TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/22 L510 2196103-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.07.2019
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Entscheidungsdatum

22.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55 Abs1a

Spruch

L510 2196103-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Michael GENNER, Asyl in Not, gegen die Spruchpunkte IV., V., VII. und VIII. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.06.2019, Zl: XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 2, 46, 55 Abs. 1a FPG idgF, § 18 BFA-VG, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführende Partei (bP) wurde im Jahr XXXX im XXXX Bundesgebiet des Mordes beschuldigt und reiste während des laufenden Gerichtsverfahrens zurück in die Türkei und anschließend weiter zu ihrem in Kanada lebenden Cousin.

Aufgrund eines internationalen Haftbefehls wurde sie in Kanada festgenommen und zurück in die XXXX überstellt.

Mit Urteil vom XXXX wurde sie vom XXXX wegen Mordes und schweren Raubes zu 16 Jahren Haftstrafe verurteilt.

Am 08.04.2013 wurde vom XXXX ein schengenweites Einreiseverbot gegen die bP erlassen, welches bis zum 31.12.2099 gültig ist.

Nach ihrer verbüßten Haftstrafe in der XXXX wurde sie in ihren Herkunftsstaat Türkei abgeschoben.

Am 17.03.2017 reiste sie trotz des gültigen Einreiseverbots durch die Vorlage eines gefälschten Reisepasses in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte bei einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der LPD XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die bP stellte dar, dass sie Staatsangehöriger der Türkei, alevitischen Glaubens sei, der Volksgruppe der Kurden angehöre und aus XXXX ., stamme.

Anlässlich der Erstbefragungen durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.03.2017 gab die bP zum Fluchtgrund an, dass es in ihrer Heimatstadt ein Flüchtlingslager gebe. Sie habe gegen das Flüchtlingslager demonstriert, sei von der Polizei festgenommen worden, einvernommen worden und sei gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet worden. Sie befürchte deswegen in ihrer Heimat festgenommen zu werden, weshalb sie die Türkei verlassen habe. Sie sei in Istanbul stellvertretender Geschäftsführer einer Firma gewesen. Die Firma sei von den Behörden gesperrt worden und sei der Geschäftsführer nach Kanada geflüchtet. Sie habe Angst in ihrer Heimat eingesperrt zu werden. Ansonsten habe sie mit keinen Sanktionen zu rechnen.

In der Einvernahme beim BFA am 07.06.2017 brachte die bP im Wesentlichen vor, dass sie türkischer Staatsangehöriger, Kurde, Alevit, ledig sei und keine Sorgepflichten habe. Sie legte diverse türkische Schriftstücke vor, wie einen Haftbefehl für einen Verhandlungstermin am 05.07.2017, Unterlagen über den Verhandlungstermin, Fotos mit Aziz Tunc. Glaublich seien die Fotos im Juni 2015 oder Juni 2016 gemacht worden. Sie habe damals gegen das Flüchtlingslager in ihrem Heimatdorf demonstriert und sei von Soldaten festgenommen worden. Die bP legte Fotos und einen Zeitungsartikel in Bezug auf die Demonstrationen vor. Die Personen in diesem Artikel seien genauso wie sie festgenommen worden. Laut Feststellungen des Dolmetschers scheint der Name der bP in diesem Artikel nicht auf, was auch durch die bP nicht weiter bestritten wurde. Weiter legte die bP Fotos mit der Fahne der HDP vor, welche im Juni 2015 gemacht worden seien. Es erfolgte die Dokumentenvorlage über die Ermordung eines Verwandten mütterlicherseits im Jahr 1994, welcher Vorsitzender der HDP gewesen sei.

In Österreich habe sie entfernte Verwandte, mit welchen sie aber nicht in gemeinsamen Haushalt lebe. In der XXXX lebe die gesamte Familie.

Sie sei in der XXXX wegen Mordes verhaftet worden. Dann sei sie frei gelassen worden und habe sie auf das Gerichtsverfahren gewartet. Sie sei jedoch in die Türkei zurückgekehrt und von 1998 bis 2000 dort geblieben. Danach sei sie nach Kanada zu ihrem Cousin geflogen. In Kanada sei sie aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen und in die XXXX verbracht worden. Sie sei dort angeklagt und verhaftet worden. 2013 sei sie in die Türkei abgeschoben worden. In der Türkei sei sie nicht im Gefängnis gewesen, sondern sei wegen der Demonstration nur kurz festgenommen worden. Sie sei nicht Mitglied einer Partei gewesen. Sie sei nur Sympathisant der HDP gewesen und sei bei Wahlen gewesen. Sie sei Beisitzer gewesen und habe die Wahlen überwacht. Sonst sei sie nicht tätig gewesen. Sie werde in der Türkei als Kurde und Alevit unterdrückt. Sie hätten Angst gehabt, dass viele IS Kämpfer in das Flüchtlingslager gebracht worden wären. 1978 seien viele Aleviten umgebracht worden. Damals sei auch ihr Haus angezündet worden. Ein IS Mitglied habe 40 Kilometer von der Stadt entfernt bei einer kurdischen Hochzeit HDP Leute umgebracht. IS Mitglieder hätten viele Anschläge gegen HDP und Linksparteien vollzogen. Sie habe Angst festgenommen zu werden, da sie angezeigt worden sei. Ihr Arbeitgeber in Istanbul sei bei der Gülen Bewegung gewesen. Das Geschäft sei geschlossen worden und der Arbeitgeber sei ins Ausland gegangen. Deshalb habe sie Angst gehabt, dass sie auch festgenommen werden könnte. Sie sei aber nicht Gülen Anhänger und habe dort nur gearbeitet. Sie sei dann in ihr Heimatdorf XXXX zurückgegangen. Sie habe einen Imkerkurs gemacht, sich Bienen gekauft und sei bis zu ihrer Ausreise Bienenzüchter gewesen.

Zur Festnehme konkretisierte die bP, dass sie in das Camp hineingehen wollte. Dort sei eine Demonstration organisiert worden, doch hätten ihr Soldaten den Weg versperrt. Sie sei dann festgenommen und einvernommen worden. Es sei mit einer hohen Geldstrafe gedroht worden. Ein Abgeordneter der HDP sei bei den Festgenommenen dabei gewesen und es seien Journalisten und Anwälte dabei gewesen. Dann sei sie entlassen worden. Den Befehl zur Verhaftung habe ein Kommandant gegeben, den Namen kenne sie nicht. Strafe hätte sie nicht bezahlen müssen, jedoch sei eine hohe Strafe angedroht worden, die anwesenden Anwälte hätten alles geklärt. Der bestehende Haftbefehl sei von der Staatsanwaltschaft ausgestellt worden. Danach sei sie in die Stadt XXXX gegangen und habe sich dort bis zu ihrer Ausreise versteckt.

Sie sei dann legal mit dem Flugzeug von Istanbul nach Moldawien ausgereist. Die Schlepperkosten hätten Euro 10.000 betragen. Sie habe 11 Jahre lang in der XXXX und in Istanbul gearbeitet und das Geld gespart. In Istanbul und Ankara habe sie Verwandte. Diesen gehe es gut.

2. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom BFA mit Bescheid vom 18.04.2018 gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 und § 6 Abs. 1 Z. 3, 4 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.).

Gem. § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III).

Gem. § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV).

Gem. § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt V.)

Gem. § 55 Abs. 1a FPG wurde festgestellt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI).

Gem. § 18 Abs. 1 Z. 2, 3 und 6 BFA-Verfahrensgesetz wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Entscheidung aberkannt (Spruchpunkt VII).

Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z. 1 und 5 FPG wurde gegen die bP ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII).

3. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass die Identität durch die Vorlage des türkischen Identitätsnachweises feststellbar wäre. Zudem verkenne die belangte Behörde, dass sie sehr wohl zur Prüfung des Refoulement-Verbots verpflichtet sei, auch wenn sie den Antrag auf Asyl ohne Prüfung abweisen durfte. Art. 3 EMRK sei in jedem Fall zu beachten. Die Behörde habe sich unzureichend mit den in der Einvernahme zu Protokoll gebrachten Gerichtsakten und dem Haftbefehl gewidmet. Erstmals wurde im Verfahren vorgebracht, dass die bP aufgrund der Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen und ihrer Sympathie und ihrer Wahlhelferschaft für die HDP bereits mehrfach in der Türkei festgenommen worden sei. Zudem sei ein Verfahren gegen sie und andere Demonstranten nach Paragraph 2911 des türkischen Strafgesetzbuches eröffnet worden. Es sei ein Haftbefehl ausgestellt worden und werde eine Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren gegen sie angestrebt. Ein solches Strafausmaß stehe in keinem Verhältnis zu einer Verwaltungsübertretung wie der Teilnehme an der Demonstration.

Es wurden allgemeine Ausführungen zum Refoulement-Verbot getätigt. Sie könne in der Türkei nicht mit einem fairen Verfahren rechnen. Es sei kein angemessener Schutz vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung oder gar Folter gegeben. Beigefügt wurde ein Bericht der Musikerin Pinar AYDINLAR, bei welcher eine Nacktdurchsuchung stattgefunden habe. Die Haftbedingungen würden nationalen Standards nicht entsprechen. Es wurde ein Bericht von Nils Melzer beigefügt. Selbst wenn die bP nicht Mitglied der Gülen-Bewegung sei, reiche der Verdacht, um unmenschliche Behandlung zu befürchten. Berühmtestes Beispiel sei Murat Arslan. Es wurde ein entsprechender Bericht beigebracht wonach man sehe, dass Anklageerhebungen in der Türkei völlig willkürlich erfolgen würden und kein faires Verfahren möglich sei. Gülen Anhänger, Assoziierte sowie Kurden und Aleviten würden in der Haft erniedrigt und gefoltert, was sich aus beigefügten Länderberichten ergeben würde.

4. Mit Mail vom 24.05.2018 wurde seitens Asyl in Not dem BVwG die Vollmacht vom 30.05.2017 übermittelt, welche auch eine Zustellvollmacht enthält.

5. Mit Beschluss des BVwG vom 30.05.2018 wurde der Bescheid des BA behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen.

6. In der Folge wurden seitens des BFA die im Verfahren vorgelegten Unterlagen übersetzt.

7. Am 28.01.2019 erfolgte eine ergänzende niederschriftliche Einvernahme der bP vor dem BFA. Im Zuge dieser Einvernahme stellte sich heraus, dass ihr in der Türkei anhängiges Gerichtsverfahren immer noch laufend war und ihr Verhandlungstermin (ein weiteres Mal) auf den 14.02.2019 verschoben wurde.

8. Am 14.02.2019 wurde durch das BFA eine Anfrage an die Staatendokumentation zum Thema "Teilnahme an illegaler Demonstration in XXXX , Strafausmaß" gestellt. Die diesbezügliche Anfragebeantwortung der Staatendokumentation langte am 13.03.2019 beim Bundesamt ein.

9. Am 08.04.2019 wurde die bP erneut einvernommen. Im Rahmen dieser Niederschrift ergab sich, dass sowohl ihr Verhandlungstermin, als auch der für alle weiteren Angeklagten, abermals verschoben und auf den 12.09.2019 angesetzt wurde.

10 Mit im Spruch bezeichneten Bescheid des BFA vom 07.06.2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 17.03.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 3 Ziffer 2 iVm § 2 Ziffer 13 und § 6 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen Spruchpunkt I.).

Gemäß § 8 Absatz 3a iVm § 9 Absatz 2 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.).

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.).

Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.).

Gemäß § 55 Absatz 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt V.).

Ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei wurde gemäß § 8 Absatz 3a AsylG iVm § 9 Absatz 2 AsylG und § 52 Absatz 9 FPG für unzulässig erklärt (Spruchpunkt VI.).

Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 und 5 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen die bP ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Absatz 1 Ziffer 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VIII.).

11. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV., V., VII., und VIII. eingebracht und der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass es nicht nachvollziehbar sei, weshalb das BFA davon ausgehe, dass nur mit einem Einreiseverbot in unbefristeter Höhe das Auslangen gefunden werden könne. Die Abwägung sei nur sehr oberflächlich erfolgt. Es sei nur auf die strafrechtliche Verurteilung verwiesen worden. Es sei jedoch das Gesamtverhalten zur Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose heranzuziehen. Das BFA würdige nicht, dass sich die bP seit der Verurteilung vor über einem Jahrzehnt wohl verhalten habe. Die Einreise mit einem gefälschten Reisepass sei menschlich verständlich und nachvollziehbar. Es sei zwar richtig, dass die bP keine nennenswerten familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet habe, jedoch würden Verwandte des Ehegatten der Nichte in Österreich leben und bestehe reger Kontakt zu diesen. Darüber hinaus befinde sich ein Großteil der erweiterten Kernfamilie im Schengenraum. Bei der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes wäre es der bP nie wieder möglich, diese Familienmitglieder zu besuchen.

12. Am 18.07.2019 langte der Verwaltungsverfahrensakt bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der bP:

Die Identität der bP steht fest.

Die bP wurde am 01.01.1977 in der Provinz XXXX , in der Türkei, geboren und lebte bis zum Jahr 1985 ununterbrochen in ihrer Heimatprovinz, bis sie gemeinsam mit ihrer Familie in die XXXX gezogen ist. Sie ist ledig, hat keine Kinder und keine Obsorgepflichten. Sie ist gesund und arbeitsfähig. Sie besuchte mindestens zehn Jahre lang - davon acht Jahre Grundschule und zwei Jahre Gymnasium - die Schule. Sie hat Berufserfahrungen in verschiedenen Richtungen gesammelt, zumal sie jedenfalls in der Türkei als stellvertretender Geschäftsführer einer Firma im Bereich der Elektrotechnik sowie als Imker beschäftigt war. Ihre Muttersprache ist Kurdisch und verfügt sie über sehr gute Französischkenntnisse. Sie verfügt über Familienangehörige sowohl in der XXXX , als auch in Kanada und in der Türkei. Ihre Kernfamilie (Eltern und Geschwister) lebt in der XXXX . Eine Nichte und eine Schwester leben in Deutschland. Zwei Cousinen leben in Istanbul bzw. Ankara und sind verheiratet. Die Ehegatten ihrer Cousinen sind als Koch und Ingenieur für Maschinenbau beschäftigt und geht es diesen gut. Es leben Verwandte des Ehegatten der Nichte in Österreich und besteht seitens der bP Kontakt zu diesen Personen. Ein besonderes Naheverhältnis zu diesen Personen wurde nicht dargetan.

Die bP wurde im XXXX XXXX wegen Mordes und schweren Raubes zu 16 Jahren Strafhaft verurteilt und wurde ein schengenweites Einreiseverbot gegen sie ausgeschrieben, welches sie mittels gefälschten Reisepass übergangen hat, wodurch sie in Österreich einreisen konnten.

Zum Zeitpunkt liegen in Österreich keine rechtskräftigen Verurteilungen vor, jedoch wurde die bP aufgrund der Totalfälschung ihres vorgelegten Reisepasses bereits zur Anzeige gebracht.

1.2. Zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes:

Mit Strafurteil vom XXXX , welches am XXXX in Rechtskraft erwuchs, wurde die bP vom Obergericht des XXXX XXXX XXXX wegen Mordes und gemäß XXXX wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren Zuchthaus verurteilt. Gegen die bP ist in der Türkei ein Gerichtsverfahren anhängig, weshalb sie die Türkei verließ und mittels gefälschtem Reisepass in Österreich einreiste um hier einen Asylantrag zu stellen.

1.3. Das Bundesamt stellte im Bescheid folgende umfassenden und als aktuell anzusehende Länderfeststellungen der Staatendokumentation dar. Zudem tätigte das BFA individuelle Feststellungen zur bP, welche schließlich dazu führten, dass das BFA feststellte, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der bP aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei unzulässig ist.

- Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.

Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.

Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

Quellen:

? EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen, Zugriff 14.3.2019

? EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019

? TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019

KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

Quellen:

? PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

? AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018

? AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

? EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

? HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

? HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

? HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

? NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018

? OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

? OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018

? OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018

? SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018

? TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018

? TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018

? ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, XXXX und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

? AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018

? BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018

? CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018

? EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

? EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018

? MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018

? OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018

? SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

Quellen:

? Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289, Zugriff 24.9.2018

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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