TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/22 L519 2206415-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.07.2019
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Entscheidungsdatum

22.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L519 2206415-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA. Mag. VELIBEYOGLU, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 31.8.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.11.2018 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als "BF" bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, brachte am 16.3.2018 bei der belangten Behörde einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF im Wesentlichen vor, er sei Anhänger der Gülenbewegung und habe Angst, in der Türkei festgenommen zu werden.

Beim BFA gab der BF zusammengefasst an, er sei als Student nach Österreich eingereist. Aufgrund seiner Tätigkeit für die Vereine XXXX und die Onlinezeitung XXXX , welche alle ein Naheverhältnis zur Gülenbewegung aufweisen, seien die Daten des BF an die Türkei weitergeleitet worden. Der BF unterstütze auch die Hilfsorganisation " XXXX " Aus diesen Gründen und weil der Aufenthaltstitel des BF nicht verlängert wurde, sei er gezwungen gewesen, einen Asylantrag zu stellen. Es sei auch versucht worden, das Elternhaus des BF in der Türkei zu durchsuchen.

I.2. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des BF in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

I.2.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus:

Der BF brachte vor, nicht mehr in die Türkei zurückkehren zu wollen, weil ihm dort eine Verfolgung durch das Regime des Präsidenten Erdogan drohen würde. Die Verfolgungen würden darauf basieren, dass der BF Anhänger der Gülenbewegung sei und sich in Österreich für die Vereine XXXX und die Onlinezeitung XXXX engagiere. Der BF befürchte, in der Türkei ohne Gerichtsverfahren verurteilt zu werden.

Der angegebene Sachverhalt werde in Zweifel gezogen, da die Behauptungen lediglich allgemein in den Raum gestellt wurden, ohne dass sie belegt wurden oder durch konkrete Anhaltspunkte glaubhaft gemacht wurden.

Diese Ansicht der belangten Behörde werde aufgrund von Ungereimtheiten bestätigt. Dazu sei auszuführen, dass der BF bei der Erstbefragung angab, dass sein 1948 geborener Vater nachwievor in der Türkei lebt. Beim BFA gab er hingegen an, der Vater sei 2017 verstorben. Wenn der BF nicht einmal bei den persönlichen Daten bei der Wahrheit blieb, könne umso weniger davon ausgegangen werden, dass die übrigen Angaben wahrheitsgemäß sind. Von einem Akademiker wäre wohl zu erwarten, dass dieser immer gleiche Angaben zu den familiären Verhältnissen machen kann. Vielmehr gehe das BFA davon aus, dass der BF den Tod des Vaters im Asylverfahren verspätet vorgebracht hat, um die Gefahr, die seiner Person in der Türkei drohen soll, hinreichend aufzuzeigen (......"ich konnte nicht einmal an der Beerdigung meines Vaters teilnehmen. Mir wird die Nähe zur Gülenbewegung unterstellt".....).

Gegen die Glaubwürdigkeit einer drohenden politischen Verfolgung in der Türkei spricht auch der Umstand, dass dem BF im Juli 2016 ein weiterer türkischer Reisepass ausgestellt wurde. Wie den Länderfeststellungen zu entnehmen ist, gewann Präsident Erdogan, der zuvor 12 Jahre lang Premierminister war, am 10.8.2014 die erstmals direkte Präsidentschaftwahl, bei der auch zum 1. Mal im Ausland lebende türkische Staatsangehörige an nationalen Wahlen teilnahmen. Laut Angaben des BF sei er seit 2009 Gülenanhänger. Den Beginn seiner Probleme hatte der BF auf 2013 datiert, wobei er gleichzeitig einräumte, dass er bis einschließlich 2015 problemlos in die Türkei einreisen konnte. Der gescheiterte Putschversuch fand am 15.7.2016 statt. Bereits seit 2014 war Erdogan türkischer Präsident.

Eine Abfrage auf der Internetsuchmaschine Google zum Thema Gülenbewegung habe Folgendes erbracht:

".......Die Gülenbewegung war mit Erdogans AKP lange Zeit verbündet, seit 2012 liegt sie mit ihr im Zwist. Dabei veränderte sich das Verhältnis bereits seit 2010. Gülen kritisierte im Wall Street Journal eine Aktion des Erdoganlagers. Ein Ableger der Milli-Görüs-Bewegung hatte eine Hilfsflotte für Gaza organisiert, deren Schiffe Israels Gaza-Blockade brechen sollten. Dabei wurden 9 Türken von einem israelischen Kommando erschossen. Als Erdogan 2012 mehrere Gülenisten aus Spitzenfunktionen entließ, konterte Gülen mit einer höchst umstrittenen Videobotschaft: "Wenn sie eure Häuser schließen, öffnet Wohnheime. Wenn sie eure Wohnheime schließen, öffnet eure Häuser. Wenn sie eure Schulen schließen, gründet eine Universität. Wenn sie eure Universität schließen, gründet 10 neue Schulen. Ihr dürft nie aufhören, zu marschieren." Neue internationale Aufmerksamkeit erfuhr die Bewegung im Korruptionsskandal 2013, in dem Erdogan und unter anderem einer seiner Söhne, verwickelt sein sollen. Erdogan wies die Vorwürfe entgegen vorliegender Belege von sich und beschuldigte die Gülenbewegung, eine Schmutzkampagne gegen ihn zu führen. Am 25.6.2014 wies die Zentrale der Polizei ihre Dienststellen an, zu untersuchen, ob die Hizmetbewegung einen bewaffneten Arm unterhält. Das Parlament beschloss mit einer deutlichen Mehrheit von 226 zu 22 Stimmen, im Sommer 2015 etwa 4.000 Gülenschulen zu schließen........"

Dies verdeutliche, dass im Erdoganregime bereits vor dem Jahr 2016 aktiv gegen Gülenanhänger vorgegangen wurde. Dennoch wurde dem BF kurz nach dem Staatsstreich ein neuer türkischer Reisepass ausgestellt. Diese Vorgehensweise spreche keinesfalls dafür, dass der BF in der Türkei seit mehreren Jahren als Regimefeind galt.

Bei XXXX handle es sich um eine in Österreich ins Leben gerufene Internetzeitung (Medien: Der türkische Journalist XXXX hat in Österreich Asyl beantragt. Gemeinsam mit anderen Journalisten und Autoren haben sie den Verein XXXX gegründet und vor einigen Tagen die Nachrichtenseite XXXX ins Leben gerufen. Vorerst erscheinen die Berichte nur in türkischer Sprache. XXXX zufolge soll die Onlinenachrichtenseite ein Plattform für arbeitslose und von der türkischen Regierung verfolgte Journalisten bieten, die hier jene Texte schreiben, die sonst nicht in regierungstreuen Medien veröffentlicht würden. Diese Seite soll über Spenden finanziert werden. (Quelle: XXXX XXXX ).

Der BF sei vor dem Verlassen der Türkei kein Journalist gewesen. Aus dem vorgelegten Vereinsregisterauszug gehe auch nicht hervor, dass der BF im Verein XXXX eine Funktion habe. Beim Verein XXXX sei der BF seit 13.8.2017 als Schriftführer eingetragen. Zu den Aktivitäten des BF in (türkischen) Vereinen, die in Österreich existieren, sei festzuhalten, dass nach gängiger Spruchpraxis zu den exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils unter anderem die mit einer schlichten Vereinsmitgliedschaft verbundene regelmäßige Bezahlung von Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden, schlichte Teilnahme an Demonstrationen, Ordnertätigkeit bei Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminare, Verteilung von Flugblättern und Verkauf von Zeitschriften, Helfertätigkeit bei Informations- und Bücherständen, Platzierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitschriften zählen. Es mangle in bezug auf die Person des BF in jedem Fall an einer herausragenden führenden Tätigkeit innerhalb der in Österreich bestehenden Vereine, um hier einen tatsächlichen Nachfluchtgrund entstehen zu lassen.

Letztendlich sei berücksichtigt worden, dass der BF laut seinen Angaben nie in illegale Handlungen, die im Namen der Gülenbewegung gesetzt wurden bzw. werden, verwickelt war. Dass er daher im Fall einer Rückkehr mit staatlichen Verfolgungshandlungen zu rechnen hätte, werde als unwahrscheinlich erachtet.

Letztlich sei zu berücksichtigen gewesen, dass sich der BF seit Anfang 2011 in Österreich aufhält, den Antrag auf internationalen Schutz jedoch erst am 16.3.2018 beim BFA eingebracht wurde. Für dieses Zögern habe der BF keine plausible Erklärung abgeben können: "......Bis zum Jahr 2013 bestanden die Probleme nicht. Außerdem hatte ich den Aufenthaltstitel bis 2018...."). Auch aus diesem Grund sei unwahrscheinlich, dass der BF in der Türkei Verfolgungshandlungen zu befürchten hätte, weil er diesfalls sicherlich unmittelbar nach der Einreise, spätestens aber 2016 in Österreich um Asyl angesucht hätte.

Bei genauer Betrachtung des Vorbringens des BF und Analyse desselben werde verdeutlicht, dass der BF den ggst. Antrag offensichtlich nur deshalb gestellt hat, um weiterhin in Österreich ein Aufenthaltsrecht zu haben.

I.2.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

I.2.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam.

Es hätten sich weiter keine Hinweise für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK (§§ 55, 10 Abs. 2 AsylG 2005) dar.

I.3. Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde neben Wiederholungen und allgemeinen Angaben vorgebracht, dass dem BF keine Gelegenheit gegeben wurde, zum 33-seitigen Länderbericht Stellung zu nehmen. Dieser sei dem BF nie vorgelegt worden.

Der BF habe umfangreiches Beweismaterial für sein Vorbringen vorgelegt, welche seine Aktivitäten in den diversen Vereinen belegen. Zudem habe er bei allen Befragungen einen glaubhaften Eindruck hinterlassen. Dass der BF nicht zum Begäbnis des Vaters reisen konnte, belege lediglich die ihm drohende Verfolgung. Da der BF seit 2012 ein Studentenvisum hatte, habe keine Veranlassung für einen Asylantrag bestanden.

Die belangte Behörde habe sich mit dem Vorbringen des BF nicht hinreichend auseinandergesetzt. Nicht alle Gülenanhänger seien auf einmal auf der schwarzen Liste gestanden, es sei schrittweise vorgegangen worden.

Nicht richtig sei, dass der BF bei den Vereinen nur eine untergeordnete Rolle spielt. So sei er bei XXXX Gründungsmitglied.

Der BF hatte bis 16.3.2018 keinen Grund um Asyl anzusuchen, da er bis dahin einen Aufenthaltstitel "Studierender" hatte.

I.4. Für den 19.11.2018 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung, an der der BF teilnahm.

I.5. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

II.1.1. Der Beschwerdeführer:

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, welcher zur Volksgruppe der Türken gehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Der BF ist damit Drittstaatsangehöriger.

Der BF ist ein lediger, junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann mit einer in der Türkei - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

Der BF wurde in XXXX geboren und lebte zuletzt in XXXX . Er hat in der Türkei 12 Jahre die Schule und 2 Jahre die Universität besucht. Er spricht laut eigener Angabe neben Türkisch auch Englisch und Deutsch auf B2 Niveau. Ein Sprachdiplom hat der BF nie vorgelegt.

Der BF reiste am 1.2.2011 legal in das Bundesgebiet ein. Von 11.3.2011 bis 11.3.2018 war er im Besitz von Aufenthaltsbewilligungen (Aufenthaltszweck: Studierender). Ein weiterer Verlängerungsantrag wurde vom BF nicht gestellt. Er studiert in Österreich laut eigener Angabe Architektur.

In der Türkei leben nach wie vor die Mutter des BF in XXXX in ihrem Haus und 1 Schwester in XXXX in einer Eigentumswohnung sowie 1 Schwester und 2 Brüder in Mietwohnungen in XXXX .

Der BF ist in Österreich strafrechtlich bislang unbescholten.

Der BF hat keine familiären oder relevanten privaten Anknüpfungspunkte in Österreich.

Die Identität des BF steht fest.

Der BF hält sich lediglich aufgrund der Bestimmungen des Asylgesetzes vorübergehend legal in Österreich auf und besteht kein Aufenthaltsrecht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 12.2.2018, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 6. Folter und unmenschliche Behandlung, 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet, 13.1. Opposition, 16. Religionsfreiheit)

In einer Resolution zur Menschenrechtslage in der Türkei erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär derzeit als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Das EP ist zutiefst beunruhigt darüber, dass sich die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei stetig verschlechtert und dass es der Justiz an Unabhängigkeit mangelt. Das EP verurteilt, dass Justiz und Verwaltung Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen machen, um Zehntausende zu verfolgen und fordert die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen. Das EP fordert, dass in der Türkei der Ausnahmezustand aufgehoben und die Notstandsdekrete zurückgenommen werden, und die türkische Regierung im Sinne der Rechtsstaatlichkeit allen Personen, die restriktiven Maßnahmen ausgesetzt waren, die Gelegenheit gibt, geeignete und wirksame Rechtsbehelfe einzulegen, wobei hierbei die Unschuldsvermutung ein Grundprinzip ist. Das EP fordert die Türkei auf, die "Untersuchungskommission zu Notstandsverfahren" so rasch wie möglich zu reformieren, damit diese zu einer soliden und unabhängigen Kommission wird, die in der Lage ist, alle Fälle einzeln zu behandeln, die überaus große Anzahl von Anträgen, die sie erhält, wirksam zu bearbeiten und sicherzustellen, dass die juristische Überprüfung nicht unangemessen verzögert wird. Die Entscheidungen der Kommission sind öffentlich zugänglich zu machen. Das EP bekräftigt, dass die allgemein gefassten türkischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung nicht dafür genutzt werden sollten, Bürger und die Medien dafür zu bestrafen, dass sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben und verurteilt in diesem Zusammenhang, dass mindestens 148 wissenschaftliche Mitarbeiter öffentlicher und privater Universitäten in XXXX , die die Petition "Akademiker für den Frieden" unterzeichnet hatten, verhaftet und vor Gericht gestellt wurden. Das EP verurteilt ebenso die jüngsten Festnahmen von Journalisten, Aktivisten, Ärzten und gewöhnlichen Bürgern, die sich kritisch über den türkischen Militäreinsatz in Afrin äußerten und ist zutiefst beunruhigt über die humanitären Folgen des Militäreinsatzes.

Das EP zeigt sich zutiefst beunruhigt über Berichte, wonach Häftlinge misshandelt und gefoltert worden sind, und fordert die türkischen Staatsorgane auf, diese Vorwürfe sorgfältig zu prüfen. Das EP fordert erneut die Veröffentlichung des Berichts des Ausschusses zur Verhütung von Folter des Europarates ("CPT-Bericht").

Das EP verurteilt den Beschluss des türkischen Parlaments auf das Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben, wodurch der Weg für die kürzlich erfolgte Festnahme von zehn Mitgliedern der Opposition - darunter die beiden Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) - bereitet und sechs Mitgliedern der Opposition das Mandat aberkannt wurde. Es verurteilt die Inhaftierung von 68 kurdischen Bürgermeistern und die willkürliche Absetzung gewählter Kommunalvertreter, wodurch die demokratische Struktur der Türkei weiter ausgehöhlt wird. Das EP fordert nachdrücklich die sofortige und bedingungslose Freilassung all derjenigen, die ohne Vorliegen irgendwelcher Beweise in Gewahrsam gehalten werden.

Das EP ist zutiefst beunruhigt über die Missachtung der Religionsfreiheit, die sich etwa in der zunehmenden Diskriminierung von Christen und sonstigen religiösen Minderheiten äußert.

Das EP hegt angesichts der Entscheidung des Istanbuler Strafgerichts, die beiden Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay nicht aus der Haft zu entlassen, obwohl das Verfassungsgericht ihre Freilassung mit der Begründung angeordnet hatte, in der Haft seien ihre Rechte verletzt worden, schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Funktionsweise des Justizsystems in der Türkei (EP 8.2.2018).

Das türkische Außenministerium wies die Resolution des Europäischen Parlaments zurück und vermeldete, dass die Resolution weit davon entfernt sei, die gegenwärtigen Bedingungen zu verstehen, mit denen die Türkei konfrontiert ist. Die Türkei würde die Resolution als "null und nichtig" betrachten (HDN 9.2.2018).

Quellen:

- EP - Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2018-0040+0+DOC+PDF+V0//DE, Zugriff 12.2.2018

- HDN - Hürriyet Daily News (9.2.2018): European Parliament's 'rights in Turkey' resolution null and void: Turkish Foreign Ministry, http://www.hurriyetdailynews.com/european-parliaments-rights-in-turkey-resolution-null-and-void-turkish-foreign-ministry-127039, Zugriff 12.2.2018

KI vom 29.1.2018, Festnahmen wegen Kritik an der türkischen Militäroperation in Syrien (relevant für Abschnitt: 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet)

Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG kritisiert haben, die Ankara als Bedrohung für die Grenzsicherheit sieht. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erlässt direkt Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilen, wird eine Untersuchung eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige werden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (AA 27.1.2018).

Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Désir, forderte am 26.1.2018 die türkischen Behörden auf, die Terrorismusanklagen gegen Journalisten fallen zu lassen und diese freizulassen. Désir äußerte auch seine Besorgnis über die Anweisungen für die Berichterstattung über die Militäraktionen in der Region Afrin, die Redakteuren und Reportern bei einer Pressekonferenz seitens des Premierministers Binali Yildirim, des stellvertretenden Premierministers Bekir Bozdag und Verteidigungsministers Nurettin Canikli erteilt wurden. Désir erinnerte daran, dass Journalisten nicht zum Inhalt instruiert werden sollten und dass die Pressefreiheit jederzeit geachtet werden muss. Es sei die Aufgabe eines Journalisten, unterschiedliche Ansichten zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu informieren, auch wenn der Inhalt Kritik enthält (OSCE 26.1.2018).

Quellen:

- Ahval (26.1.2018): Turkey asks Twitter, Facebook, YouTube to remove posts on Afrin op, https://ahvalnews.com/freedom-speech/turkey-asks-twitter-facebook-youtube-remove-posts-afrin-op, Zugriff 29.1.2018

- AA - Anadolu Agency (27.1.2018): Turkey remands 16 for PYD/PKK promotion on social media, http://aa.com.tr/en/turkey/turkey-remands-16-for-pyd-pkk-promotion-on-social-media/1044501, Zugriff 29.1.2018

- DS - Daily Sabah (21.1.2018): Anyone who opposes Turkey's Afrin op will be siding with terrorists: FM Çavusoglu, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2018/01/21/anyone-who-opposes-turkeys-afrin-op-will-be-siding-with-terrorists-fm-cavusoglu, Zugriff 29.1.2018

- OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (26.1.2018): OSCE media freedom representative calls on Turkey to release detained journalists and respect everyone's right to express ideas freely, http://www.osce.org/fom/368261, Zugriff 29.1.2018

- Der Standard (23.1.2018): Feldzug gegen Kurden: Kein Platz für Kritiker bei Erdogans Krieg, https://derstandard.at/2000072760808/Kurdenmiliz-Tuerkische-Armee-bombardiert-Doerfer-in-Syrien?ref=rec, Zugriff 29.1.2018

KI vom 11.1.2018, Notstandsdekret Nr.696 - Straffreiheit von Zivilpersonen bei Gewalttaten zur Putschverhinderung _Verlängerung des Ausnahmezustandes (relevant für Abschnitt: 4. Rechtsschutz/Justizwesen)

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht. Das Notstandsdekret befasst sich unter anderem mit der Straffreiheit von Zivilisten, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Konkret heißt es unter Artikel 121, dass das Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt wird, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017).

Das aktuelle Dekret Nr.696 löste jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Es stellt alle Misshandlungen der Putschnacht und alle weiteren Folterhandlungen, die im Zusammenhang mit der Putschnacht stehen, von der Strafverfolgung frei. Kritiker sprechen von einer Generalamnestie und befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste, da im Dekret nicht präzisiert sei, für welchen Zeitraum diese "Straffreiheit" gelten solle. Da der Begriff des "Terrors" in der Türkei so weitgefasst und vage sei, könne ein Bürger, der einen umstürzlerischen Geist wittert und eigenmächtig zur Tat schreitet, nun vor Gericht als Widerstandskämpfer durchgehen. Rechtsanwälte und Juristen, die sich zum Dekret positioniert haben, erklärten, dass vor allem der Zusatz "in diesem Zusammenhang nachfolgende Ereignisse" problematisch sei (FNS 31.12.2017). Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

Der Europarat prüfe laut Direktor für Kommunikation, Daniel Holtgen, derzeit die jüngsten Notstandsverordnungen (nebst Dekret 696 auch Dekret 695) der türkischen Regierung. Das Gremium überwache, ob die neuesten Notstandsverordnungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar seien (HDN 28.12.2017).

Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde (Anadolu 8.1.2018). Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte eingeschränkt und die Notstandsdekrete sind nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar (Standard 8.1.2018).

Quellen:

- AA - Anadolu Agency (8.1.2018): State of emergency to be extended 'once again', http://aa.com.tr/en/todays-headlines/state-of-emergency-to-be-extended-once-again/1025440, Zugriff 11.1.2018

- FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://bit.ly/2CaXijh, Zugriff 11.1.2018

- HDN - Hürriyet Daily News (28.12.2017): CoE examining latest decree laws, likely to ask for information from Ankara: Official, http://www.hurriyetdailynews.com/coe-examining-latest-decree-laws-likely-to-ask-for-information-from-ankara-official-124923, Zugriff 11.1.2018

- Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696, Zugriff 11.1.2018

- Der Standard (8.1.2018): Ausnahmezustand in der Türkei soll zum sechsten Mal verlängert werden, https://derstandard.at/2000071713337/Ausnahmezustand-in-der-Tuerkei-soll-zum-sechsten-Mal-verlaengert-werden?ref=rss, Zugriff 11.1.2018

KI vom 29.11.2017, Stand der Verhaftungen (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage).

Das türkische Innenministerium teilte am 27.11.2017 mit, dass im November 2.589 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen wurden, wodurch sich die Gesamtzahl der im Zeitraum Oktober-November inhaftierten Personen auf 5.747 erhöht hat. Innenminister Süleyman Soylu veranschlagte am 16.11.2017 die Gesamtzahl der Inhaftierten mit 48.739. Soylu sagte auch, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden. Die türkischen Behörden glauben, dass ByLock ein Kommunikationsmittel unter den Anhängern der Gülen-Gruppe ist (TM 27.11.2017). Die regierungskritische Website, Turkey Purge, zählte allerdings bereits am 3.11.2017 rund 61.250 Inhaftierungen nebst rund 129.000 Verhaftungen sowie 146.700 Entlassungen seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 (TP 3.11.2017).

Ein Staatsanwalt in XXXX hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 29.11.2017 in einer landesweiten Operation Haftbefehle gegen 360 mutmaßliche Gülen-Mitglieder in den Streitkräften erlassen (Anadolu 29.11.2017).

Quellen:

- Anadolu Agency (29.11.2017): Turkey issues arrest warrants for FETO suspects, http://aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-issues-arrest-warrants-for-feto-suspects/984501, Zugriff 29.11.2017

- Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to-6000-over-gulen-links-in-last-two-months/, Zugriff 29.11.2017

- Turkish Purge (3.11.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 29.11.2017

KI vom 23.10.2017, Intervention des Menschenrechtskommissar des Europarates zur Festnahme von Journalisten und Meinungsfreiheit (relevant für Abschnitt: 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet)

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Mui?nieks, hat sich in einem laufenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg für die Freilassung in Untersuchungshaft gehaltenen Journalisten in der Türkei stark gemacht. Die Haftentscheidungen nannte er "willkürlich und unverständlich" (Der Standard 19.10.2017).

Das fortdauernde Muster von Verletzungen der Meinungsfreiheit aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung durch die Gerichte erfüllen laut Mui?nieks nicht die in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Normen. Sowohl der Kommissar als auch sein Vorgänger haben bereits mehrfach die weitverbreiteten Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei hervorgehoben, unterstrichen durch den Umstand, dass die Türkei Gegenstand der höchsten Zahl von Urteilen des Gerichtshofs zu Artikel 10 der Konvention ist. Der Kommissar stellte fest, dass die Mehrzahl der Strafverfahren gegen Journalisten auf der Grundlage unbegründeter Vorwürfe und ohne sachliche Beweise außer ihrer rein journalistischen Tätigkeit eingeleitet wurde. Der Kommissar zeigte sich betroffen von der mangelnden Berücksichtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei der Beurteilung durch das Gericht und überdies von der offensichtlich unplausiblen Einschätzung, wonach die Angeklagten zugleich sowohl Propaganda für die Gülen-Bewegung als auch für die PKK betrieben hätten, zwei Organisationen, die in Gegnerschaft zu einander stehen. Zudem fehlten sachliche Beweise, die irgendeinen Zusammenhang zwischen den Verdächtigen und diesen Organisationen herstellen, abgesehen von kritischen Zeitungsartikeln zu Fragen, die von öffentlichem Interesse sind. Generell stellte der Kommissar fest, dass die Maßnahmen, die mit Freiheitsentzug gegen Journalisten verbunden sind, nicht nur ungerechtfertigt und unverhältnismäßig waren, sondern auch zu einem Klima der Selbstzensur beitragen, nämlich für jeden investigativen Journalisten, der Recherchen betreibt und über das Verhalten und Handeln staatlicher Stellen berichtet. Der Kommissar stellte fest, dass die Anwendung restriktiver Maßnahmen gegen Journalisten und Journalistinnen sowie Menschenrechtsanwälte während des Ausnahmezustands dramatisch zugenommen hat, obwohl sich die Rechtsgrundlage für die Untersuchungshaft nicht geändert hat. Mui?nieks nahm erneut mit Bedauern zur Kenntnis, dass die Journalisten in den meisten Fällen auf der Grundlage fadenscheiniger Anschuldigungen und mit sehr wenig oder gar keinem Prima-Facie-Beweis festgenommen wurden (CoE-CommDH 10.10.2017).

Rund 900 Journalisten und Journalistinnen wurde in der Türkei die Akkreditierung entzogen, was einem Berufsverbot gleichkommt. Die Anzahl der Inhaftierten Journalisten ist strittig: Berufsverbände beziffern die Zahl der Inhaftierten Kollegen und Kolleginnen auf 156. Justizminister Abdülhamit Gül behauptete, keine belastbaren Informationen über den Beruf der im Gefängnis sitzenden Personen zu haben, während sein Vorgänger Bekir Bozdag noch wusste, dass 30 Journalisten inhaftiert waren. Die geringste Schätzung hingegen lieferte im Juli 2017 Präsident Erdogan ab, als er behauptete, lediglich zwei Journalisten seien in türkischer Haft. Auf dem UN-Gipfel in New York Ende September meinte er, dass die meisten gar keine Journalisten, sondern Terroristen sind (TT 17.10.2017). Turkish Purge gibt (Stand 8.10.2017) 302 betroffene Journalisten und Journalistinnen an, wobei 170 inhaftiert sind und der Rest ihren Prozess auf freiem Fuß erwartet (TP 8.10.2017).

Quellen:

- CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (10.10.2017): Third party intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights under Article 36, paragraph 3, of the European Convention on Human Rights [CommDH(2017)29], https://rm.coe.int/third-party-intervention-10-cases-v-turkey-on-freedom-of-expression-an/168075f48f, Zugriff 23.10.2017

- TP - Turkey Purge (8.10.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, 23.10.2017

- TT - Tiroler Tageszeitung (17.10.2017): "Straftat Journalismus" in der Türkei, http://www.tt.com/politik/konflikte/13563141-91/straftat-journalismus-in-der-t%C3%Bcrkei.csp, Zugriff 23.10.2017

- Der Standard (19.10.2017): Deutsch-türkischer Journalist Yücel bringt Ankara in Zugzwang, https://derstandard.at/2000066252315/Europaeischen-Gerichtshof-fuer-MenschenrechteAnkara-wegen-deutsch-tuerkischem-Journalisten-Yuecel-vor, Zugriff 23.10.2017

KI vom 31.8.2017, Geheimdienst unter Kontrolle des Staatspräsidenten, Verlängerung der maximalen Untersuchungshaft (relevant für die Abschnitte: . 4. Rechtsschutz/Justizwesen und 5. Sicherheitsbehörden)

Mit dem Dekret 694, das am 25.8.2017 in Kraft trat, wurde der Geheimdienst MIT, der bisher dem Ministerpräsidenten unterstand, dem Präsidenten unterstellt. Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)

Per Dekret wurde gleichzeitig die maximale Untersuchungshaft von fünf auf sieben Jahre ausgeweitet. Das gilt für Beschuldigte, denen die Unterstützung von Terrororganisationen, Spionage oder eine Beteiligung an dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen werden. Staatspräsident Erdogan ermächtigte sich überdies, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AL 30.8.2017)

Quellen:

- AM - Al Monitor (30.8.2017): Erdogan hastens executive presidency with new decree, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decree-redesigns-vital-intstitutions.html, Zugriff 31.8.2017

- Focus (25.8.2017): Geheimdienst und neue Entlassungwelle: Erdogan baut per Dekret seine Macht aus, http://www.focus.de/politik/ausland/erdogan-im-groessenwahn-geheimdienst-und-neue-entlassungwelle-erdogan-baut-per-dekret-seine-macht-aus_id_7516131.html, Zugriff 31.8.2017

- HB - Handelsblatt (28.8.2017): Sieben Jahre Haft - ohne Urteil, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neues-dekret-von-erdogan-sieben-jahre-haft-ohne-urteil/20247280.html, Zugriff 31.8.2017

KI vom 9.8.2017, Beschwerden an die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (relevant für Abschnitt: 4. Rechtsschutz/Justizwesen)

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017).

Quellen:

- Bianet - BIA News Desk (7.8.2017): Constitutional Court Rejects 70,771 Applications Regarding State of Emergency, http://bianet.org/english/law/188906-constitutional-court-rejects-70-771-applications-regarding-state-of-emergency, Zugriff 9.8.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (8.8.2017): Turkish state of emergency commission receives over 38,000 appeals, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-state-of-emergency-commission-receives-over-38000-appeals-.aspx?pageID=238&nID=116469&NewsCatID=338, Zugriff 9.8.2017

KI vom 19.7.2017, Verlängerung des Ausnahmezustandes (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden (TS 17.7.2017, vgl. FAZ 17.7.2017).

Quellen:

- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.7.2017): Türkisches Parlament verlängert abermals Ausnahmezustand, http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/seit-putschversuch-tuerkisches-parlament-verlaengert-abermals-ausnahmezustand-15110851.html, Zugriff 19.7.2017

- tagesschau.de (17.7.2017): Türkei verlängert Ausnahmezustand, http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-865.html, Zugriff 19.7.2017

KI vom 19.7.2017, Verhaftung von Mitarbeitern von Amnesty International - wachsender Druck auf NGOs (relevant für Abschnitt: 8. Nichtregierungsorganisationen)

Am 18.7.2017 verhängte ein Gericht über sechs Menschenrechtsaktivisten, darunter die Direktorin von Amnesty International -Türkei die Untersuchungshaft, nachdem diese am 5.7.2017 festgenommen worden waren. Die Staatsanwaltschaft bezichtigte die Aktivisten der Unterstützung und Begünstigung einer terroristischen Organisation. Welche Terrororganisation gemeint war, blieb unklar. Untersuchungen wegen Terrorfinanzierung und Spionage wären laut Staatsanwaltschaft ebenfalls im Gange. Bereits im Juni 2017 wurde der Vorsitzende von Amnesty International -Türkei, Taner Kiliç, wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung inhaftiert (HDN 18.7.2017, Standard 18.7.2017). Seit dem Putschversuch wurden mehr als 1.000 NGOs verboten. Überdies berichteten auch internationale NGOs, wie Human Rights Watch, über Schmierkampagnen der staatlich kontrollierten Medien und Einschüchterung von Mitarbeitern. Auch die deutschen politischen Stiftungen, welche in der Türkei aktiv sind, melden einen zunehmenden Druck seitens der Behörden (Zeit 18.7.2017).

Quellen:

- HDN - Hürriyet Daily News (13.7.2017): Turkish court arrests six human rights activists on terror charges, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-court-arrests-six-human-rights-activists-on-terror-charges-.aspx?pageID=238&nID=115634&NewsCatID=339, Zugriff 19.7.2017

- Standard Online (18.7.2017): Türkei verhängt Untersuchungshaft über Amnesty-Landeschefin, http://derstandard.at/2000061432083/Tuerkei-Sechs-Menschenrechtsaktivisten-in-Untersuchungshaft, Zugriff 19.7.2017

- Zeit online (18.7.2017): Erdogans Kampf gegen Menschenrechtler, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/tuerkei-amnesty-international-festnahme-recep-tayyip-erdogan, Zugriff 19.7.2017

KI vom 19.7.2017, Stand der Massenverhaftungen und Entlassungen wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato 50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund 8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen (HDN 13.7.2017, bianet 13.7.2017). Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen (HDN 15.7.2017). Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund 145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen (TP 19.7.2017).

In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden (Zeit 17.7.2017).

Quellen:

- Bianet (13.7.2017): Ministry of Justice: 50,510 People Arrested in Coup Attempt Investigations, https://bianet.org/english/politics/188268-ministry-of-justice-50-510-people-arrested-in-coup-attempt-investigations, Zugriff 19.7.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (13.7.2017): 50,510 people arrested in Gülen probe since coup attempt: Ministry, http://www.hurriyetdailynews.com/50510-people-arrested-in-gulen-probe-since-coup-attempt-ministry.aspx?pageID=238&nID=115486&NewsCatID=509, Zugriff 19.7.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (15.7.2017): Turkey dismisses over 7,000 police, soldiers, ministry officials with new emergency decree, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-dismisses-over-7000-police-soldiers-ministry-officials-with-new-emergency-decree-.aspx?pageID=238&nID=115540&NewsCatID=341, Zugriff 19.7.2017

- TP - TurkeyPurge (19.7.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 19.7.2017

- Zeit Online (17.7.2017): Türkei verlängert erneut Ausnahmezustand, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/tuerkei-parlament-ausnahmezustand-verlaengerung, Zugriff 19.7.2017

KI vom 27.4.2017, Massenverhaftungen und Entlassungen innerhalb der Polizei (relevant für Abschnitt: 5. Sicherheitsbehörden)

In der Türkei sind am 26.4.2017 9.103 Polizisten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden. Bei Razzien gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger in allen 81 Provinzen des Landes war es im Laufe des Tages bereits zu 1.120 Festnahmen gekommen. Ziel der Suspendierungen und der Verhaftungen sei es gewesen, die geheime Struktur der Gülen-Bewegung innerhalb der Polizei zu zerschlagen. 8.500 Sicherheitskräfte unter Beteiligung des Geheimdienstes MIT seien an den Operationen beteiligt gewesen (HDN 26.4.2017; vgl. Zeit 27.4.2017). Wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung hat die Türkei gleichzeitig 9.103 Polizisten entlassen (Zeit 26.4.2017; vgl. HDN 27.4.2017).

Laut "TurkeyPurge" wurden somit (Stand 27.4.2017) seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 über 134.000 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen, knapp über 100.000 festgenommen, und von letzteren 50.000 inhaftiert (TP 27.4.2017).

Quellen:

- Die Zeit (26.4.2017): Mehr als 9.000 Polizisten suspendiert, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/tuerkei-razzia-9000-polizisten-guelen-bewegung-suspendierung-2, Zugriff 27.4.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (27.4.2017): Over 9,000 Turkish police officers suspended over suspected links to Gülen, http://www.hurriyetdailynews.com/over-9000-turkish-police-officers-suspended-over-suspected-links-to-gulen.aspx?pageID=238&nID=112475&NewsCatID=509, Zugriff 27.4.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (26.4.2017): Police detain 1,120 in operation on Gülen's 'secret imams', http://www.hurriyetdailynews.com/police-detain-1120-in-operation-on-gulens-secret-imams.aspx?PageID=238&NID=112437&NewsCatID=509, Zugriff 27.4.2017

- TP - TurkeyPurge (27.4.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 27.4.2017

KI vom 26.4.2017, Aufnahme des Monitoring-Verfahrens durch den Europarat (relevant für die Abschnitte: 4. Rechtsschutz/Justizwesen und 11. Allgemeine Menschenrechte)

Die Türkei steht künftig unter der Beobachtung des Europarates, dessen Mitglied es ist. Der Europarat wird das umstrittene Verfassungsreferendum in der Türkei und das Vorgehen von Präsident Erdogan gegen Oppositionelle genauer untersuchen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen. In der Resolution wird der Schritt vor allem mit Blick auf den anhaltenden Ausnahmezustand, kollektive Entlassungen von Staatsbediensteten wie Lehrer, Wissenschaftler und Richter, sowie Festnahmen von Parlamentariern und Journalisten begründet (Zeit 25.4.2017).

Die PACE verlangt u.a. den Ausnahmezustand aufzuheben, die Erlassung von Notstandsverordnungen, außer wenn absolut nötig, einzustellen, und alle inhaftierten Parlamentarier und Journalisten freizulassen. Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist. Die PACE bedauert auch den Gesetzesbruch beim Verfassungsreferendum vom 16.4.2017, bei dem Stimmzettel ohne Amtssiegel gezählt wurden, was ernsthafte Fragen hinsichtlich der Legitimität des Ausgangs des Referendums aufwirft (PACE 25.4.2017).

Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017). Das türkische Außenministerium kündigte an, die Mitgliedschaft in der Institution überdenken zu wollen (Zeit 25.4.2017).

Quellen:

- Die Zeit (25.4.2017): Europarat eröffnet Verfahren gegen Türkei, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/verfassungsreferendum-tuerkei-europarat-menschenrechte-beobachtung, Zugriff 26.4.2017

- DS - Daily Sabah (25.4.2017): Turkey-EU relations hit historic low after controversial PACE decision, https://www.dailysabah.com/eu-affairs/2017/04/26/turkey-eu-relations-hit-historic-low-after-controversial-pace-decision, Zugriff 26.4.2017

- PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.4.2017): PACE reopens monitoring procedure in respect of Turkey, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6603&lang=2&cat=8, Zugriff 26.4.2017

KI vom 19.4.2017, Verfassungsreferendum (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht (HDN 16.4.2017).

Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt (OSCE/PACE 17.4.2017). Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren (PACE 17.4.2017). Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden (Zeit 17.4.2017; vgl. PACE 17.7.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig (AM 18.7.2017). Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen (Zeit 18.4.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte (FAZ 19.4.2017). Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an (Spiegel 19.4.2017).

Quellen:

- AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.4.2017

- AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.4.2017

- Die Zeit (17.4.2017): Beobachter bemängeln Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/osze-tuerkei-referendum-wahlbeobachter-kritik, Zugriff 19.4.2017

- Die Zeit (18.4.2017): EU fordert Untersuchung von Manipulationsvorwürfen, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/tuerkei-eu-kommission-untersuchung-referendum-wahlbeobachter, zugriff 19.4.2017

- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.4.2017

- HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.4.2017

- OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.4.2017.

- PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): Turkey's constitutional referendum: an unlevel playing field, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6596&lang=2&cat=31, Zugriff 19.4.2017

- Spiegel Online (19.4.2017): Wahlkommission prüft Beschwerden über Manipulationen, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-wahlkommission-prueft-beschwerden-ueber-manipulationen-a-1143822.html, Zugriff 19.4.2017

KI vom 9.3.2017, Parlamentarische Versammlung des Europarates und UN-Hochkommissar für Menschenrechte zur Lage in der Türkei (relevant für die Abschnitte: 3. Sicherheitslage, 11. Allgemeine Menschenrechtslage, 12. Meinungs- und Pressefreiheit)

Das Monitoring-Komitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) rief am 8.3.2017 zur Wiederaufnahme des Monitoring-Verfahrens in Bezug auf die Türkei auf. Das Monitoring-Komitee zeigte sich besorgt, dass es im Zuge des Ausnahmezustandes zu einer ernsthaften Verschlechterung der Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen gekommen ist. Die türkische Regierung hätte überdies unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen, die jenseits dessen gehen, was die türkische Verfassung und das Völkerrecht erlauben. Das Komitee zeigte sich wegen des Ausmaßes der durchgeführten Säuberungen in der Verwaltung, der Armee, der Justiz und des Bildungswesens besorgt. Es zeigte sich angesichts der wiederholten Verletzungen der Medienfreiheit und der Anzahl der inhaftierten Journalisten alarmiert, und bezeichnete dies als "inakzeptabel in einer demokratischen Gesellschaft". Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, insbesondere der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP, die mit 93% überproportional betroffen waren, führe laut Komitee zu ernsthaften Einschränkungen der demokratischen Debatte am Vorabend des Verfassungsreferendums, das für den 16. April 2017 vorgesehen ist. Das Komitee fordert die Aufhebung des Ausnahmezustandes, den Stopp der Notstandsverordnungen sowie die Freilassung aller Parlamentarier und Journalisten bis zu deren Prozessende (PACE 8.3.2017).

Am 8.3.2017 zeigte sich der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Zeid Ra'ad Al Hussein, in seiner Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat besorgt, dass die unter dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen scheinbar die Kritik und nicht den Terrorismus im Visier haben. Die Tatsache, dass Zehntausende nach dem versuchten Putsch entlassen, verhaftet, inhaftiert oder verfolgt worden sind - darunter auch zahlreiche demokratisch gewählte Volksvertreter, Richter und Journalisten - wecken die ernsthafte Besorgnis, ob ordentliche Gerichtsverfahren garantiert werden können. Die Menschenrechtssituation in der Südosttürkei ist laut Hochkommissar nach wie vor zutiefst beunruhigend. Ohne Zugang zum Gebiet hat das Fernüberwachungsverfahren des Büros des Hochkommissars glaubwürdige Hinweise auf hunderte von Todesfällen erhalten, was auf unverhältnismäßige Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion auf gewalttätige Angriffe hindeutet (UN-OHCHR 8.3.2017).

Quellen:

- PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe / Monitoring Committee (8.3.2017): The Monitoring Committee calls for the monitoring procedure in respect of Turkey to be re-opened, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6538&lang=2&cat=3, Zugriff 9.3.2017

- UN-OHCHR - UN-Office of the High Commissioner for Human Rights (8.3.2017): High Commissioner for Human Rights presents Annual Report to the Human Rights Council, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21316&LangID=E, Zugriff 9.3.2017

KI vom 22.2.2017, Verurteilung von Parlamentariern der pro-kurdischen HDP (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage, 13.1. Opposition und 17.1. Kurden)

Am 20.2.2017 hat die Demokratische Partei der Völker (HDP) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) eine Beschwerde wegen der andauernden Inhaftierung ihrer beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag eingereicht. Die HDP begründete dies u.a. mit dem Umstand, dass das Verfassungsgericht seit 95 Tagen keine Untersuchungen durchgeführt habe, und dadurch die beiden Parlamentarier ihren legislativen Aufgaben nicht nachkommen können (HDN 20.2.2017).

Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir fordert seit Jänner 2017 bis zu 142 Jahre Haft für Demirtas. Ihm werden unter anderem die Leitung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und Terrorpropaganda vorgeworfen (TS 17.1.2017). Ein Gericht im osttürkischen Dogubeyazit befand inzwischen am 21.2.2017 Selahattin Demirtas der "Herabwürdigung der türkischen Nation, des türkischen Staates und seiner Institutionen " schuldig und verurteilte ihn zu fünf Monaten Haft. Zudem wurde am 21.2.2017 Figen Yüksekdag ihr Parlamentsmandat aberkannt. Grund ist das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts, das eine vorherige Verurteilung der Politikerin zu einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda bestätigt hatte (AM 21.2.2017; vgl. Zeit 21.2.2017). Idris Baluken, ein weiterer HDP-Abgeordneter, der eng mit den damaligen Friedensgesprächen zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Führer, Abdullah Öcalan, engagiert war, wurde nach Beanstandungen eines Appellationsgerichts erneut verhaftet (AM 21.2.2017).

Quellen:

- AM - Al Monitor (21.2.2017): Pro-Kurdish HDP leader kicked out of Turkish parliament, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/02/turkey-unseats-figen-yuksedag-kurdish-bloc-leader.html, Zugriff 22.2.2017

- Die Zeit (21.2.2017): Gericht verurteilt HDP-Chef zu fünf Monaten Gefängnis, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/tuerkei-selahattin-demirtas-haftstrafe-figen-yueksekdag-mandat, Zugriff 22.2.2017

- HDN (20.2.2017): Opposition HDP applies to Euro court over arrest of co-leaders, http://www.hurriyetdailynews.com/opposition-hdp-applies-to-euro-court-over-arrest-of-co-leaders.aspx?pageID=238&nID=109967&NewsCatID=338, Zugriff 22.2.2017

- TS - tagesschau.de (17.1.2017): 142 Jahre Haft für Demirtas? http://www.tagesschau.de/ausland/haftstrafe-demirtas-101.html, Zugriff 22.2.2017

KI vom 16.2.2017, Menschenrechtskommissar des Europarates zur Presse- und Meinungsfreiheit (relevant für Abschnitt 12/ Meinungs- und Pressefreiheit)

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks bedauert, dass konkrete Fortschritte in Bezug auf die Medienfreiheit und die Meinungsfreiheit, die die Türkei in Zusammenarbeit mit dem Europarat sorgfältig verwirklicht hat, in den letzten Jahren gestoppt und rückgängig gemacht wurden. Insbesondere die übermäßige Anwendung des Konzepts der terroristischen Propaganda bzw. der Unterstützung einer terroristischen Organisation, einschließlich von Aussagen, die eindeutig nicht zu Gewaltanwendung führen, und die Kombination mit einer übermäßigen Interpretation des Begriffes der Verleumdung haben die Türkei auf einen gefährlich

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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