Entscheidungsdatum
18.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W260 2200330-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West (EASt-West) vom 05.06.2018, Zl. 1092358409-151627497, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX (im Folgenden "Beschwerdeführer") stellte am 26.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Die Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 27.10.2015 statt. Zu seinen Fluchtgründen gab der im Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Beschwerdeführer an, er habe sein Land wegen des Krieges, der unsicheren Situation in Afghanistan, der Bomben und Selbstmordattentäter verlassen. Er habe wegen des Krieges die Schule nicht besuchen können.
2. Der Beschwerdeführer erstattete namens seiner gesetzlichen Vertretung am 03.10.2016 eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen Korrekturen bzw. ergänzende Angaben zur Erstbefragung betreffend sein Geburtsdatum, seine Familienangehörigen und seinen Schulbesuch, sowie seine berufliche Tätigkeit in Afghanistan vorbrachte. Mit der Stellungnahme wurden die Tazkira des Beschwerdeführers in Kopie samt Übersetzung und ein Länderbericht übermittelt.
3. Mit Schreiben vom 13.10.2016 übermittelte die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers die Tazkira des Beschwerdeführers im Original.
4. Die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden "belangte Behörde") fand am 26.04.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen befragt an, dass er aus einem Dorf in der Provinz Baghlan stamme. Er habe dort zuletzt gemeinsam mit seinen Eltern und einem Bruder gelebt. Vier Jahre lang habe er die Grundschule besucht, danach habe er seinem Vater bei der Landarbeit auf fremden Grundstücken geholfen. Die letzten zwei Monate vor seiner Ausreise habe er als Hilfskraft in einer Konditorei gearbeitet. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen vor.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass die Taliban immer wieder in seine Schule gekommen seien, um Schüler zu rekrutieren. Als sie seinen Bruder rekrutieren wollten, sei dieser geflüchtet. Daraufhin hätten die Taliban seinem Vater gedroht, dass er Probleme bekommen würde, wenn auch sein zweiter Sohn, also der Beschwerdeführer, flüchte. Dennoch habe sein Vater ihn weggeschickt und sei danach von den Taliban ermordet worden. Wenn der Beschwerdeführer zurückkehre, würden ihn die Taliban töten, weil er desertiert sei und als Abtrünniger gelte. Auch als Hazara und Schiit werde er in Afghanistan beschimpft und diskriminiert.
5. Der Beschwerdeführer erstattete am 04.05.2018 eine Stellungnahme zu den von der belangten Behörde herangezogenen Länderberichten.
6. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 05.06.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe, wonach er vor einer drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban geflohen sei, nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne in sein Heimatdorf zurückkehren und dort wieder bei seiner Familie wohnen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
7. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht durch seine anwaltliche Vertretung Beschwerde.
Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass sich die belangte Behörde zu Unrecht auf Widersprüche zwischen Einvernahme und Erstbefragung stütze, da die Erstbefragung nicht der Darlegung der Fluchtgründe diene. Die Behörde habe auch seine Minderjährigkeit bei der Beurteilung des Fluchtvorbringens nicht berücksichtigt. Ihm drohe Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Flucht vor einer Zwangsrekrutierung. Der Beschwerdeführer beantragte Erhebungen vor Ort, die die Richtigkeit seiner Angaben bestätigen würden. Jedenfalls hätte ihm aber aufgrund der sich ständig verschlechternden Sicherheitslage und der Tatsache, dass er in Afghanistan über kein soziales Netz mehr verfüge, subsidiärer Schutz gewährt werden müssen.
8. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers übermittelte am 08.11.2019 diverse Integrationsunterlagen und Afghanistan betreffende Länderberichte.
9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.11.2019 eine mündliche Verhandlung durch, die belangte Behörde blieb der mündlichen Beschwerdeverhandlung entschuldigt fern; das Verhandlungsprotokoll wurde der belangten Behörde übermittelt.
10. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Verfahrensparteien mit Schreiben vom 18.11.2019 im Rahmen des Parteiengehörs aktuelle Länderberichte zu Afghanistan mit der Möglichkeit zur Stellungnahme, Übermittlung sonstiger relevanter Informationen, oder der Erstattung von Anträgen.
11. Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.
Der Beschwerdeführer erstattete namens seines Rechtsvertreters am 03.12.2019 eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen vorbrachte, dass in Afghanistan die Situation für Rückkehrer ohne lokale Netzwerke schwierig sei. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul sei aufgrund der UNHCR-Richtlinie generell auszuschließen, auch die Sicherheits- und Versorgungslage in den Provinzen Herat und Balkh sei angespannt. Der Beschwerdeführer sei Hip-Hop-Musiker, seine Werke würden auch veröffentlicht. Aufgrund der Art seiner Musik bzw. Texte erfülle er das Risikoprofil einer Person, die vermeintlich gegen islamische Normen und Werte verstoße. Es bestehe eine große Wahrscheinlichkeit, dass er im Falle seiner Rückkehr von den Taliban bzw. von aufständischen Kräften verfolgt werde. Der Beschwerdeführer beantragte die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass ihm im Falle seiner Rückkehr aufgrund seiner Werke Verfolgung durch die Taliban drohe. Mit der Stellungnahme wurden Screenshots des Facebookprofils des Beschwerdeführers übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX .
Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari.
Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan geboren und wuchs dort im Familienverband mit seinen Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüdern auf. Er lebte bis zu seiner Ausreise im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer besuchte vier Jahre lang eine Koranschule. Danach half er seinem Vater bei der Landarbeit, zwei Monate arbeitete er auch als Hilfskraft in einer Konditorei.
Die Mutter und ein Bruder des Beschwerdeführers leben im Heimatdorf in der Provinz Baghlan. Zu seiner Mutter hat er sehr unregelmäßig Kontakt. Die beiden Schwestern des Beschwerdeführers sind verheiratet. Zu ihnen hat er keinen Kontakt. Weitere ihm bekannte Angehörige im Herkunftsstaat hat er nicht.
Der Beschwerdeführer ist gesund. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer ist Zivilist.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht. Sein Vater wurde nicht von den Taliban ermordet.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Der Beschwerdeführer wurde weder direkt von den Taliban noch über seinen Vater aufgefordert, mit den Taliban zusammenzuarbeiten oder diese zu unterstützen. Der Beschwerdeführer wurde von den Taliban weder angesprochen noch angeworben. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban.
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
1.2.2. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Dem Beschwerdeführer droht bei seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Auftritte als Hip-Hop-Musiker in Österreich und seiner im Internet veröffentlichten Werke konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Provinz Baghlan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem Beschwerdeführer steht als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem Beschwerdeführer würde bei seiner Rückkehr in diese Stadt kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Er hat in Afghanistan vier Jahre eine Koranschule besucht und in Österreich seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. In Afghanistan hat er erste Berufserfahrung als Landarbeiter und Hilfskraft in einer Konditorei gesammelt. Er ist mobil und anpassungsfähig. Seine Ausbildung und Berufserfahrung werden ihm auch in Mazar-e-Sharif zugutekommen.
Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden.
Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise.
Die Stadt Mazar-e Sharif ist von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug zu erreichen.
1.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung im Oktober 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.
Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Der Beschwerdeführer war in Österreich bislang nicht erwerbstätig und ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer besuchte diverse Deutschkurse und Bildungskurse und verfügt über Deutschkenntnisse auf Niveau B1. Der Beschwerdeführer hat in Österreich seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt.
In Österreich lebt ein volljähriger Bruder des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigter. Der Beschwerdeführer lebt mit ihm nicht im gemeinsamen Haushalt. Ansonsten hat der Beschwerdeführer in Österreich keine Familienangehörigen. Der Beschwerdeführer hat ein freundschaftliches Verhältnis zu einer österreichischen Patenfamilie und mehrere österreichische Bekannte und Freunde.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB),
- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).
1.5.4. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Taliban-Aufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Rekrutierung durch die Taliban:
Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen, zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).
Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht, Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher, das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen (Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen, die über Know-How und Qualifikationen verfügen (z. B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig, sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).
Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt, Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen, die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff auf freiwillige Rekruten. Zudem ist es schwierig, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).
Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit, die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband "herauslösen" (Landinfo 2, Kapitel 6).
1.5.5. Relevante Provinzen und Städte
1.5.5.1. Herkunftsprovinz Baghlan
Baghlan liegt im Nordosten Afghanistans. Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan. Die Provinz hat 995.814 Einwohner (LIB, Kapitel 3.4).
Baghlan gehört zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie oftmals terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchführen. Im Jahr 2018 gab es 261 zivile Opfer (68 Tote und 193 Verletzte) in Baghlan. Dies entspricht einer Steigerung von 17% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDs) und gezielten Tötungen (LIB Kapitel 3.4).
In der Provinz Baghlan kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.5.5.2. Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Die Stadt Mazar-e Sharif wird von EASO als eine jener Regionen eingestuft, in welcher willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird (EASO).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 "minimal" (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 "stressed" eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).
1.5.6. Situation für Rückkehrer/innen
In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).
Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).
Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).
Die "Reception Assistance" umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).
1.5.7. COVID-19-Pandemie
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 18.05.2020 1.050 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen bei 14.563 Genesenen und 596 Todesfällen nach dem EpiG; in Afghanistan wurden zu diesem Zeitpunkt 6.664 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 169 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80 % der Betroffenen leicht und bei ca. 15 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich.
Bei ca. 5 % der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner Schulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers in Einvernahme vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung und auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Dass das Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend eine drohende Zwangsrekrutierung durch die Taliban und Ermordung seines Vaters durch diese nicht glaubhaft war, ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen:
Grundlegend ist zu sagen, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, wie er es insbesondere in der Erstbefragung, der Stellungnahme vom 03.10.2016, der Einvernahme vor der belangten Behörde, im Beschwerdeschriftsatz und in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes vorbrachte, eine Reihe an Widersprüchen und Ungereimtheiten aufweist, die der Beschwerdeführer auch nicht schlüssig erklären konnte. Es blieb in entscheidenden Punkten vage und unsubstantiiert. Der Beschwerdeführer steigerte sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens überdies deutlich.
2.2.2. In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen vor, er habe seinen Herkunftsstaat wegen des Krieges, wegen der unsicheren Situation, wegen der Bomben und Selbstmordattentäter verlassen. Er habe wegen des Krieges die Schule nicht besuchen können. Dies seien alle seine Fluchtgründe (vgl. AS 9).
In seiner Stellungnahme vom 03.10.2016 brachte der Beschwerdeführer ergänzend vor, zwei seiner Brüder seien von den Taliban entführt und umgebracht worden. Manchmal seien auch Buben von seiner Schule weg durch die Taliban entführt worden. Er sei dazu wohl noch etwas zu klein gewesen. Mit zunehmenden Alter hätten dann die Eltern einen weiteren Schulbesuch für zu risikoreich gehalten und den Beschwerdeführer nicht mehr zur Schule gehen lassen (vgl. AS 75).
In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Taliban seien immer wieder in seine Schule gekommen und hätten Schüler mitgenommen, wenn diese alt genug waren, um bei ihnen mitzumachen. Als sein älterer Bruder dieses Alter erreicht habe, hätten die Taliban diesen mitnehmen wollen, er sei aber geflüchtet. Deshalb hätten sie seinem Vater gedroht, dass er große Probleme bekommen würde, wenn auch sein zweiter Sohn, also der Beschwerdeführer, flüchten sollte. Dennoch habe sein Vater ihn ins Ausland geschickt und sei daraufhin von den Taliban ermordet worden. Zweimal seien die Taliban auch beim Beschwerdeführer zuhause gewesen und hätten nachgesehen, ob er und seine Brüder schon alt genug seien (vgl. AS 135, 139-141).
In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Taliban seien in den Unterricht gekommen und hätten dabei Mitschüler mitgenommen. Er sei nicht mitgenommen worden, da er noch klein gewesen sei. Sein Bruder sei aber aufgrund der drohenden Zwangsrekrutierung geflohen, woraufhin die Taliban zu seiner Familie gekommen seien und seinen Vater bedroht hätten. Nachdem nunmehr auch der Beschwerdeführer geflohen sei, sei die Drohung wahrgemacht und sein Vater getötet worden (vgl. AS 392).
In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe damals nicht genau gewusst, was passiere. Sein Vater habe ihn auf einmal weggeschickt. Erst in Österreich habe ihm sein Bruder erzählt, dass der Beschwerdeführer weggeschickt worden sei, weil er älter geworden sei und die Taliban ihn mitnehmen hätten wollen. Damals, als sein Bruder das Haus verlassen habe, seien die Taliban gekommen und hätten seinen Vater bedroht. Sie hätten gesagt, wenn sein anderer Sohn auch das Land verlasse, würden sie ihn töten. Schließlich hätten sie seinen Vater getötet (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 21-22).
2.2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Verlassens seines Heimatlandes minderjährig war. Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden. Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ist entsprechend diesen höchstgerichtlichen Vorgaben eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung erforderlich (Ra 2018/18/0150).
Weiters verkennt das Bundesverwaltungsgericht bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers in der Erstbefragung nicht, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der Erstbefragung dürfen nicht unreflektiert übernommen werden (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061).
Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert § 19 Abs. 1 AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben - unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind - einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.6.2018, Ra 2018/19/0271, mwN).
Das ist hier der Fall. Denn auch unter Berücksichtigung sowohl der damaligen Minderjährigkeit des Beschwerdeführers als auch des besonderen Zwecks der Erstbefragung und der dadurch bedingten verkürzten Darstellung der Fluchtgründe ist nicht erklärbar, weshalb er in der Erstbefragung die später vorgebrachte versuchte Zwangsrekrutierung durch die Taliban mit keinem Wort erwähnte, sondern lediglich auf die allgemeine schlechte Sicherheitslage und den Krieg verwies (vgl. AS 9). Wäre der Beschwerdeführer tatsächlich vor den Taliban geflohen, wäre zu erwarten, dass er dies zumindest ansatzweise erwähnt, wenn er wie in der Erstbefragung gefragt wird, warum er sein Land verlassen habe.
Darin sowie in weiteren Punkten des oben dargestellten Aussageverhaltens des Beschwerdeführers ist deutlich erkennbar, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen im Laufe des Asylverfahrens kontinuierlich gesteigert und um Elemente angereichert hat, die die Gefahr seiner Verfolgung im Herkunftsstaat naheliegender erscheinen lassen könnten.
So brachte er in seiner Stellungnahme vom 03.10.2016 zwar bereits über die Erstbefragung hinausgehend vor, dass die Taliban regelmäßig Schüler seiner Schule entführt bzw. zwangsrekrutiert hätten. Ein direkt den Beschwerdeführer betreffende geplante Entführung/Zwangsrekrutierung wird darin jedoch nicht behauptet, vielmehr hätten seine Eltern schließlich einen Schulbesuch für zu risikoreich gehalten und ihn nicht mehr zur Schule gehen lassen (vgl. AS 75). Erst in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer erstmals vor, dass die Taliban auch ihn mitnehmen wollten, zweimal bei seiner Familie zuhause gewesen seien und seinen Vater bedroht und schließlich getötet hätten (vgl. AS 135, 139).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH).
Vor diesem Hintergrund bestehen bereits im Hinblick auf die Steigerung des Vorbringens massive Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschwerdeführers betreffend sein Fluchtvorbringen.
2.2.4. Die Angaben des Beschwerdeführers zur vorgebrachten Tötung seines Vaters durch die Taliban waren widersprüchlich.
So gab er in der mündlichen Verhandlung an, er habe ca. eineinhalb Jahre, nachdem er (im Oktober 2015) nach Österreich gekommen war, von der Ermordung seines Vaters erfahren. Auf Nachfrage des erkennenden Richters konkretisierte er, dies sei 2017 gewesen. Auf Vorhalt eines vom Beschwerdeführer selbst vorgelegten, mit 20.08.2016 datierten Facebook-Postings, in dem er das Foto eines Mannes mit den Worten "Lieber Vater, ich vermisse dich. Mein Herz tut weh." kommentiert hatte, gab er an, dass sein Vater zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen sei (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 22-23). Damit wäre sein Vater aber nicht "ca. eineinhalb Jahre", sondern deutlich weniger als ein Jahr nach seiner Einreise in Österreich verstorben.
Dass man ein derart einschneidendes Erlebnis wie den Tod eines Elternteils nicht mit Sicherheit einem bestimmten Jahr zuordnen können würde, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer rechtfertigte sich damit, er habe gesagt, dass er sich nicht sicher sei, ob es 2016 oder 2017 gewesen sei. Das ist nicht richtig: Die Frage des erkennenden Richters "Können Sie mir sagen, ob Sie davon 2016 oder erst 2017 erfahren haben?" beantwortete er mit "2017 war das." (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 23).
Wiederum abweichend von beiden Zeitangaben in der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde (im April 2018) noch an, sein Vater wäre vor etwa eineinhalb Jahren, somit bereits Ende 2015, ermordet worden (vgl. AS 137). Insbesondere ist es auch völlig unplausibel, dass der Beschwerdeführer, wenn er seinen eigenen Angaben zufolge spätestens am 20.08.2016 vom Tod seines Vaters wusste, dies in seiner Stellungnahme vom 03.10.2016 (datiert mit 29.09.2016) mit keinem Wort erwähnen würde.
Da er mit dieser Stellungnahme ergänzende Angaben zu seiner Fluchtgeschichte und seinen Familienangehörigen vorbrachte, ist davon auszugehen, dass er die für sein Fluchtvorbringen relevante Tötung seines Vaters durch die Taliban darin jedenfalls erwähnt hätte, sofern sich eine solche wirklich ereignet hätte. In der Stellungnahme wird hingegen durch die Beschreibung seines Vaters als "ca. 60 Jahre alt" der Eindruck erweckt, dieser wäre noch am Leben, auch deshalb, weil bei anderen, (angeblich) verstorbenen Familienmitgliedern dies sehr wohl eigens angemerkt wird (vgl. AS 75).
Schließlich vermochte der Beschwerdeführer zur behaupteten Tötung seines Vaters auch keinerlei weitere Details anzugeben, beispielsweise wo und auf welche Weise dieser getötet worden sei. Er habe vom Tod des Vaters von seinem in Österreich lebenden Bruder erfahren, wisse aber auch nicht, woher sein Bruder davon wisse. Dieser habe ihm nur gesagt, dass sein Vater ermordet worden sei (vgl. AS 137). Für den erkennenden Richter ist nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer bei dieser Gelegenheit nicht nachfragen würde, wie sein Vater gestorben sei, oder woher sein Bruder davon wisse. Auch die mündliche Verhandlung nutzte der Beschwerdeführer nicht, um zu diesem Punkt weitere Details vorzubringen. Zugleich konnte er in der Verhandlung aber sehr wohl angeben, dass er 13 Tage nach dem Tod seines Vaters davon erfahren hätte (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 23). Es erscheint nicht lebensnah, dass ihm sein Bruder zwar ein exaktes Todesdatum, aber sonst keinerlei Einzelheiten zum Tod des Vaters nennen würde.
Insgesamt konnte der Beschwerdeführer eine Tötung seines Vaters durch die Taliban aufgrund der dargelegten diesbezüglichen Widersprüche, Ungereimtheiten und vagen Angaben nicht glaubhaft machen. Vielmehr entstand beim erkennenden Richter der Eindruck, dass es sich dabei um eine nicht den Tatsachen entsprechende Ausschmückung handelt, die die vorgebrachte Bedrohung durch die Taliban ernsthafter und eine Verfolgung des Beschwerdeführers wahrscheinlicher erscheinen lassen soll.
2.2.5. Ebenfalls als eine nicht glaubhafte Steigerung des Fluchtvorbringens muss die unsubstantiiert gebliebene Behauptung des Beschwerdeführers in seiner Stellungnahme vom 03.10.2016 gewertet werden, wonach auch zwei seiner Brüder von den Taliban entführt und umgebracht worden seien (vgl. AS 75).
Diese Begebenheit, oder überhaupt die Existenz zweier weiterer Brüder, erwähnte der Beschwerdeführer ansonsten im gesamten Asylverfahren kein einziges Mal, obwohl dies, hätte es sich so zugetragen, einen engen Bezug zu seiner eigenen Fluchtgeschichte aufweisen würde.
Daraus kann aus beweiswürdigender Sicht nur abgeleitet werden, dass dem Beschwerdeführer selbst klar wurde, dass dieses Vorbringen in keiner Weise glaubhaft ist und eine Reihe weiterer Fragen aufwerfen würde, die er nicht zufriedenstellend beantworten könnte. Das offenbar konstruierte Vorbringen betreffend die Tötung sowohl seines Vaters, als auch zweier Brüder durch die Taliban, beeinträchtigt über diese Punkte hinausgehend auch die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und die Glaubhaftigkeit des sonstigen Fluchtvorbringens massiv. Insbesondere die behauptete Ermordung des Vaters wurde vom Beschwerdeführer auf seine Flucht vor einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban zurückgeführt, sodass der nicht glaubhaft gemachte Mord auch das Vorbringen zur Zwangsrekrutierung in Zweifel zieht.
2.2.6. Wie sich die direkt dem Beschwerdeführer drohende Verfolgungsgefahr in Zusammenhang mit einer geplanten Zwangsrekrutierung durch die Taliban geäußert habe, wurde vom Beschwerdeführer nur äußerst vage geschildert.
So blieb letztlich - auch nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers - offen, ob seine Zwangsrekrutierung bereits unmittelbar bevorgestanden sein soll, oder ob ihn seine Eltern vorsorglich aus Angst vor einer künftigen Rekrutierung weggeschickt hätten.
In seiner Stellungnahme vom 03.10.2016 brachte der Beschwerdeführer eindeutig Letzteres vor (vgl. AS 75). In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde beschrieb er zunächst die angeblich allgemeine Praxis der Taliban, Schüler aus seiner Schule "mitzunehmen" und sagte dann, sein Vater habe ihn deshalb ins Ausland geschickt, weil ihn die Taliban mitnehmen hätten wollen (vgl. AS 135), was beide Deutungen zulässt.
Ein konkretes fluchtauslösendes Ereignis brachte der Beschwerdeführer jedoch zu keinem Zeitpunkt vor. Auch dass er in der mündlichen Verhandlung angab, er habe bei der Ausreise noch gar nicht gewusst, warum er weggeschickt werde, sondern dies erst in Österreich von seinem Bruder erfahren (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 21), spricht nicht dafür, dass es etwa eine der Ausreise unmittelbar vorangehende Androhung der baldigen Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers gab.
In diesem Zusammenhang ist auch auszuführen, dass das Vorbringen, der Beschwerdeführer habe zu diesem Zeitpunkt gar nicht gewusst, warum er ausreisen müsse, nicht plausibel ist.
Es ist kein Grund dafür ersichtlich, weshalb ihm seine Eltern nicht zumindest in Grundzügen erklären würden, warum er seine Familie und seinen Herkunftsstaat, mutmaßlich für immer, verlassen soll.
Es widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass der damals immerhin bereits 15-jährige Beschwerdeführer dies einfach so hingenommen hätte, ohne eine Erklärung zu verlangen. Noch weniger nachvollziehbar ist, dass der Beschwerdeführer nach seiner Ausreise nur noch ein einziges Mal Kontakt zu seinem Vater gehabt haben soll. Dies sei fünf Monate nach seiner Einreise gewesen, als er zufällig gerade bei seinem Bruder war und sein Vater diesen anrief (vgl. AS 141). Dass sich sein Vater, der ihn, dadurch angeblich sogar sein Leben riskierend, weggeschickt und die Schlepperkosten übernommen hat, gar nicht dafür interessieren würde, ob der Beschwerdeführer auch sicher in Österreich angekommen sei, ist nicht glaubhaft.
2.2.7. Zusammenfassend ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verfahren und den eben dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere zur Steigerung des Fluchtvorbringens, zu den diversen Widersprüchen und Ungereimtheiten und zur unsubstantiierten und bloß vagen Darstellung entscheidender Punkte, dass eine Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban nicht glaubhaft gemacht werden konnte und nicht maßgeblich wahrscheinlich ist.
2.2.8. Was die in der Beschwerde beantragten "Erhebungen vor Ort" zum Beweis der Richtigkeit der Angaben des Beschwerdeführers (vgl. AS 391) angeht, so ist anzumerken, dass sich bereits aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens und der beigezogenen Länderberichte aus Sicht des erkennenden Richters ein hinreichend schlüssiges Gesamtbild ergibt, sodass im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu den getroffenen Feststellungen gelangt werden konnte.
Folglich besteht keine Notwendigkeit zu weiteren Beweisaufnahmen, sodass dem diesbezüglichen Antrag nicht nachzukommen war. Darüber hinaus ist ein Beweisantrag, bestimmte Auskunftspersonen im Herkunftsstaat durch eine Vertrauensperson befragen zu lassen, nicht zulässig (VwGH 01.03.2018, Ra 2017/19/0263; 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).
2.2.9. Dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara oder Religionszugehörigkeit als Schiit droht, ergibt sich zum einen daraus, dass er eine asylrelevante Verfolgung in diesem Zusammenhang nicht substantiiert vorgebracht hat. So gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung zwar an, dass er als Hazara beschimpft worden sei, verneinte aber, jemals bedroht worden zu sein (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 22). Auch körperliche Übergriffe brachte er nicht vor. Im Übrigen wird dazu auf die diesbezüglichen Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung verwiesen.
2.2.10. Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Auftritte als "Hip-Hop-Musiker" in Österreich und seiner im Internet veröffentlichen Werke in Afghanistan keine Verfolgung droht, ergibt sich aus den folgenden beweiswürdigenden Erwägungen:
Der Beschwerdeführer brachte in der mündlichen Verhandlung vor, dass er seit ca. zwei Jahren Hip-Hop-Musik produziere, also Texte schreibe und singe. Er veröffentliche seine Werke im Internet, auf Facebook, YouTube und Instagram. Bisher habe er zwei Texte geschrieben, einen auf Deutsch und einen auf Farsi. 2018 habe er sein Facebook-Profil in ein öffentliches Profil umgewandelt, durch das er als Musiker erkennbar sei. Er sei auch Teil einer Musikgruppe mit drei weiteren Personen, die bereits öffentlich aufgetreten sei. Auch davon gebe es Videos im Internet (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 6-7, 23-26).
Diese Angaben sind aufgrund der vom Beschwerdeführer in der Verhandlung vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Screenshots seiner Internetprofile und eines Berichtes über ein Konzert, glaubhaft.
Der erkennende Richter konnte sich durch Einsichtnahme in die öffentlichen Internetprofile und in ein Video, dass den Beschwerdeführer bei einem Auftritt zeigt, selbst davon überzeugen.
Aus beweiswürdigender Sicht ergibt sich, dass das YouTube-Profil des Beschwerdeführers, mit Stand 11.05.2020, 88 Abonnenten aufweist. Keines der vom Profil hochgeladenen Videos zählt mehr als 200 Aufrufe. Das öffentliche Facebook-Profil des Beschwerdeführers hat zum selben Zeitpunkt 66 Abonnenten.
Der Beschwerdeführer legte einen von ihm verfassten Liedtext auf Deutsch vor.
Er selbst gab zu den Inhalten seiner Texte an, es gehe um Menschlichkeit und darum, dass "wir als Menschen zusammenarbeiten und nicht rassistisch sein sollen".
Einen politischen Inhalt hätten seine Lieder nicht (vgl. Niederschrift vom 15.11.2019, S. 24-25).
Ein solcher ist auch im vorgelegten Liedtext nicht erkennbar.
2.2.11. Es haben sich somit keine substantiierten Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan irgendjemandes konkretes Interesse aufgrund seiner Musikertätigkeit auf sich gelenkt haben könnte.
Es ergeben sich vor allem keine Hinweise darauf, dass seine Aktivitäten als Hip-Hop-Musiker in Afghanistan überhaupt bekannt geworden wären.
Daran ver