf die Besitzerin AA, Adresse 1, Z, eingetragen. „FF“ ist im Haltungsbetrieb der GG, Adresse 3, W, eingestellt.
Die Beschwerdeführerin richtete am 15.03.2020 eine Anfrage an die Bezirkshauptmannschaft X, ob die Versorgung und Bewegung des Pferdes „FF“ aufgrund seines Gesundheitszustandes trotz Überschreitung der Gemeindegrenze genehmigt werde. Im Schriftsatz vom 16.03.2020 teilte Amtstierärztin EE, Bezirkshauptmannschaft X, Veterinärangelegenheiten, der Beschwerdeführerin Folgendes mit:
„Sehr geehrte Frau AA,
zu Ihrer Anfrage darf Folgendes mitgeteilt werden:
Wenn Ihr Besuch am Einstellbetrieb aus therapeutischen Gründen (Erkrankung Hufrehe ihres Pferdes) unbedingt erforderlich ist, dürfen Sie unter Beachtung der Vorgabe, dass Personenkontakte möglichst vermieden werden müssen, auf den Einstellbetrieb kommen und kurz mit ihrem Pferd spazieren gehen. Falls dies nicht der Fall ist, da die Pferde gefüttert, betreut und auf die Koppel gelassen werden, ist der Besuch der PferdebesitzerInnen am Einstellbetrieb nicht unbedingt erforderlich und daher laut den geltenden Verkehrsbeschränkungen untersagt.
Mit freundlichen Grüßen
EE“
2. Feststellungen zum Tatvorwurf:
Die Beschwerdeführerin ist mit dem Personenkraftwagen (PKW) mit dem amtlichen Kennzeichen *** am 02.04.2020 um 11:58 Uhr von ihrem Wohnsitz in Z, Adresse 1, über die Bundesstraße B *** durch das Gemeindegebiet V zum Einstellbetrieb des Pferdes „FF“ in W, Adresse 3, gefahren, um das Pferd „FF“ zu versorgen und zu bewegen. Im Gemeindegebiet V bei Straßenkilometer *** wurden Beamte der Polizeiinspektion (PI) Z, die auf der
B *** in Fahrtrichtung Z unterwegs waren, auf das Fahrzeug der Beschwerdeführerin aufmerksam. Am selben Tag um 16:35 Uhr konnte mit der Beschwerdeführerin an deren Wohnsitzadresse seitens der Beamten der PI Z mittels Türsprechanlage Kontakt aufgenommen werden, wobei ihrerseits bestätigt wurde, den PKW mit dem amtlichen Kennzeichen *** zum Tatzeitpunkt gelenkt zu haben. In weiterer Folge wurde die dem Verfahren zu Grunde liegende Anzeige erstattet.
3. Zum Gesundheitszustand des Pferdes „FF“:
Bei der Stute „FF“, geboren am xx.xx.xxxx, UELN-Nummer ***, Chipcode ***, liegt eine chronische Hufrehe mit Hufbeinrotation und Spat vor. Bei diesen Erkrankungen ist eine regelmäßige, kontrollierte und schonende Bewegung des Pferdes auf weichem Untergrund erforderlich. Dies wird durch eine regelmäßige kontrollierte Bewegung an der Hand erreicht. Unkontrollierte bzw unregelmäßige Bewegungen, beispielsweise frei auf der Koppel, führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes.
Der mit der vorliegenden Erkrankung im Zusammenhang stehende erhöhte Betreuungs- und Pflegeaufwand kann vom Einstellbetrieb nicht sichergestellt werden. Die regelmäßige Betreuung und Versorgung der Stute „FF“ durch die Beschwerdeführerin als Tierbesitzerin war erforderlich, um die Entstehung von unnötigem Tierleid zu verhindern.
III. Beweiswürdigung:
Die Wohnadresse der Beschwerdeführerin ist nicht strittig. Die Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich bereits aus dem Straferkenntnis der belangten Behörde vom 16.04.2020, Zl ***.
Die Feststellungen zur Stute „FF“ ergeben sich aus dem Gutachten des veterinärfachlichen Amtssachverständigen JJ vom 02.07.2020. Auch wurde von der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 23.06.2020 festgehalten, dass ihr Pferd im Haltungsbetrieb GG eingestellt ist.
Der Schriftverkehr zwischen der Beschwerdeführerin und Frau EE ist Bestandteil des behördlichen Aktes und ist insoweit unstrittig.
Die Feststellungen zum Tatort, Tatzeitpunkt und Tathergang ergeben sich aus den Anzeigen der PI Z vom 03.04.2020, Zl ***, *** und ***. Dass die Beschwerdeführerin im Tatzeitpunkt in Fahrtrichtung W unterwegs war, ergibt sich einerseits aus den genannten Anzeigen und wies die Beschwerdeführerin in ihrem Rechtsmittel ausdrücklich darauf hin.
Die Feststellungen zu Punkt 3. ergeben sich aus den nachvollziehbaren und schlüssigen Angaben des Amtssachverständigen JJ im Gutachten vom 02.07.2020, Zl ***. Dieser hat ausführlich dargelegt, welche Betreuungs- und Pflegemaßnahmen im Zusammenhang mit den vorliegenden Erkrankungen notwendig sind und dass diese ausschließlich durch die Tierbesitzerin wahrgenommen werden können.
IV. Rechtslage:
1. Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz):
Die entscheidungswesentlichen Bestimmungen des COVID-19-Maßnahmengesetzes,
BGBl I Nr 12/2020, lauten samt Überschriften auszugsweise wie folgt:
„Betreten von bestimmten Orten
§ 2. Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Die Verordnung ist
1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,
2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder
3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken.“
„Strafbestimmungen
§ 3. […]
(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß § 2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.“
Verordnung des Landeshauptmannes nach § 2 Z 2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes:
Die entscheidungswesentlichen Bestimmungen der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020 nach § 2 Z 2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 35/2020, lauten auszugsweise wie folgt:
„§ 3
(1) Die Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet werden verboten.
(2) Abs. 1 gilt nicht für:
[…]
d) Fahrten aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinn des § 4 Abs. 5.
[…]“
„§ 4
(1) Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes (§ 2 Abs 6) ist verboten.
(2) Ausgenommen vom Verbot nach Abs. 1 ist das Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen. Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist dabei auf ein zeitlich und örtlich unbedingt notwendiges Minimum zu beschränken.
(3) Ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist, abgesehen von Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, gegenüber anderen Personen ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Bei der Benützung von Kraftfahrzeugen zu nicht privaten Zwecken, die außer dem Lenkplatz Plätze für mehr als vier Personen aufweisen, oder bei Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen einzuhalten.
(4) Beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen ist das Überschreiten der Grenze des jeweiligen Gemeindegebietes verboten. Ein Übertreten der Grenzen des Gemeindegebietes zu dem im § 3 Abs 2 lit. d genannten Zweck ist nur dann zulässig, wenn nachweislich die Grundbedürfnisse nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden können. Dies ist im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
(5) Triftige Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen, die ein Verlassen des eigenen Wohnsitzes rechtfertigen, sind die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z.B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen, Therapie), sonstige Handlungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse (z.B. Lebensmitteleinkauf, Gang zur Apotheke oder zum Geldautomat, Besuch bei Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem jeweiligen privaten Bereich) und Handlungen zur Versorgung von Tieren. Diese triftigen Gründe sind im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.“
„§ 6
Wer dieser Verordnung zuwiderhandelt, begeht gemäß § 3 Abs. 3 COVID-19-Maßnahmengesetz eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von bis zu 3.600,- Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu vier Wochen, zu bestrafen.“
2. Verwaltungsstrafgesetz 1991:
Die entscheidungswesentliche Bestimmung des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 (VStG), BGBl Nr 52/1991 in der Fassung BGBl I Nr 33/2013, lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 45. (1) Die Behörde hat von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn
1. die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine Verwaltungsübertretung bildet;
2. der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat oder Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit aufheben oder ausschließen;
3. Umstände vorliegen, die die Verfolgung ausschließen;
4. die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat und das Verschulden des Beschuldigten gering sind;
5. die Strafverfolgung nicht möglich ist;
6. die Strafverfolgung einen Aufwand verursachen würde, der gemessen an der Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und der Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat unverhältnismäßig wäre.
Anstatt die Einstellung zu verfügen, kann die Behörde dem Beschuldigten im Fall der Z 4 unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens mit Bescheid eine Ermahnung erteilen, wenn dies geboten erscheint, um ihn von der Begehung strafbarer Handlungen gleicher Art abzuhalten.
[…].“
3. Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz:
Die entscheidungswesentlichen Bestimmungen des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG), BGBl I Nr 33/2013 in den Fassungen BGBl I Nr 24/2017 (§ 44) und BGBl I Nr 57/2018 (§§ 50 und 52), lauten auszugsweise samt Überschriften wie folgt:
„Verhandlung
§ 44. […]
(2) Die Verhandlung entfällt, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
[…].“
„Erkenntnisse
§ 50. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen und das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden.
[…].“
„Kosten
§ 52. […]
(8) Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind dem Beschwerdeführer nicht aufzuerlegen, wenn der Beschwerde auch nur teilweise Folge gegeben worden ist.
[…].“
V. Erwägungen:
1. Zur Rechtzeitigkeit der Beschwerde:
Gemäß § 7 Abs 4 VwGVG beträgt die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen einen Bescheid einer Behörde vier Wochen.
Das angefochtene Straferkenntnis wurde der Beschwerdeführerin am 06.05.2020 zugestellt. Die dagegen erhobene Beschwerde ist am 29.05.2020 und damit innerhalb der vierwöchigen Beschwerdefrist bei der Bezirkshauptmannschaft Y eingelangt.
2. In der Sache:
Gemäß § 4 Abs 1 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, ist das Verlassen des eigenen Wohnsitzes verboten. Ausgenommen von diesem Verbot ist nach Abs 2 der zitierten Verordnung das Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen, wobei das Verlassen des Wohnsitzes dabei auf ein zeitlich und örtlich unbedingt notwendiges Minimum zu beschränken ist. Nach
§ 4 Abs 4 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, ist beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen das Überschreiten der Grenze des jeweiligen Gemeindegebietes verboten. Ein Übertreten der Grenzen des Gemeindegebietes für Fahrten aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinne des § 4 Abs 5 der Verordnung des Landes-hauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020 (§ 3 Abs 2 lit d der zitierten Verordnung) ist nur dann zulässig, wenn nachweislich die Grundbedürfnisse nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden können.
Aus § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, ergibt sich, dass unter anderem Handlungen zur Versorgung von Tieren als triftiger Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen angesehen wird.
Die belangte Behörde hat der Beschwerdeführerin im angefochtenen Straferkenntnis einen Verstoß gegen die Bestimmung des § 4 Abs 4 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, zur Last gelegt. Die Bezirkshauptmannschaft Y ging davon aus, dass die Grundbedürfnisse innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes (hier: Z) gedeckt werden können und somit die Überschreitung der Gemeindegrenze nach V bzw W unzulässig war. Demgegenüber hat die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin vorgebracht, die Betreuung und Versorgung ihrer gesundheitlich beeinträchtigten Stute „FF“ stelle einen triftigen Grund gemäß § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, dar.
Dazu hält das Landesverwaltungsgericht Folgendes fest:
Die Beschwerdeführerin ist am 02.04.2020 um 11:58 Uhr mit dem PKW mit dem amtlichen Kennzeichen *** von ihrem Wohnsitz in Z, Adresse 1, über die B *** nach W zum Einstellbetrieb GG gefahren, um die Stute „FF“ zu betreuen. Dadurch hat sie die Grenze des Gemeindegebietes Z verlassen und somit gegen die Bestimmung des § 4 Abs 4 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, verstoßen. Allerdings kommt im gegenständlichen Fall der Ausnahmetatbestand des § 4 Abs 5 der zitierten Verordnung zum Tragen.
Die Beschwerdeführerin hat am 15.03.2020, sohin vor Inkrafttreten der in Rede stehenden Verordnung, Erkundigungen dahingehend angestellt, ob die Überschreitung der Gemeindegrenze zur Versorgung ihrer Stute zulässig ist. In diesem Zusammenhang wurde ihr seitens der Bezirkshauptmannschaft X die Auskunft erteilt, dass ein Besuch am Einstellbetrieb aus therapeutischen Gründen erlaubt sei, sofern dies unbedingt erforderlich ist und im Übrigen der Kontakt mit anderen Personen vermieden werde. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass ein Besuch am Einstellbetrieb nicht unbedingt erforderlich und daher untersagt sei, wenn die Pferde gefüttert, betreut und auf die Koppel gelassen werden.
Im gegenständlichen Fall war die ordnungsgemäße Betreuung und Pflege der Stute „FF“ aufgrund deren Krankheitsbild persönlich durch die Beschwerdeführerin als Tierbesitzerin erforderlich.
Sohin stellte die Versorgung und Betreuung der Stute „FF“ einen triftigen Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinne des § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, dar, zumal diese Bestimmung ausdrücklich „Handlungen zur Versorgung von Tieren“ als solchen triftigen Grund nennt und die Versorgung überdies zur Förderung des Tierwohls unbedingt erforderlich war. Im Übrigen konnte dieses Grundbedürfnis nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden, da die Stute „FF“ außerhalb der Wohnsitzgemeinde der Beschwerdeführerin eingestellt ist. Insofern liegt der Ausnahmetatbestand des § 4 Abs 4 zweiter Satz iVm § 3 Abs 2 lit d it iVm § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, vor.
Folglich hat die Beschwerdeführerin die Rechtsvorschrift des § 4 Abs 4 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, nicht verletzt und damit die ihr mit dem angefochtenen Straferkenntnis zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen.
Insofern ist auf das weitere Beschwerdevorbringen nicht näher einzugehen.
3. Entfall der mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 44 Abs 2 VwGVG konnte die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung entfallen, da – ausgehend von der Aktenlage – das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben war.
4. Ergebnis:
Da die Versorgung der Stute „FF“ durch die Beschwerdeführerin als triftiger Grund zur Deckung der Grundbedürfnisse nachweislich nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden konnte, ist der Ausnahmetatbestand nach § 4 Abs 4 zweiter Satz iVm § 3 Abs 2 lit d iVm § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, erfüllt und liegt somit keine Verwaltungsübertretung nach dem Verbot der Überschreitung der Grenze des Gemeindegebietes im Sinne des § 4 Abs 4 der genannten Verordnung vor. Folglich war das angefochtene Straferkenntnis samt Kostenspruch zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG einzustellen. Dementsprechend lautet Spruchpunkt 1. des gegenständlichen Erkenntnisses.
Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte ? wie bereits erörtert ? gemäß § 44 Abs 2 VwGVG entfallen.
VI. Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:
Das Landesverwaltungsgericht hatte im gegenständlichen Fall zu prüfen, ob das Überschreiten der Grenze des Gemeindegebietes beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen verboten war. Die für das Beschwerdeverfahren maßgebliche Frage der Erfüllung des Ausnahmetatbestandes im Sinne des § 4 Abs 5 der Verordnung des Landeshauptmannes vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, konnte anhand der zitierten Bestimmung ohne weiteres geklärt werden. Da die Rechtslage nach der in Betracht kommenden Norm eindeutig ist, liegt keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, selbst wenn zur anzuwendenden Norm noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergangen ist (VwGH 30.08.2019,
Ra 2019/17/0035). Das Landesverwaltungsgericht erklärt daher die ordentliche Revision für nicht zulässig (vgl Spruchpunkt 2. des gegenständlichen Erkenntnisses).
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Gegen diese Entscheidung kann binnen sechs Wochen ab der Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, Freyung 8, 1010 Wien, oder außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist direkt bei diesem, die außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof ist beim Landesverwaltungsgericht Tirol einzubringen.
Die genannten Rechtsmittel sind von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw einer bevollmächtigten Rechtsanwältin abzufassen und einzubringen und es ist eine Eingabegebühr von Euro 240,00 zu entrichten.
Es besteht die Möglichkeit, für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof und für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof Verfahrenshilfe zu beantragen. Verfahrenshilfe ist zur Gänze oder zum Teil zu bewilligen, wenn die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten bzw wenn die zur Führung des Verfahrens erforderlichen Mittel weder von der Partei noch von den an der Führung des Verfahrens wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.
Der Antrag auf Verfahrenshilfe ist innerhalb der oben angeführten Frist für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof beim Verfassungsgerichtshof und für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof beim Verwaltungsgerichtshof einzubringen. Im Antrag an den Verwaltungsgerichtshof ist, soweit dies dem Antragsteller zumutbar ist, kurz zu begründen, warum entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.
Zudem besteht die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht mehr erhoben werden können.
Landesverwaltungsgericht Tirol
Dr. Hirn
(Richter)
Schlagworte
triftiger Grund;European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGTI:2020:LVwG.2020.37.1048.7Zuletzt aktualisiert am
19.08.2020